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Eins zu eins Tosca und die Security

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Im »Aldrovandi«, meinem Hotel im Nobelviertel der Villa Borghese, ist alles wie immer: Der Doorman trägt Gehrock und Zylinder, und auch der Chauffeur, der den Shuttle-Service zum Stadtzentrum abwickelt, würde sich nie mit einer jener albernen Zipfelhauben verunstalten, wie sie in den skandinavischen Ländern in Mode gekommen sind. Das vorweihnachtliche Rom kommt ohne penetrante Stimmungsmache aus. In Siena, damals vor zwölf Jahren, hatten sie mir noch ein Bäumchen ins Zimmer gestellt. Heute, im Zeichen des auch in Italien streng gehandhabten Tabakverbots, sind die Rauchmelder so hochentwickelt, dass sie schon beim Anzünden der kleinsten Kerze Alarm schlügen. »Natale« wird in der Ewigen Stadt betont cool gefeiert. Unter den Hotelbediensteten sind kaum noch Italiener: Der Oberkellner ist Rumäne, das Zimmermädchen kommt aus Bangladesch, der Gärtner aus Peru.

Auch der Anblick der bewaffneten Sicherheitskräfte, die vor sämtlichen öffentlichen Einrichtungen und insbesondere vor den diplomatischen Vertretungen postiert sind, lässt kaum Gemütlichkeit aufkommen: Carabinieri und Militär teilen sich den 24-Stunden-Job.

Dezember 2016, auch die Frontseiten der italienischen Zeitungen sind mit Berichten über das Attentat auf den russischen Botschafter in der Türkei und den Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt zugepflastert. Dass ich mir mit dem Phänomen Gewalt leichter tue als das Gros der ausschließlich auf Standard-Sightseeing programmierten Touristen, hängt mit meinem Reiseziel zusammen: Ich bin in Rom, um an diesen vier Tagen die Originalschauplätze der Puccini-Oper Tosca zu erkunden, und da sind in Textbuch wie in Partitur Mord und Totschlag das beherrschende Thema. In der in Echtzeit 18 und auf der Bühne gar auf zweieinhalb Stunden komprimierten Spielhandlung geht es derart martialisch zu, dass am Ende keiner der vier Protagonisten mehr am Leben ist: Der als Republikanerführer von seinen politischen Gegnern verfolgte Cesare Angelotti verübt im Augenblick seiner Verhaftung Selbstmord; sein Freund und Helfer, der Maler Mario Cavaradossi, wird gefoltert und hingerichtet; Polizeichef Vitello Scarpia, der »Tyrann von Rom«, stirbt an den Dolchstichen, die ihm die von ihm begehrte Sängerin Floria Tosca in höchster Not zufügt; und diese selbst stürzt sich am Gipfel ihrer Verzweiflung in die Fluten des Tiber. Ein Thriller fürwahr, Opern-Verismo pur.

Was Giacomo Puccinis Tosca von anderen Bühnenwerken unterscheidet: Es ist unter denen, die ich kenne, das einzige, dessen Schauplätze – Kirche, Adelspalast und Kerker – nahezu 1:1 der Wirklichkeit nachgebildet und bis zum heutigen Tag, also über zwei Jahrhunderte nach den fiktiven Ereignissen, vollständig erhalten geblieben sind. Für den Rom-Besucher, der der Nummer 10 in der Rangliste der meistgespielten Opern an Ort und Stelle nachspürt, bedeutet dies eine Kette von Wonnen der Wiedererkennung – es sei denn, er stieße sich daran, dass »alles« so offen und klar zutage liegt, seiner Fantasie zu wenig Spielraum bleibt für Unvorhergesehenes, für Geheimnis und Spekulation.

Exakt dem Ablauf der von dem französischen Dramatiker Victorien Sardou um 1885 ersonnenen, von den italienischen Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica zum Operntext adaptierten und von Giacomo Puccini anno 1898 vertonten Bühnenhandlung folgend, beginne ich meinen Rundgang am Schauplatz des 1. Aktes: in der Kirche Sant’Andrea della Valle. Wir befinden uns mitten in der Altstadt von Rom; was anderwärts Fußgängerzone wäre, ist hier ein einziges Verkehrschaos, das durch die kurzgeschalteten Ampeln des Corso Vittorio Emanuele kaum zu entwirren ist. Die prachtvolle Architektur der Basilika, zu der auch Michelangelo sein Teil beigesteuert hat, ist ein hervorragendes Beispiel für den Übergang von der Spätrenaissance zum Hochbarock: Über 70 Jahre wurde daran gebaut. Die Höhe der Kuppel, die den einschiffigen Bau krönt, wird nur von der des Petersdoms übertroffen. Sebastian-Verehrer halten die alte Legende am Leben, an dieser Stelle seien die sterblichen Überreste des ersten Märtyrers von Rom gefunden und geborgen worden.

Bei Sonnenschein ist das Kircheninnere von mattem, honigfarbenem Licht erfüllt, für die von 7.30 bis 19.45 Uhr eingeschaltete Tonbandbeschallung hat man sanften Barockgesang ausgewählt. Der Kerzenstand ist von händischem Anzünden auf elektronischen Knopfdruck umgestellt, die in fünf verschiedenen Sprachen erhältlichen Andachtsbildchen kommen aus dem Automaten. Statt Informationsmaterial über die Baugeschichte von Sant’Andrea della Valle bietet die beim Eingang postierte Andenkenhändlerin ausschließlich religiöse Erbauungsliteratur an; an das ehemals in reicher Auswahl erhältliche Ansichtskartensortiment erinnert nur noch ein an die Wand geheftetes Werbeplakat, das ich selbst gegen ein kräftig erhöhtes Spendengeld wohl kaum abnehmen dürfte. Das Fehlen jeglichen Hinweises auf Tosca, deren 1. Akt an diesem heiligen Ort spielt, lässt auf bewusst strenge Trennung von Liturgie und Literatur schließen: Mit solch weltlichem Teufelszeug will man hier nichts zu tun haben. Dazu ist das Theater da, nicht ein Kirchenraum. Ich bleibe also mir selbst überlassen und meiner Fantasie, mir jenen Platz bei der Kanzel vorzustellen, wo Cavaradossi seine Staffelei aufgestellt hat und sein Madonnenbild malt, oder nach jener Seitenkapelle Ausschau zu halten, die dem Gefängnisausbrecher Angelotti als Proviantversteck und Fluchtweg gedient haben könnte. Nur der geschäftige Mesner (dessen Rolle sich für mich auf ewig mit der Erinnerung an den unvergleichlichen Carl Dönch der alten Wiener Tosca-Inszenierung verbindet) könnte konkrete Gestalt annehmen, würde ich für meinen Besuch von Sant’Andrea della Valle nicht einen x-beliebigen Zeitpunkt wählen, sondern einer der täglichen 9- beziehungsweise 19-Uhr-Messen beiwohnen.

Tosca, 1. Akt: die Kirche Sant’Andrea della Valle

Zu der Vormittagsstunde, da ich mich in Sant’Andrea della Valle aufhalte, ist es still in dem heimeligen Gotteshaus. In den Sitzreihen, wo ich Cavaradossis Begegnung mit seiner Geliebten, der Sängerin Floria Tosca, zu imaginieren versuche, erblicke ich nur eine Handvoll Betende; der junge Mann im Arbeitskittel, der sich vor dem Hochaltar zu schaffen macht, ist ein Fliesenleger, der mit ruhiger Hand ein paar der brüchigen alten Platten gegen neue austauscht. Und doch – das Thema Gewalt, das Puccinis Meisterwerk durch alle drei Akte beherrscht, bleibt auch an diesem heiligen Ort nicht gänzlich ausgespart: Mein Blick fällt auf eine Anschlagtafel, die den Besucher nicht nur zu gottgefälligem Verhalten im Kirchenraum, sondern auch zu tatkräftigem Einschreiten ermahnt, sollte er Zeuge eines Vorfalls werden, der nach Polizeieinsatz verlangt. Das Merkblatt ist schon ein wenig zerknittert und vergilbt: Hoffentlich ist die in großen Lettern angeführte Telefonnummer der nächstgelegenen Carabinieri-Station auf dem jüngsten Stand.

Auf dem jüngsten Stand sind die Sicherheitsvorkehrungen jedenfalls an der nächsten Station meines Tosca-Rundgangs, dem Palazzo Farnese (in dem der 2. Akt der Oper spielt). Vom berühmten Campo dei Fiori her, wo inzwischen die traditionellen Stände der Blumenhändler von der Billig-Konkurrenz der Textil- und Lederbranche bedrängt werden, nähere ich mich dem majestätischen Monumentalbau aus dem 16. Jahrhundert, der heute zur Gänze in französischer Hand ist und neben der Botschaft des großen EU-Partners auch dessen Archäologisches Institut und die Französische Schule beherbergt.

Hier zwecks Besichtigung Einlass zu finden, setzt ein kompliziertes Verfahren voraus: Noch von Wien aus und Wochen vor meiner Anreise bringe ich übers Internet meinen Antrag ein, zu einer der regelmäßig stattfindenden Führungen zugelassen zu werden. Während für die Einreise nach Italien der Personalausweis ausreicht, wird mir für den Zutritt zum Palazzo Farnese der Reisepass abverlangt; die per E-Mail übermittelte »confirmation d’inscription« hat mich zuvor schon mit der gebotenen Strenge und dreisprachig (französisch, italienisch und englisch) darüber aufgeklärt, dass ich mich spätestens 15 Minuten vor Beginn der Führung am Ort des Geschehens einzufinden, keine Kinder unter zehn Jahren mitzubringen, Kamera und Video im Hotel zu lassen sowie mein Reisegepäck auf eine Handtasche von »petit format« zu beschränken habe. Damit es zu keinerlei Störung des Botschaftsbetriebes kommt, ist für den Einlass 17 Uhr vorgesehen – in den drei Etagen des Palazzo Farnese gehen die ersten Lichter aus.

Ich bin vor der Zeit zur Stelle, überbrücke die Wartezeit mit einem Martini im »Caffè Farnese«, dessen Fenster den Blick freigeben auf die dem Palast vorgelagerte Piazza gleichen Namens. Schon von hier aus kann ich mir ein Bild von den Sicherheitsvorkehrungen machen, die das Botschaftsgebäude vor Übergriffen schützen: Die Absperrung reicht über die gesamte Frontseite, dahinter ein schwer bewaffneter Bereitschaftswagen der Polizei, ein dichter Cordon aus Carabinieri und Militär, dazu Security-Männer in Zivil. Bevor ich im Caffè meine Zeche begleiche, stöbere ich rasch noch ein bisschen in der Bibliothek, die im Hinterzimmer des Lokals eine komplette Regalwand einnimmt. Es ist wohl die Hinterlassenschaft eines früheren Besitzers: Boccaccio, Daphne du Maurier, Papst Johannes XXIII.

Unterdessen hat sich vor dem Palazzo Farnese unsere Besuchergruppe zusammengefunden, 25 Personen sind zugelassen, sie kommen aus den verschiedenen EU-Staaten, auch aus Japan, Kanada und den USA. Unsere Führerin mit dem schönen Namen Lavinia geleitet uns nach der Überprüfung unserer Papiere zu einer Art Leibesvisitation light – alles mit römischer Gelassenheit, Scherzworte da und dort, eine einheimische Passantin nützt die Gelegenheit, einem der Security-Leute einen Weihnachts-Panettone zuzustecken. Ein zweiter, von der Identifizierung meines Herkunftsstaates sichtlich angetan, bricht in einen Hymnus auf Grinzing aus – ich kläre ihn darüber auf, dass sich der Heurigenbetrieb seit den Tagen seines Wien-Aufenthalts stark verändert hat.

Lavinia zieht ihr 45-minütiges Programm straff durch, beschränkt sich bei ihren Erklärungen aufs Kunstgeschichtliche und Dynastische, erst auf mein Drängen lässt sie sich auch auf ein kurzes Extempore zum Thema Tosca ein. Ja, die riesige, über zwei Stockwerke reichende, 18 Meter hohe Haupthalle mit der 3 Meter starken Eichenholzdecke sei – Puccinis Oper zufolge – als das »Vorzimmer« zu den Gemächern des teuflischen Polizeichefs Scarpia anzusehen, in denen heute Seine Exzellenz der französische Botschafter residiere. Sie lässt dabei einen Anflug von Herablassung erkennen: »Na ja, Theater!« Aber immerhin, so viel Respekt muss sein: »Großes Theater

Die Kunstschätze des Palazzo Farnese, an dessen Architektur Michelangelo drei Jahre mitgewirkt hat, sind überwältigend, und überwältigend ist der Bau, den Kardinal Alessandro Farnese 1517 in Auftrag gegeben und aufgrund seiner Ernennung zum Papst (Paul III.) noch um etliches vergrößert hat. Die sechs Lilien im Portalwappen signalisieren die Grandezza der Familie Farnese, Schlüssel und Tiara stehen für die Macht des Vatikans.

Auch die Geschichte der Übereignung des gewaltigen Bauwerks an Frankreich darf nicht zu kurz kommen: Elisabetta, eine der Farnese aus späterer Zeit, heiratet 1714 den Bourbonenkönig Philipp V., der in Personalunion König von Neapel ist. So kommt der Palast in den Besitz des Hauses Bourbon, das auch über Frankreich herrscht. Mit der Installierung der französischen Botschaft in der Mehrzahl der Räumlichkeiten lässt man sich allerdings bis 1874, mit der Inbesitznahme der Liegenschaft durch die République française gar bis 1911 Zeit. Die auf 25 Jahre bemessene Rückkaufklausel, die sich der italienische Staat vorbehält, wird zum Ablaufdatum 1936 von Mussolini genutzt, sodass der Palazzo Farnese seither wieder italienisches Eigentum, jedoch für die nachfolgenden 99 Jahre an Frankreich vermietet ist – zu dem symbolischen Betrag von 1 Lira (aus der inzwischen 1 Euro geworden ist. Ja, alles wird teurer …).

2. Akt: der Palazzo Farnese, seit 1874 Sitz der französischen Botschaft

Ich frage Lavinia nach dem weiteren Schicksal der ruhmreichen Gründerfamilie. Nein, sagt sie, die bis ins 13. Jahrhundert nachweisbaren Farnese seien ausgestorben, schon 1731 ihr Mannesstamm erloschen – kein Wunder bei so viel Geistlichkeit in ihren Reihen. Schlimm genug, dass Alessandro, »ihr« Papst, einen Sohn gezeugt habe: Es ist der 1503 geborene und 1547 ermordete Pier Luigi.

Während die anderen aus unserer Besuchergruppe sich nach Details der im Palazzo versammelten Kunstwerke und insbesondere nach den Beiträgen Michelangelos, Sangallos und all der anderen großen Meister erkundigen, geht mir, dem Opern-Freak, unablässig der Name Scarpia durch den Kopf. Der Palazzo Farnese ist es ja, wo der geile Wüterich amtiert, seine Intrigen spinnt, seine Opfer foltert, seine Hinrichtungen anordnet und vor allem die Sängerin Floria Tosca sexuell bedrängt. Da ist mit den Bearbeitern des Stoffes wohl die Fantasie durchgegangen: Unvorstellbar, dass einem noch so mächtigen Polizeichef ein Ort von dieser Größe und Erhabenheit für sein Wirken zur Verfügung stehen könnte. Da hat die für jede Art von Prunk und Exzess anfällige Theatergattung Oper wieder einmal ordentlich über die Stränge geschlagen. Wie sollte Tosca in einem solchen Koloss von Halle in ihr Vissi d’arte (Nur der Schönheit weiht’ ich mein Leben) oder Unmensch Scarpia in sein Ella verà (Sie wird kommen) ausbrechen?

Fremdenführerin Lavinia beteiligt sich an solchen Spekulationen sowieso nicht, ebenso kompetent wie zügig leitet sie von einer der Skulpturen zur anderen, von einer der Freskenwände zur nächsten über, lässt mich mit meinen Fantasien allein. Eine Frage, die ich von mir aus unterdrücke, ist die nach Renata Tebaldi. Die überragende Primadonna der 1960er-Jahre ist unter »meinen« vielen Toscas eine der eindrucksvollsten gewesen; die Schallplatte mit ihr, Mario del Monaco und George London sollte ich wieder einmal auflegen. Ist ihr, der 2004 in San Marino Verstorbenen, in Gestalt der Uferstraße Lungotevere dei Tebaldi, auf die ich aus einem der rückwärtigen Fenster des Palazzo Farnese blicken kann, ein Denkmal errichtet worden? Die Stadtchronik von Rom schafft Klarheit: Die Tebaldi sind ein altes italienisches Patriziergeschlecht, haben mit der »Engelsstimme« aus dem vorigen Jahrhundert nichts zu tun. Keine Mühe habe ich dagegen mit der Siegeskantate, die Puccini zu Beginn des 2. Aktes aus dem unteren Stockwerk des Palastes dringen lässt: In keinem der zahllosen Konzertsäle von Rom kann ich mir die Huldigungsmusik für die Königin von Neapel authentischer vorstellen als hier.

Dritter Tag, Engelsburg. Der trutzige Rundbau am jenseitigen Ufer des Tiber, ursprünglich von Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert nach Christus als Mausoleum für sich und seine Familie errichtet, sieben Jahrhunderte später zur Festung und zur Zufluchtsstätte verfolgter Päpste ausgebaut und schließlich als Staatsgefängnis genutzt, ist unter den drei Tosca-Schauplätzen von Rom derjenige, der den meisten Zulauf hat: Kein Tourist würde darauf verzichten, den Schauder der stockfinsteren Kerkergänge, Waffenkammern und Verliese auf sich wirken zu lassen, von der Plattform des obersten Geschoßes den Blick auf die Millionen-Metropole zu genießen und dem Geläut von St. Peter zu lauschen.

Hinter diesen Mauern sind sowohl weltliche wie Kirchenfürsten eingesessen, der Physiker Galileo Galilei ebenso wie der Philosoph Giordano Bruno, während Papst Sixtus V. in einem der Keller die Goldreserven des Vatikans einlagern ließ. Als 1798 Napoleons Truppen das Castel Sant’Angelo einnahmen, war es eine ihrer ersten Maßnahmen, die in Stein gemeißelten päpstlichen Wappen am Eingang des Kolosses bis zur Unkenntlichkeit zu zertrümmern.

Puccini und seine Textautoren hätten keine theatralischere »location« für den Schlussakt ihrer Oper finden können als das riesige Flachdach der Engelsburg: Von hier aus, hoch über Rom, stürzt sich die ihres Geliebten beraubte und auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit Polizeichef Scarpia zu dessen Mörderin werdende Sängerin Floria Tosca in die Fluten des Tiber. Dass dies schon zu Zeiten des Originalautors Victorien Sardou als unrealistisch zurückgewiesen wurde, weil Kastell und Fluss durch einen 20 Meter breiten Landstreifen voneinander getrennt sind, Tosca also statt im Wasser auf dem Erdboden landen würde, konnte weder die Librettisten noch den Komponisten der Oper zu einer Korrektur bewegen. Heute, wo an dieser Stelle der Lungotevere Vaticano in den Lungotevere Castello übergeht, wäre die Sache sogar noch heikler: Der Körper der Selbstmörderin würde von einem der Tausenden Autos zerschmettert werden, die hier tagaus tagein vorbeirollen.

3. Akt: die Engelsburg – Mausoleum, Kerker, Museum

Bevor ich den Rückweg ins Stadtinnere antrete, nehme ich die Gelegenheit wahr, die in einem der Burgtrakte arrangierte Manzù-Ausstellung zu besuchen: In den überlebensgroßen bronzenen Kardinalsfiguren des überragenden italienischen Bildhauers ist sehr viel von der Würde des Hochklerus eingefangen, aber auch von Anspruch, Härte und Macht. Die Güte, Weisheit und Leggerezza des amtierenden Papstes könnte ich in keiner dieser ebenso düsteren wie starren Gestalten erkennen, aus deren panzergleichem Ornat gerade nur ein Zipfelchen Leben hervorlugt: die knappe Hälfte einer Hand. Ist es eine liebevoll ausgestreckte oder eine gebieterisch zurückweisende, eine segnende oder eine verdammende Hand? Von den Kirchenfürsten seines (des 20.) Jahrhunderts hat der bis zu seinem Tod im Jahr 1991 überzeugte Kommunist Manzù nur Papst Johannes XXIII. gelten lassen (dem er denn auch die Totenmaske abnahm). Zusatz für die österreichischen Leser: Giacomo Manzù, dessen junge Frau Inge Primaballerina am Salzburger Landestheater gewesen ist, hat sich mit der Neugestaltung des Salzburger Domportals einen festen Platz in der österreichischen Kunstgeschichte gesichert.

Es bleibt dabei: Ich konzentriere mich bei meiner diesmaligen Rom-Visite ganz auf Puccini, bin zum Beispiel hinter keinerlei Österreich-Funden her. Aber das kann nicht heißen, dass ich nicht dennoch da oder dort einen Stopp einlege, so etwa bei dem Metastasio-Denkmal auf der Piazza della Chiesa Nuova: Der gebürtige Römer, der »Arkadier« unter den Rokoko-Lyrikern und ab 1720 im Range eines Wiener Hofdichters, hat nicht nur Hasse und Gluck, sondern auch den Mozarts gedient. Seine letzte Ruhe fand der vielseitig Begabte in der Gruft der Wiener Michaelerkirche, nur wenige Schritte von seinem Wohnhaus am Kohlmarkt entfernt.

Jetzt bin ich auf dem Weg zur römischen Oper; im damaligen Teatro Costanzi ist am 14. Jänner 1900, exakt 100 Jahre nach dem Datum der Spielhandlung, Tosca uraufgeführt worden. Wie es zu diesem von Sex and Crime geprägten Werk passt, geht es auch bei dessen Premiere hochdramatisch zu: Eine kurz vor Vorstellungsbeginn verlautbarte Bombendrohung verunsichert Künstler wie Publikum (unter dem sich nicht nur die Puccini-Kollegen Pietro Mascagni und Francesco Cilea befinden, sondern auch Richard Wagners komponierender Sohn Siegfried). Dirigent Mugnone hat von der Polizei den Rat erhalten, statt – im Falle des Falles – die Vorstellung abzubrechen, zur »Überbrückung« den Königswalzer spielen zu lassen. Die anhaltende Unruhe zwingt den Maestro (der einige Jahre zuvor schon in der Oper von Barcelona ein Attentat mit mehreren Toten hat miterleben müssen) vor der Cavaradossi-Arie Recondita armonia den Vorhang fallen zu lassen – übrigens nicht des befürchteten Terroraktes wegen, sondern weil ein Teil des Premierenpublikums mit Verspätung eintrifft und bei der Einnahme seiner Plätze ärgerlichen Lärm entfacht.

Um das heutige Opernhaus auf der Piazza Beniamino Gigli zu finden, brauche ich nur der über Lautsprecher auf den Vorplatz übertragenen Tonbandmusik zu folgen. Es ist, wie es ein schöner Zufall will, das berühmte Vissi d’arte aus Tosca, mit dem die Direktion des Hauses für die bevorstehende Neuinszenierung des Kassenschlagers wirbt. Die Stimme der Sängerin kann ich keinem der mir bekannten Namen zuordnen: Rom ist nicht Mailand, hier singt die zweite Garnitur. Eine Besonderheit gibt es dennoch: Die Tosca von 2017, so höre ich, wird in einem Bühnenbild abrollen, das den Dekorationen der Uraufführung von 1900 nachempfunden ist.

Zum Welterfolg des Werkes hat übrigens nicht unwesentlich beigetragen, dass in dessen frühen Jahren eine der berühmtesten Künstlerinnen der Zeit die Tosca verkörpert hat: die Französin Sarah Bernhardt. Bekannt für ihr leidenschaftliches Spiel, verunglückte die damals schon 60-Jährige bei einer Aufführung in Rio de Janeiro so schwer, dass sie sich beim Sprung von der Engelsburg ein Bein brach (und trotz darauffolgender Amputation nicht bereit war, die Rolle an eine ihrer Konkurrentinnen abzugeben).

Zuletzt noch ein Sprung ins Jahr 1992. Tosca, Cavaradossi und Scarpia halten Einzug im neuen Medium Fernsehen. Eine italienische Produktionsfirma, in punkto Übertragungstechnik vom langjährigen Aufnahmeleiter der Wiener Neujahrskonzerte, Brian Large, geschult, wagt das Experiment, Puccinis Oper nicht nur an den Originalschauplätzen, sondern auch zu den originalen Uhrzeiten (also mittags, spätabends und am darauffolgenden Morgen) aufzunehmen. Fünf Satelliten übertragen das Spektakel in 107 Länder rund um den Erdball. Während die Sänger (Catherine Malfitano, Plácido Domingo und Ruggero Raimondi) vor Ort agieren, also in der echten Basilika Sant’Andrea della Valle, im echten Palazzo Farnese und auf der echten Engelsburg, kommt die Orchestermusik, dirigiert von Maestro Zubin Mehta, aus den Studios der staatlichen Rundfunkgesellschaft RAI. Per Monitor und Mini-Lautsprecher im Ohr sind die einen mit den anderen verbunden. Der Erfolg des riskanten Versuchs ist enorm: Puccinis Meisterwerk ist endgültig beim »Volk« angekommen. Da ist es kein Wunder, dass in der Folge auch die römische Geschäftswelt »nachzieht« und den Marktwert der geliebten Opernfigur zu nutzen versucht. In den Filialen der Modekette »Tosca« können die Römerinnen ihre Dessous kaufen, die Agentur »Tosca Rentals« hat 5-Sterne-Appartements in der Nähe des Colosseums im Angebot, und Touristen, die sich die Ewige Stadt radelnd erobern wollen, sind bei dem Start-up »Bicicletta Tosca« an der richtigen Adresse. Dort drückt man ihnen – so wie jedem Ankömmling – die 20-seitige Security-Broschüre von »Turismo Roma« in die Hand, die dem Benützer unter anderem dringend rät, niemals den Reisepass mit sich zu führen, sondern nur dessen Kopie. »Wie sich die Bilder gleichen« singt Cavaradossi in der dritten Szene des 1. Akts …

Schön ist die Welt

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