Читать книгу Schön ist die Welt - Dietmar Grieser - Страница 11
Butterfly hat überlebt Von Nagasaki nach London
ОглавлениеKnapp 450 000 Einwohner zählt Nagasaki – es ist ein Bruchteil jener Touristenströme aus aller Welt, die Jahr für Jahr in der südwestjapanischen Hafenstadt haltmachen, um zu Lande und zu Wasser die örtlichen Sehenswürdigkeiten aufzusuchen und im Bild festzuhalten. Das Straßenbahnnetz ist vorzüglich ausgebaut und verbindet fast alle wichtigen Punkte miteinander; eiligere Besucher buchen eine der drei- beziehungsweise fünfstündigen Bustouren, die Hafenrundfahrt mit dem Aussichtsboot dauert gar nur 50 Minuten.
Die zwei Stopps, die bei keinem der vielen Besichtigungsprogramme fehlen, sind das 1963 im Norden der Stadt errichtete Atombombenmuseum, das an die Opfer der Katastrophe vom 9. August 1945 gemahnt, und der eine sanfte Erhebung an den südlichen Ausläufern von Nagasaki beherrschende Glover-Garten mit seinen üppigen Parkanlagen, seinen Fischteichen, seinen historisch getreu restaurierten Häusern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, seinen Klettersteigen und Denkmälern.
Schon an den Eintrittsgeldern, die den Touristen abverlangt werden, ist abzulesen, welches von beiden das begehrtere Ziel ist: Das Ticket für den Glover-Garten mit all seinen Disneylandähnlichen Attraktionen kostet drei Mal so viel wie die Besichtigung der Fotodisplays, die dem von der Bombe devastierten Nagasaki das unversehrt-friedliche von einst gegenüberstellen.
Ist schon der unübertreffliche Blick auf den Hafen und dessen lebhaft-pittoresken Schiffsverkehr sein Geld wert, so wird der Rundgang durch das weitläufige Gelände vollends zum Erlebnis, wenn der Gast – zumal der aus Europa anreisende – ein Opernliebhaber ist. Denn das Glover-Haus, das, nur wenige Schritte von der 1864/65 errichteten katholischen Kirche entfernt, den Hügel krönt, gilt – so erfährt der Tourist schon aus seinem Reiseführer – als der Originalschauplatz der Puccini-Oper Madama Butterfly, und die Statue der wohl berühmtesten Cio-Cio-san-Darstellerin des Landes, Miura Tamaki, sowie die Puccini-Gedenktafel aus italienischem Marmor tun ein Übriges, die Legende zu erhärten, hier und nirgendwo sonst habe sich die historisch gesicherte Tragödie jener reizenden jungen Geisha zugetragen, die mit dem vorübergehend in Nagasaki stationierten US-Marineoffizier Franklin Benjamin Pinkerton in den Stand der Ehe tritt, kurz nach dessen Heimreise Mutter eines Kindes wird, mehr als drei Jahre auf die Rückkehr des Gatten und Vaters wartet und schließlich, von diesem schnöde getäuscht und verlassen, aus ihrer Misere keinen anderen Ausweg sieht, als nach dem von ihrer Familie ererbten Harakiri-Dolch zu greifen und ihrem verpfuschten Leben ein Ende zu machen.
»Die japanische Hafenstadt Nagasaki um das Jahr 1900« – so lesen wir im Textbuch der Puccini-Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa. Und wir lesen weiter: »Nach einer Erzählung von John Luther Long und deren theatergerechter Umgestaltung durch David Belasco.«
Da haben also ganz schön viele mitgemischt – ob es da nicht verdammt schwer sein wird, nach so langer Zeit noch den Kern der Story bloßzulegen? Einer Story, von der wir jedenfalls wissen (oder zu wissen glauben), dass sie auf tatsächlichen Geschehnissen beruht.
Blenden wir zurück ins Japan um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Es ist die Zeit, da sich der von der übrigen Welt total abgeschottete Inselstaat nach außen öffnet: In den Häfen erhalten erstmals auch amerikanische Frachter Einfahrt, christliche Missionare aus Europa werben für ihren Glauben und nehmen Taufen vor, mit dem Ende der Herrschaft der Shogune und der Rückkehr des Tennos nach Tokio (1867) geht ein Rausch rasanter Verwestlichung durchs Land. Die USA errichten in Shimoda ein Konsulat; Townsend Harris heißt der erste Geschäftsträger, der mit den Japanern die jahrhundertelang verweigerten Handelsverträge abschließt.
Die Fremden, die nun in zunehmender Zahl ins Land einreisen, sind allerdings ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstellt, und das sorgt im Gastgeberland für böses Blut: Während auf der einen Seite der Export japanischer Seide, japanischen Tees und japanischer Edelmetalle wirtschaftlichen Aufschwung bringt, führt das präpotente Auftreten des »weißen Mannes« vielerorts zu ausländerfeindlichen Reaktionen.
In Nagasaki, das mit seinem florierenden Außenhandelsverkehr im Begriff ist, sich zu einer Art »Tor zum Westen« zu entwickeln, wird die aus Kaufleuten, Schiffskapitänen und Diplomaten rekrutierte »fünfte Kolonne« von einem schottischen Unternehmer namens Thomas Blake Glover angeführt, der einen Großteil des Export-Import-Geschäfts abwickelt: Gold und Silber gegen Schiffe und Waffen. Aus Schanghai führt er die ersten Dampflokomotiven ein, aus England modernstes Gerät für den Bergbau; aus der Schiffswerft, die er fachlich berät, wird in späteren Jahren der Weltkonzern Mitsubishi hervorgehen. Auch als Glover mit seiner Firma in den Bankrott schlittert, bleibt er als Regierungskonsulent im Lande und wird als erster Ausländer mit dem exklusiven Orden der aufgehenden Sonne ausgezeichnet. Auf einem Hügel im Süden von Nagasaki errichtet er seine mit allem Luxus ausgestattete Residenz – es ist jener von märchenhaften Parkanlagen gesäumte Besitz mit Blick auf den Hafen, der dem heutigen Japan-Touristen als Originalschauplatz der Butterfly-Tragödie vorgeführt wird.
Statue im Glover-Park zu Nagasaki: Miura Tamaki, Japans berühmteste Butterfly-Darstellerin
Die Fremden, die zu jener Zeit nach Japan einströmen, berichten den Angehörigen in der Heimat natürlich nicht nur von ihren Geschäftsabschlüssen, ihren Firmengründungen und ihrem nicht immer konfliktfreien Umgang mit den Einheimischen, sondern auch von der eigenartigen Kultur des Gastlandes: den Tempeln und Schreinen, den Teehäusern, den Kirschblüten und dem Schneegipfel des Fujiyama, und clevere japanische Standfotografen finden rasch heraus, wie ihre zahlungskräftige Klientel am effektvollsten ins Bild zu setzen ist. Die Folge: Japan wird zu einem begehrten Reiseziel, romantische Schnappschüsse mit Geishas, die im typischen Outfit ihres Standes – rubinrot gefärbte Lippen, Lackhaar, Kopfschmuck, Reispudermaske und Kimono – den Partner verzückt anhimmeln, zum unabdingbaren »must«.
Vorreiter dieser von allen einschlägigen Klischees mitgeprägten Mode ist ein 35-jähriger Franzose namens Julien Viaud, der unter dem Pseudonym Pierre Loti bereits eine Reihe stimmungsvoller Reiseromane vorgelegt hat und nun, im Sommer 1885, für einige Monate auch in Nagasaki Station macht, dort eine blutjunge Japanerin heiratet und über das Leben an der Seite seiner O-Kiku-san zwei Jahre darauf ein Buch schreibt, das unter dem Titel Madame Chrysanthème zu einem Riesenerfolg wird. Allein die französische Ausgabe erreicht binnen weniger Jahre 25 Auflagen.
Weltenbummler Loti, der sich zuvor schon in etlichen anderen exotischen Ländern, darunter China, umgesehen hat, macht es sich zur Angewohnheit, sich überall eine einheimische Geliebte zuzulegen – natürlich nur, »um den jeweiligen Volkscharakter kennenzulernen«. Kann es bei so viel Arroganz verwundern, dass der Herr Marineoffizier nach Ablauf seiner Tage in Nagasaki froh ist, seine Gespielin wieder los zu sein? Aber auch sie hat wenig Mühe, über das abrupte Ende der Beziehung hinwegzukommen: »Chrysanthème« zieht sich in ihre Gemächer zurück und zählt das vom Ex-Liebhaber hinterlassene Geld.
Ein Landsmann von Loti, der drei Jahre jüngere Komponist André Messager, macht aus der nur in punkto Landschafts- und Brauchtumsschilderung romantischen, ansonsten aber ernüchternden Geschichte eine Oper, die ein aufgeschlossenes Publikum findet, und da Messager zur Zeit der Niederschrift seiner Partitur in der Villa d’Este bei Rom weilt, wo sich gerade auch sein italienischer Kollege Giacomo Puccini aufhält, dürfte es bei dieser Gelegenheit zu dessen erster Berührung mit dem Butterfly-Sujet kommen.
Auch in England kommen asiatische Lovestorys in Mode: Clive Holland bringt seinen Roman My japanese wife, Sidney Jones seine (1896 in London uraufgeführte) Operette Die Geisha zu Papier: Da ist also auch der Boden bereitet für die literarische Ausschlachtung eines weiteren japanischen Frauenschicksals, dessen Kunde um die Jahreswende 1897/98 via Amerika nach Europa dringt. Es ist die Tragödie einer jungen Geisha aus Nagasaki, die, von einem US-Marineleutnant »freigekauft«, mit diesem in den Stand der Ehe tritt, einen Buben zur Welt bringt, von ihrem Mann im Stich gelassen wird, nach Jahren vergeblichen Wartens auf dessen Rückkehr erfahren muss, dass der Treulose in Amerika verheiratet ist, und daraufhin den Entschluss fasst, aus dem Leben zu scheiden. Nur ihr inzwischen herangewachsenes Kind kann sie im letzten Augenblick (und hierin weicht Puccinis Madama Butterfly von der Realität ab) von ihrem Verzweiflungsschritt abhalten.
Während die Identität des Pinkerton-Urbildes (in der deutschen Version von Puccinis Oper wird aus ihm – wohl des sprachlichen Wohlklanges halber – ein Linkerton) ungeklärt ist und wohl auch für immer ungeklärt bleiben wird, sind Person, Lebensdaten und Lebensumstände der originalen Cio-Cio-san exakt überliefert. Tsuru Yamamura lautet ihr Name; am Neujahrstag 1851 kommt sie in Osaka zur Welt, wo ihr Vater einem der dortigen Geisha-Häuser vorsteht. Nach der für sie so enttäuschend verlaufenen Affäre mit »ihrem« Amerikaner, die sich um 1870 zugetragen haben muss und die sie – im Gegensatz zu dem in der Opernhandlung blutig vollzogenen Selbstmord – überlebt, tritt sie in die Dienste des schon erwähnten Großhandelsunternehmers Thomas Blake Glover, der nicht nur Tsuru (auf Deutsch: Kranich) zur Frau nimmt, sondern auch ihr vaterloses Kind adoptiert. Am 23. März 1899 stirbt Tsuru Yamamura-Glover alias Cio-Cio-san; auch ihr Grab auf dem Friedhof von Nagasaki wird ein Opfer des Atombombenabwurfs vom Sommer 1945. Die einzige Spur ihres wechselvollen Daseins, die sich erhalten hat, ist das Glover-Haus, in dem sie für den Rest ihrer Tage Ruhe und Frieden fand.
Woher wir dies alles wissen? Über einen befreundeten Kaufmann, der im Glover-Haus ein und aus geht, kommt der Fall Tsuru Yamamura der Frau des methodistischen Missionars Irving Correll zu Ohren, der seit 1873 in Japan lebt und seit 1892 die Chinzei-Gakukan-Schule in Nagasaki leitet, zu deren Absolventen vor Jahren auch der junge Glover gezählt hat (Corrells eigener Sohn wird 1921 US-Konsul in Nagasaki).
Mrs. Correll, eine geborene Long aus Philadelphia, ist die Schwester des amerikanischen Schriftstellers John Luther Long, und dem berichtet sie, als sie wieder einmal auf Heimaturlaub in den USA weilt, von dem Gehörten. Long, zu dieser Zeit ein Mann von 36, greift ohne Zögern den Stoff auf und verwertet ihn, ohne jemals selbst einen Fuß auf japanischen Boden gesetzt zu haben, zu einer Novelle, die im Jänner 1898 unter dem Titel Madam Butterfly in der viel gelesenen amerikanischen Zeitschrift Century Magazine erscheint. Es folgt die Buchfassung – die 10 000 Exemplare der Erstauflage sind im Nu vergriffen.
Unter den vielen, denen die Story unter die Haut geht, ist auch der amerikanische Regisseur, Impresario und Dramatiker David Belasco: Er erwirbt von Long das Recht zur Dramatisierung der Novelle, und schon am 5. März 1900 geht im New Yorker Herald Square Theatre die Uraufführung des Stückes über die Bühne. Auch hier ist der Erfolg so enorm, dass Belasco und seine Truppe sich alsbald zu einem England-Gastspiel entschließen: Über Monate ist das Londoner Duke of York Theatre Abend für Abend ausverkauft.
Der Zufall will es, dass zu ebendieser Zeit Giacomo Puccini, demnächst 42 Jahre alt, in der englischen Hauptstadt zu Besuch ist: In Covent Garden haben die Proben zur Erstaufführung seiner Oper Tosca begonnen. Frank Nielson, der Direktor der renommierten Bühne, macht seinen illustren Gast auf den »Hit« im Duke of York Theatre aufmerksam, und der besorgt sich daraufhin ein Billet für die 60. Vorstellung.
Obwohl Puccinis Sprachkenntnisse nicht im Entferntesten für das Verständnis eines englischen Bühnentextes ausreichen und Autor Belasco seine Hauptfigur, um deren fernöstliche Herkunft zu unterstreichen, ein schauerliches »Pidgin-English« sprechen lässt, ist die mit bloßem Auge wahrnehmbare Handlung des Dramas durchsichtig genug, um Puccini aufs Tiefste zu erschüttern: Ohnedies auf der Suche nach einem neuen Opernstoff, verständigt er auf der Stelle seinen Mailänder Verleger Ricordi und bittet diesen, die nötigen Schritte einzuleiten, um das Vertonungsrecht für Madam Butterfly zu erhalten. Am 7. April 1901 ist es so weit: Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, seine beiden bewährten Librettisten, können sich an die Arbeit machen …