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privatissime I Mutters Traum Erinnerungen zwischen Leobschütz, Zweibrücken und Wien
ОглавлениеImmer seltener hört man, wenn in der warmen Jahreszeit die Fenster zur Straße hin geöffnet oder angelehnt sind, Hausmusik nach außen dringen. Ich bleibe dann gern für ein paar Augenblicke stehen, versuche die Quelle zu orten, richte Blick und Gehör auf die betreffende Wohnung und vergewissere mich, dass es nicht doch »nur« Radio, Fernseher oder CD-Player sind, die da ihr Programm abspulen. Erst an den freiwilligen oder unfreiwilligen Wiederholungen, den Unterbrechungen und den fallweise falschen Tönen erkenne ich, dass da tatsächlich eine oder einer am Klavier sitzt und übt.
Worauf mein Ohr vor allem aus ist, ist das Geklimper der Halbwüchsigen, die – sei es aus eigenem Antrieb, sei es auf Geheiß ihrer Eltern – vom Klavierunterricht heimgekehrt sind und nun das Erlernte »nachspielen« oder sich auch an Neuem versuchen, bis sie nach Ablauf einiger Monate oder auch Jahre so weit sind, ihren Mozart, Händel oder Bach fehlerfrei zu exekutieren – zur eigenen Freude, zur Freude ihrer Nachbarn und insbesondere zur Freude solcher Leute wie mich, die sich dadurch an jene fernen Zeiten erinnert fühlen, da es in Familien wie der meinigen zum guten Ton gehörte, ein Instrument zu erlernen.
Hans Rudolf, der älteste von uns drei Brüdern, hatte sich für die Geige, Helmut, der Mittlere, für die Blockflöte entschieden, ich, der mit Abstand Jüngste, dem Beispiel meiner recht musikalischen Mutter folgend, fürs Klavier. Während unser amusischer Vater sich damit begnügte, am Heiligen Abend mit seiner krächzenden Stimme das Stille Nacht anzustimmen, um ansonsten, wenn in seiner Umgebung musiziert wurde, verschreckt das Weite zu suchen, verfolgte Mutter ein klares Ziel: Ihr schwebte vor, ihre drei Söhne zu einem Trio zusammenzuschweißen, das – unter ihrer Führung – ein passables Niveau erlangen und vor den Verwandten und Bekannten mit Hauskonzerten würde brillieren können.
Leider ging ihr Plan nicht auf: Über ein paar gemeinsam einstudierte Liedchen kamen wir nicht hinaus: Hans Rudolf, der Erste unter den Kapitulanten, tauschte seine Geige gegen einen Modellbaukasten für Papierflugzeuge aus, während Helmut (der nach dem Abitur folgerichtig Gartenarchitektur studierte) seine Flöte an einen Mitschüler verscherbelte, um von dem Erlös Blumensamen zu kaufen und im elterlichen Garten sein erstes eigenes Beet anzulegen. Mutters letzte Hoffnung war ich. Wenigstens ihr Jüngster sollte sie, die es selber zu fehlerfreiem Spiel so virtuoser Stücke wie Sindings Frühlingsrauschen gebracht hatte, nicht enttäuschen, damit wir zwei eines Tages ein herzeigbares Paar im vierhändigen Klavierspiel abgeben würden.
Dass es auch dazu nicht kam, lag weniger an mir als an meiner Lehrerin. Der Grund allen Übels war, dass unsere Familie zu jener Zeit in einer Kleinstadt lebte (Leobschütz im damaligen Oberschlesien), wo jeder jeden kannte, was die allgemeine Bewegungsfreiheit empfindlich einschränkte. Der Schulranzen musste bei dem Lederwarenhändler gekauft werden, mit dem Mutter um drei Ecken verwandt war, fürs tägliche Brot kam nur der Bäcker in Betracht, mit dessen Sohn ich die Schulbank teilte, und den Friseur zu wechseln, der schon unserem Großvater das Haar geschnitten und den Bart rasiert hatte, wäre einer Kränkung gleichgekommen, die keiner von uns riskieren mochte.
Zu allem Unglück waren meine Eltern mit einer Familie befreundet, deren einzige Tochter Klavierstunden gab. Die Zängers wohnten am Stadtrand, mindestens einmal im Monat waren wir bei ihnen in der sogenannten »Siedlung« zu Besuch. Ihr Häuschen war von einem obstreichen Garten umgeben, von dessen Erträgen auch wir profitierten, und was wir nicht an Ort und Stelle verzehrten, bekamen wir als Gastgeschenk mit. Tochter Ruth, Anfang 40 und keine Schönheit, auch leicht behindert (worüber jedoch kein Wort gesprochen werden durfte), saß bei unserer Kaffeetafel immer ein wenig abseits, beteiligte sich kaum an der Unterhaltung. Man begegnete ihr auch nie in der Stadt, sie war wohl immerzu daheim, galt als schrullige alte Jungfer, von der sich niemand vorstellen konnte, dass sich ein Mann für sie interessieren würde. Was ihrem Leben dennoch einen Schimmer Glanz verlieh, war das Klavierspiel. Schon, wenn man sich dem Zänger-Haus näherte und vor dem Vorgärtchen eintraf, hörte man aus dem Hausinneren die Akkorde perlen, und wenn man Fräulein Zänger nach Aufhebung der Kaffeetafel gut zuredete, zeigte sie sich auch gern bereit, ein paar Kostproben ihres Repertoires zum Besten zu geben. Ich erinnere mich gut: Ruth Zänger war eine Meisterin ihres Fachs, sie spielte hervorragend, und unter unserem Beifall blühte sie förmlich auf. Besonders begeistert war ich, waren doch meine Mutter und ich gerade erst übereingekommen, nach einem Klavierlehrer für mich Ausschau zu halten. Was lag da für die stolze Mutter unserer Künstlerin näher, als ihre Tochter ins Gespräch zu bringen? Jeder Gedanke, einen anderen Klavierlehrer als sie in Erwägung zu ziehen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen: Nie würden es uns die lieben Zängers verzeihen, wenn wir zur Konkurrenz gingen!
Noch in der folgenden Woche begann der Unterricht. Jeweils montags und donnerstags machte ich mich gegen 16 Uhr auf den Weg in die Siedlung – stets die von meinem Vater ausrangierte Aktentasche unterm Arm, in der sich die von Fräulein Zänger ausgewählten Noten befanden sowie ein Briefumschlag mit dem vereinbarten Stundengeld. Manchmal gab mir Mutter auch ein kleines Geschenk für meine Lehrerin mit: Sie liebte Katzenzungen und Eierlikörpralinen, überhaupt alles Süße, und ich wunderte mich nur, dass nichts davon bei ihr »anschlug«: Sie war zaundürr, und obwohl sie stets hochgeschlossene Kleider trug, war unschwer zu erkennen, dass sie nicht einmal ansatzweise jene »formschöne Büste« besaß, zu deren Entfaltung im Anzeigenteil der von meiner Mutter abonnierten Illustrierten Hausschatz allerlei Wundermittel angepriesen wurden.
Auch Fräulein Ruths Finger waren dürr und knöchern, was ich sehr bald zu spüren bekam, so oft ich einen falschen Ton anschlug, und damit bin ich auch schon beim Thema: Meine Klavierlehrerin war ungeduldig, verlor in einem fort die Nerven, haderte mit meinem musikalischen Ungenügen und schlug bei jedem Patzer zornentbrannt zu (was sich noch steigerte, wenn ich ihren Hieben auszuweichen versuchte). Sollte ich auch nur über das kleinste bisschen Musikalität verfügen, trieb es mir Fräulein Zänger durch ihre harsche Unterrichtsmethode systematisch aus – mit der Folge, dass ich noch im Verlauf des ersten Monats resignierte und verzagt aufgab. Von meinem Unvermögen überzeugt und von meiner Lehrerin entmutigt, widersetzte ich mich auch den flehentlichen Bitten meiner Mutter, es vielleicht doch mit einem anderen, sanfteren und verständnisvolleren Lehrer zu versuchen, und sattelte ersatzweise auf andere Hobbys um: aufs Briefmarkensammeln und aufs Tischtennisspiel.
Muss ihre Pläne vom »Grieser-Quartett« begraben: die Mutter des Autors
Beides verschaffte mir in der Tat die bis dahin so schmerzlich entbehrten Erfolgserlebnisse, und je stärker meine Briefmarkensammlung wuchs und je öfter ich meine beiden Brüder beim Pingpong bezwang, desto entschlossener wich ich fortan beim Betreten des Wohnzimmers dem Klavier aus. Der musikalische Teil meiner Sozialisation (ich vermeide die noch schrecklichere Vokabel Musikalisation) hatte ein jähes Ende gefunden, und dabei sollte es bleiben. Erst als mich Jahre später meine Mutter, eine eifrige Konzertbesucherin, zu der einen oder anderen Veranstaltung im Leobschützer Stadtsaal mitnahm, löste sich meine Pianophobie nach und nach auf, und ich wuchs, nun also vom aktiven ins passive Fach wechselnd, zu einem aufmerksamen, ja verständigen Zuhörer heran. Zu meinem eigenen Erstaunen erkannte ich, dass ich entgegen Fräulein Zängers fester Überzeugung keineswegs unbegabt war, sondern meine Musikalität sich auch ohne eigene Beherrschung eines Instruments zur Entfaltung bringen ließ.
Um diesen Prozess in Gang zu halten, musste allerdings erst einmal der Krieg zu Ende gehen, nach der Vertreibung aus dem Osten und der Flucht in den Westen wieder Normalität in unser Leben einkehren. Diese Normalität hatte einen Namen, und der lautete: Zweibrücken. Die Kleinstadt an der Grenze zwischen Saarland und Pfalz, die nun nach 1945 unsere neue Heimat wurde, hatte in etwa die gleichen Dimensionen wie Mutters inzwischen polnisch gewordener Geburtsort Leobschütz, und auch in punkto Musikleben waren die beiden Orte einander ähnlich. In der nach dem Bombenkrieg wiederaufgebauten Zweibrücker Pfarrkirche Zum heiligen Kreuz wurde das gleiche Meerstern, ich dich grüße gesungen wie in der Leobschützer Pfarrkirche Maria Geburt, und der Musikunterricht an den beiden Gymnasien blieb da wie dort aufs gemeinsame Singen beschränkt, wobei Professor Eicher, unser Zweibrücker Lehrer, zwar besonders liebenswürdig, aber auch besonders träge war und jede sich bietende Gelegenheit nützte, seine Stunde ausfallen zu lassen.
Wie es unter Halbwüchsigen Usus ist, jubelten wir dummen Buben über jegliche Verkürzung des Unterrichts, protestierten also auch nicht gegen Professors Eichers lasches Berufsethos, obwohl es mir, selber bis in den letzten Knochen unsportlich, lieber gewesen wäre, es fiele der mir verhasste Turnunterricht aus.
Ich wüsste heute nicht mehr zu sagen, wann und dank welcher Umstände ich nun mehr und mehr den Drang verspürte, meinen musischen Defiziten jener Jahre ein Ende zu setzen und am Kulturleben unserer Stadt teilzuhaben. Vielleicht war es nur ein Ausfluss der mir eigenen allgemeinen Bildungsbeflissenheit, vielleicht auch – passionierter Zeitungsleser, der ich schon in jungen Jahren war – die Lektüre der in unserem Blättchen erscheinenden Konzertkritiken oder die Initiative eines meiner Mitschüler: Ich begann jedenfalls, mich für den Zweibrücker Kulturbetrieb zu interessieren.
Allzu viel gab es ja nicht: Bis zum Bau der neuen Festhalle in der Rosengartenstraße mussten sich die Zweibrücker Konzertbesucher mit Provisorien wie der ehemaligen Alleeschule und der Turnhalle des Mädchengymnasiums begnügen. Nicht in Betracht kamen für mich die Festsäle der großen Gastwirtschaften, in denen Kapellmeister Toni Brückner, Vater meines engsten Freundes Hans Gert, zum Tanz aufspielte: Obwohl ich gerade – und durchaus mit Erfolg – den Abschlussball der örtlichen Tanzschule Schöneberger absolviert hatte, stand mein Sinn nicht nach Foxtrott, Linkswalzer und Tango, sondern nach E-Musik, nach Klassik.
Dafür war das »Pfalzorchester« zuständig. Sechs Mal im Jahr gastierte die in der Chemie-Metropole (und Geburtsstadt des späteren Bundeskanzlers Helmut Kohl) Ludwigshafen ansässige Philharmonie in unserer Stadt. Ach, besäße ich doch noch den Programmzettel von einst, als ich zum ersten Mal – mit verbilligter Schülerkarte – in einem der hinteren Ränge der Zweibrücker Festhalle saß und dem Klang »unserer« Philharmoniker lauschte! Es war mein Erweckungserlebnis … Nur die Namen zweier Maestri, die zu meiner Zeit an der Spitze des Pfalzorchesters standen, habe ich mir gemerkt (und auch das nur, weil ich ihnen viele Jahre später als Gastdirigenten an der Wiener Staatsoper wiederbegegnete): Bernhard Conz und der gebürtige Österreicher Otmar Suitner. Ja, die Welt ist klein, auch die Musikwelt.
Weniger Zugang fand ich während meiner Gymnasiastenzeit zu der mir gleichfalls fremden Gattung Oper. In diesem Punkt war ich auf die Gastspiele des in der 55 Kilometer von Zweibrücken entfernten Fußballhochburg Kaiserslautern ansässigen Pfalztheaters angewiesen – einer Dreispartenbühne, die allerdings nicht über mittleres Provinzniveau hinauskam (was sogar ein Anfänger wie ich bemerkte). Mein »Einstieg« war – ich werde es nie vergessen – eine Carmen, aus deren Ensemble eine stark hinkende Choristin hervorstach. So oft der Chor die Bühne betrat, lauerte ich schon – boshaft, wie es nur ein Flegel von 16 Jahren sein kann – auf die Ärmste mit dem Gehfehler. Sie konnte noch so oft ihr Kostüm wechseln, und egal, ob sie von rechts oder von links, von hinten oder von vorn die Szene betrat – ich hatte nur Augen für sie: Schau-schau, da ist sie wieder, die Hinkende. Mein Bedarf an Oper war damit auf längere Sicht gedeckt. Es brauchte etliche Jahre, bis ich mich zu der Sparte Musiktheater bekehren ließ. Und es brauchte dazu vor allem eines: Wien.
Übrigens verlief dieser Lernprozess keineswegs übergangslos, und das hing mit einer damals berühmten (und noch heute in allen Lexika verewigten) Sängerin zusammen, die ich vom Pfalztheater her kannte und die ich nun, viele Jahre später, bei meiner ersten Wiener Zauberflöte wiedersah: Erika Köth. Sie sang die Königin der Nacht, und sie sang sie so unübertrefflich, dass ihr auch das verwöhnte Wiener Opernpublikum mit Ovationen huldigte. Und ich mittendrin – ich, ihr ehemaliger Landsmann! Mein Stolz kannte keine Grenzen … Ja, auch so kann man zum Fan werden. Keines ihrer Wiener Gastspiele ließ ich nunmehr aus, in der pfälzischen Domstadt Speyer, wo die gefeierte Mozart- und Richard-Strauss-Interpretin 1989 nur 62-jährig starb, pilgerte ich an ihr Grab, und auch von der Erika-Köth-Straße, die ihr nach ihrem Tod die Stadt München gewidmet hat, schoss ich bei einem meiner Aufenthalte in der Bayern-Metropole ein Bild.
Doch zurück ins Jahr 1957. Als 23-Jähriger war ich in der Welthauptstadt der Musik gelandet. Dass ich in Wien auf Dauer, ja auf Lebenszeit Fuß fassen würde, zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht ab. Aber eines wurde mir sehr rasch klar: Bei dem gigantischen Musikangebot dieser Stadt würde ich Frischling nicht abseits stehen können. Wie in einem Rausch aus Heißhunger und aufgestautem Nachholbedarf packte ich alles, was nur möglich war, in die für meinen Wien-Aufenthalt veranschlagten vier Monate hinein: Kaum ein Abend ohne Theater oder Konzert. Wie war es nur möglich, dass mir von einem Tag auf den anderen dies alles offenstand? Konzerthaus und Musikverein, Raimund Theater und Volksoper, Staatsoper und Theater an der Wien. Und und und. Aber diese unendliche Geschichte erzähle ich vielleicht ein anderes Mal.