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drammatico Dopo la scena Freie Fahrt für Musiktouristen!
Оглавление»Prima la musica, dopo le parole« – oder doch eher umgekehrt? Darüber streiten Komponist und Dichter in Richard Strauss’ Konversationsstück Capriccio, und auch Theaterdirektor La Roche, Souffleur Taupe und das gastgebende gräfliche Geschwisterpaar mischen bei dem Disput um den Vorrang von Wort oder Ton nach Kräften mit. Da wundert es einen nicht, wenn vor lauter Rechthaberei ein drittes und ebenfalls wichtiges Element jeglicher Musikdarbietung unter den Tisch fällt: »la scena«. Insbesondere dann, wenn es sich bei dem Werk um ein Bühnenstück handelt, kann es weder den Mitwirkenden noch dem Publikum gleichgültig sein, vor welchem Hintergrund das Geschehen abrollt: an welchem Ort, in welchen Kulissen, in welchem Szenenbild.
Ob Oper, Operette oder Musical – ein jedes hat seine Schauplätze. Egal, ob der »Ort der Handlung« eigens für das betreffende Werk ersonnen oder aber von dessen literarischer Vorlage übernommen worden ist, die Aufführung braucht ein schlüssiges Bühnenbild, und sei dieses – wie nicht selten bei dem zu extremen Lösungen neigenden Regietheater neuerer Zeit – auch noch so »verfremdet« oder auf den Kopf gestellt. Der Programmzettel listet sie der Reihe nach auf: zuerst die Namen des Komponisten und des Textautors, sodann die Personen der Handlung samt Bezeichnung der Stimmgattung, schließlich »Ort und Zeit«. Prima la musica, dopo le parole, poi le personaggi e infine luogo e periodo. Regisseur, Bühnenausstatter und Kostümbildner, Dirigent und Sänger – sie alle müssen wissen, wann und wo das Werk, das sie auf die Bühne stellen wollen, spielt, und den gleichen Anspruch stellt das Publikum.
Aida, so weiß auch der blutigste Laie, entführt uns ins Ägypten der Pharaonen, Richard Wagners Meistersinger ins Nürnberg des 16., La Traviata ins Paris des 19. Jahrhunderts – alles Schauplätze, die leicht erreichbar sind. Ist es da so abwegig, wenn es den Opernfreund – überhaupt, wenn er zu den Unternehmungslustigen zählt – danach drängt, das Bühnen-Ägypten, das Bühnen-Nürnberg oder das Bühnen-Paris an Ort und Stelle in Augenschein zu nehmen, sobald sich ihm auf Reisen die Gelegenheit dazu bietet: zum Theatererlebnis das Erlebnis der (heutigen) Wirklichkeit? Welch spannende Vergleiche zwischen dem Kunstwerk und dem »Original«! Nicht beckmesserisch, notabene, sondern frei von jeder Pedanterie, einzig von dem Wunsch beseelt, ein klein wenig vom Atmosphärischen seiner Lieblingsoper einzufangen – auch auf die Gefahr hin, nach so vielen Jahren oder Jahrhunderten, die seit der Entstehung des Werkes verstrichen sind, von den begehrten Örtlichkeiten und/oder Räumlichkeiten kaum noch etwas vorzufinden.
Nicht, dass sich unser Opernenthusiast von seinem Lokalaugenschein ein besseres Verständnis des betreffenden Werkes verspräche, tiefere Einsichten in dessen Sinn. Vielleicht hat Marcel Proust ja übertrieben, als er an einer Stelle seines Hauptwerks Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schrieb: »Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das meiner Meinung nach einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet.«
Nein, es ist viel einfacher, es ist die (von den strengen Puristen belächelte) Lust des Aficionados, dem Milieu des geliebten Werkes »an Ort und Stelle« nachzuspüren. Man mag ihn sentimental nennen, den »Kulturtouristen«, mag ihn billiger Äußerlichkeit zeihen, sein Tun als infantile Steineklopferei verurteilen, als unzulässigen »Faktencheck«. Und doch: Nichts davon wird ihn – nur als Beispiel – auf seiner Urlaubsreise nach Andalusien davon abhalten können, den eingeplanten Sevilla-Aufenthalt dazu zu nutzen, die diversen Carmen-, Barbier- und Figaro-Schauplätze aufzusuchen, und sei es nur mit den Mitteln der Vorstellungskraft und der Erinnerung.
Wieso sollte es dem Tannhäuser-Fan verwehrt sein, im Zuge seiner Thüringen-Reise an einer Führung durch die Wartburg teilzunehmen? Wieso sollte, wer in den Maskenball vernarrt ist, bei einem Boston-Stopp seiner USA-Tour nicht den Fremdenführer fragen dürfen, was in den drei Jahrhunderten seit der Entstehung der Verdi-Oper aus dem historischen Gouverneurspalast und dem berühmten Gerichtssaal geworden ist? Könnte es nicht reizvoll sein, sich auf einer Spanien-Bergwanderung nach jenem Pyrenäendorf Camprodon durchzufragen, in dessen Umland Eugen d’Albert seine Oper Tiefland angesiedelt hat?
Weitere Beispiele gefällig? Verdis Rigoletto führt den Opernfan nach Mantua, Tschaikowskys Pique Dame nach St. Petersburg, Janáčeks Jenůfa in die mährische Heimat des Komponisten, Gershwins Porgy and Bess nach Charleston (South Carolina). Wer als kulturbeflissener Tourist die alten Fischerorte der englischen Ostküste durchstreift, darf dabei an Benjamin Brittens Peter Grimes denken; an Norwegens Stränden mag ihm das Hier steh ich treu dir bis zum Tod aus dem Fliegenden Holländer durch den Kopf gehen und in den Weiten Schottlands die Wahnsinnsarie der Lucia di Lammermoor.
Damit wir uns klar verstehen: Keinem noch so begeisterten Donizetti-Verehrer ist zuzumuten, sich mit umständlichen Recherchen »in den Tiroler Bergen« (wie es in der Regieanweisung heißt) auf Die Regimentstochter einzustimmen. Und für das Verständnis von Alban Bergs Wozzek ist es ohne jeden Belang, ob Georg Büchner, auf dessen Drama Woyzeck die Oper von 1925 basiert, bei der »deutschen Garnisonstadt« der Spielhandlung an Darmstadt oder an Gießen gedacht hat. Müßig auch, klären zu wollen, ob das Benediktinerstift St. Othmar, das Wilhelm Kienzl als einen der Schauplätze seines Evangelimann gewählt hat, der Realität oder nur der Fantasie des Komponisten entsprungen ist. Anders Richard Strauss: Ein Finde-siècle-Landhaus am Grundlsee, wie es uns der Meister im 1. Akt des Intermezzo vorführt, mag auch heute noch zu finden sein, und über die möglichen Schauplätze des Rosenkavalier hat der Wien-Kenner Artur Hartlieb-Wallthor sogar ein ganzes Buch geschrieben.
Der weniger Mobile, der sich mit dem Studium von Landkarten und/oder Reiseliteratur begnügt, wird vielleicht seine Freude daran haben, die Lage jener kalifornischen Goldgräbercamps zu ermitteln, an denen Puccini sein Mädchen aus dem Goldenen Westen angesiedelt hat, oder jenen Küstenstreifen auf Sri Lanka zu orten, wo Georges Bizet seine Perlenfischer Beute machen lässt. Für Bajazzo-Reminiszenzen ist die Tourismusbehörde von Kalabrien zuständig, in der flandrischen Hafenstadt Brügge erfährt man alles über den historischen Hintergrund der Korngold-Oper Die tote Stadt, und in Jerusalem stehen jederzeit Fachleute bereit, auch die kompliziertesten Fragen zur Topografie der Salome zu beantworten.
Das alte Brügge, Schauplatz der Korngold-Oper Die tote Stadt
So viel zum Thema Musiktheater. Machen wir nun auch einen kleinen Abstecher zur Instrumentalmusik – an einen Ort, dem die dortige Heimatforschung nachsagt, er habe Franz Schubert zu einem seiner berühmtesten Werke inspiriert: dem Forellenquintett. Schubert ist 22 Jahre alt, als er sich im Sommer 1819 zum ersten Mal in Steyr aufhält – es ist der Geburtsort des Freundes Johann Michael Vogl. Der Musikmäzen Sylvester Paumgartner bietet ihm in seinem Haus am Stadtplatz Quartier an. »In Steyr«, so berichtet der Komponist nach Wien, »werde ich mich sehr gut unterhalten. Die Gegend ist himmlisch.« Die Gegend – das ist unter anderem der fantastische Höhenblick auf die Einmündung des Nebenflüsschens Steyr in die vier Mal längere Enns, die für ihren außerordentlichen Fischreichtum berühmt ist. Zu Hunderten, wenn nicht Tausenden tummeln sich die Regenbogenforellen in den Strudeln der sich dramatisch vereinigenden Gewässer – ein Naturschauspiel, das dem heutigen Besucher der drittgrößten Stadt Oberösterreichs verwehrt bleibt: Seit dem Jahrhunderthochwasser von 2002 ist der Fluss reguliert, der Fischbestand abgedrängt.
Noch vor dem Abschluss seines zweimonatigen Aufenthalts in Steyr nimmt Franz Schubert die Arbeit an einem viersätzigen Klavierquintett auf, in Wien wird er es vollenden, unter dem klingenden Namen Forellenquintett wird es in die Geschichte der Kammermusik eingehen. Drei Mal dürfen Sie raten, welches Erlebnis den Meister zu seinem Werk inspiriert haben mag.
Die dem Auftraggeber Sylvester Paumgartner gewidmete Originalhandschrift verbleibt in Steyr, gilt heute ebenso als verschollen wie das Autograf des vorausgegangenen Kunstliedes Die Forelle, der Vertonung eines Gedichtes des schwäbischen Lyrikers Christian Friedrich Daniel Schubart. Mit Letzterer verbinden sich übrigens schlüpfrige Spekulationen mancher Schubart- und auch Schubert-Biografen, die nicht der Versuchung widerstehen können, zwischen dem Angler »mit der Ruthe« (aus den ersten drei Strophen) und dem Mädchenverführer aus der Schlussstrophe gewisse Parallelen herzustellen. In den Anekdotenschatz der Musikgeschichte ist außerdem ein Missgeschick eingegangen, das den Komponisten bei der Anfertigung einer Kopie der Forelle für Freund Anselm Hüttenbrenner trifft: In seiner Zerstreutheit leert Schubert statt des Trockensandes den Inhalt des Tintenfasses übers Manuskript.
Doch zurück ins einstige Forellenparadies Steyr: Wie immer es sich tatsächlich mit dessen Rolle als Inspirationsquell zweier bedeutender Schubert-Werke verhalten mag – für den Musikfan ist und bleibt der Blick auf die dortige Flusslandschaft sowie auf das denkmalgeschützte »Schuberthaus« am Stadtplatz eine selbstverständliche Pflichtübung.
Der Zusammenfluss von Steyr und Enns: Inspirationsquell für Franz Schuberts Forellenquintett?
Wir wechseln zur leichten Muse über. Auch hier fehlt es nicht an von Librettist und Komponist vorgegebenen, über die halbe Welt verstreuten Schauplätzen: Lehárs Land des Lächelns spielt in Wien und Peking, seine Lustige Witwe in Paris, Der Zarewitsch in St. Petersburg und Neapel, Giuditta zum Teil in einem der nordafrikanischen Länder. Wenn Richard Tauber, Fritz Wunderlich oder Rudolf Schock ihr Schön ist die Welt (aus Franz Lehárs gleichnamiger Operette) von der Bühne schmettern, weiß jeder im Publikum, welche »Welt« da gemeint ist: einerseits die majestätische Entrücktheit des Tiroler Hochgebirges (2. Akt) und andererseits die verschwenderische Pracht eines alpinen Luxushotels (1. und 3. Akt). Fred Raymond bietet bezüglich der Maske in Blau San Remo und Argentinien an Handlungsorten auf; noch großspuriger ist Paul Abraham, der sich für Die Blume von Hawaii nicht mit einer Gouverneursvilla in der Inselhauptstadt Honolulu begnügt, sondern für den 3. Akt auch auf ein Chinalokal in Monte Carlo zurückgreift. Hinter dem geheimnisvollen Ort »Dingsda« (in Eduard Künnekes Operette Der Vetter aus Dingsda) verbirgt sich die indonesische Insel Sumatra, der »Badeort in der Nähe einer großen Stadt«, der im Regiebuch der Fledermaus als deren Schauplatz firmiert, ist unzweifelhaft (und nicht nur nach Meinung der dortigen Lokalpatrioten) Baden bei Wien, und Ralph Benatzky, der im Weißen Rössl noch den österreichischen Patrioten gibt, weist sich in Axel an der Himmelstür als profunder Hollywood-Kenner aus. Die Himmelstür, die sich dem verwegenen Reporter der Los Angeles Times öffnet, ist die Pforte zur Traumvilla des einem Verschnitt aus Garbo und Swanson nachempfundenen und 1936 von der jungen Zarah Leander im Theater an der Wien verkörperten Superstars Gloria Mills.
Dagegen nehmen sich Carl Zellers Vogelhändler, der seinen Geschäften in der Kurpfalz rund um Mannheim nachgeht, Leon Jessels Schwarzwaldmädel (der Titel sagt alles) oder Leo Falls Fideler Bauer, den es aus dem Salzkammergutdorf Oberwang in die Großstadt Wien verschlägt, geradezu bieder und bescheiden aus. Egal, wo auch immer es den von Nostalgie und Neugier angetriebenen Musikfreund hinzieht, in die nächste Nachbarschaft oder in die große weite Welt – möge die Übung gelingen!