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Leutnant Gustl Brüsewitz

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24. Mai 1900. Vor gut einer Woche hat Arthur Schnitzler seinen 38. Geburtstag gefeiert, jetzt kehrt er Wien für ein paar Tage den Rücken. Zusammen mit dem Freund und Kollegen Felix Salten und dessen Frau, der Burgschauspielerin Ottilie Metzl, will man sich in Puchberg an der guten Luft der renommierten Schneeberg-Sommerfrische gütlich tun und vielleicht ein, zwei jener gemeinsamen Waldwanderungen unternehmen, die stets mit intensiven Gesprächen einhergehen. Am vierten Tag seines Aufenthalts – man logiert im sogenannten Baumgartnerhaus – trägt Schnitzler in sein Tagebuch ein:

»Dort oben Lieutenantgeschichte skizzirt.«

Lieutenantgeschichte – das ist die Novelle von dem jungen k.u.k. Offizier, der nach einem ihn elend langweilenden Konzert im Wiener Musikverein an die Garderobe stürzt, dort seiner plumpen Arroganz wegen von einem anderen Besucher »dummer Bub« geheißen wird und, um seine verletzte Ehre wiederherzustellen, keinen anderen Ausweg sieht, als sich die Kugel zu geben.

Ein Duell mit seinem Kontrahenten kommt nicht in Betracht – dieser Habetswallner ist bloß ein einfacher Bäckermeister, und als satisfaktionsfähig gelten in Offizierskreisen ausschließlich Angehörige des Adelsstandes, Militärs und Akademiker. Hin- und hergerissen zwischen der Wut auf den frechen »Zivilisten« und weinerlichem Hadern mit seinem Schicksal verbringt Gustl die folgende Nacht im Freien auf einer Praterbank, ehe er, nach einem Abschiedsfrühstück im Kaffeehaus, die Waffe gegen sich selbst richten will. Doch es kommt anders: Im Caféhaus erfährt Gustl, daß sein Herausforderer um Mitternacht am Schlagfluß gestorben ist. Durch dieses »Mordsglück« sieht er sich, da es für den Vorfall an der Garderobe keinerlei Zeugen gibt, von Schmach und Schande befreit und beschließt weiterzuleben.

Schnitzler, als Reserveoffizier der k.k. Landwehr wohl selber laufend mit Typen wie diesem gleichermaßen oberflächlichdümmlichen wie überheblichen Leutnant Gustl konfrontiert und im übrigen ein erklärter Gegner von allem, was nach Standesdünkel riecht, ist vom Gegenstand seiner Novelle so angetan, daß er nur sechs Tage für deren Niederschrift braucht: Noch im selben Sommer bringt er sie – während eines Kuraufenthaltes in Reichenau – zu Papier. Als er am 19. Juli 1900 den Federhalter aus der Hand legt, tut er dies – so der betreffende Eintrag in sein Tagebuch – »in der Empfindung, daß es ein Meisterwerk sei«. Die Literaturkritik wird ihm recht geben: »Leutnant Gustl« gilt als Arthur Schnitzlers reifstes Prosawerk. Und Kollege Hugo von Hofmannsthal, voller Bewunderung für den hier erstmals angewendeten Kunstgriff, die Titelfigur selber sprechen zu lassen und ihren Gedankenstrom – in direkter Rede – assoziativ aneinanderzufügen, geht noch einen Schritt weiter und attestiert dem Autor in einem Brief: »Das ist innerhalb der deutschen Literatur wirklich ein Genre für sich, das Sie geschaffen haben.« Vor allem in der angelsächsischen Dichtkunst – von James Joyce bis Virginia Woolf – wird fortan der »innere Monolog« als Erzähltechnik zügig weiterentwickelt werden.

Uns aber interessiert anderes. Hat Arthur Schnitzler den »Leutnant Gustl« frei »erfunden«, oder hat er, als er dieses Stück Prosa abfaßte, aus realem Geschehen geschöpft?

Er selber begnügt sich mit dem vagen Hinweis, Freund Salten habe ihm von einer Auseinandersetzung berichtet, die sich im Foyer des Musikvereins zugetragen habe, ein Bekannter namens Lasky sei die Schlüsselfigur gewesen. Und Schnitzler schließt: Jawohl, »zum Teil« habe er, als er den »Leutnant Gustl« geschrieben habe, auf diese »tatsächlich vorgefallene Geschichte« zurückgegriffen.

Kein Zweifel: Der Fall Lasky gibt Arthur Schnitzler den Anstoß zu seiner Novelle. Aber ebenso steht fest: Der Unfug, der da seit Jahr und Tag mit dem überholten Ehrenkodex der österreichischen Offizierskaste getrieben wird, geht dem Pazifisten und Humanisten Arthur Schnitzler schon die längste Zeit auf die Nerven. In der vermeintlichen Pflicht, eine noch so läppische Beleidigung mit der Waffe in der Hand sühnen zu müssen, sieht er nichts als Anmaßung, und mit derlei muß es ein Ende haben.

Als Schnitzler knapp vier Jahre vor der Entstehung des »Leutnant Gustl«, im November 1896, in Berlin weilt, um der Uraufführung seines Schauspiels »Freiwild« am Deutschen Theater beizuwohnen, macht in der dortigen Presse eine Affäre Schlagzeilen, die zwar einen ganz anderen Ausgang nimmt, aber doch einen sehr ähnlichen Konflikt zum Gegenstand hat: Ein in der Garnison der badischen Residenzstadt Karlsruhe stationierter Offizier gerät in einer dortigen Gastwirtschaft in einen heftigen Wortwechsel mit einem Fabrikarbeiter und sticht den Unbewaffneten nieder. Da der Vorfall sogar im Parlament diskutiert wird, sind auch die Berliner Zeitungen voll davon, und Schnitzler muß davon gehört haben. In der Chronik der Haupt- und Residenzstadt Karlsruhe für das Jahr 1896 lesen wir darüber:

»Im Oktober wurden weite Kreise der Einwohnerschaft unserer Stadt durch eine Bluttat in bedeutende, geraume Zeit anhaltende Aufregung versetzt. In der Nacht vom 10. zum 11. Oktober erstach der Premierleutnant v. Brüsewitz vom Leibgrenadierregiment im Café Tannhäuser den bei der Firma Junker & Ruh beschäftigten Mechaniker Theodor Siepmann aus Altendorf bei Essen, von dem er beleidigt worden war. Das Ereignis, welches weithin über die Grenzen der Stadt hinaus Aufsehen erregte und zu einer Interpellation im Reichstag führte, bildete wochenlang den Gegenstand lebhafter Erörterungen in den Zeitungsblättern der verschiedensten Richtungen. Brüsewitz wurde wegen seiner Tat vom Kriegsgericht zur Entfernung aus dem Heer sowie zu drei Jahren und zwanzig Tagen Gefängnis verurteilt.«

Auch Schnitzlers Gustl ist Leutnant, auch er gerät mit einem nicht satisfaktionsfähigen Zivilisten aneinander – im Gegensatz zu seinem deutschen Pendant zieht er jedoch nicht den Säbel, und dem ihm daraufhin unumgänglich dünkenden Selbstmord entschlägt er sich, weil er durch den überraschenden Tod des Kontrahenten die erlittene Demütigung getilgt glaubt.

Der Fall Brüsewitz zählt also ohne Zweifel mit zu Schnitzlers »Rohmaterial«, auch wenn nicht nachdrücklich genug festzuhalten ist, daß der Autor mit alledem vollkommen frei umgeht und der Handlung selbstverständlich ihren ganz eigenen Verlauf vorgibt. Andererseits ist es nicht ohne Pikanterie (und spricht für Schnitzlers Neigung, bis in kleinste Details »realitätsgetreu« zu fabulieren), daß er sich sogar beim Programm des Konzertes, dem er seinen Protagonisten beiwohnen läßt, an die Wirklichkeit hält: Am 4. April 1900, den er in seiner Novelle als Handlungsdatum nennt, wird im Musikverein – so hat man nachträglich eruiert – Mendelssohn-Bartholdys Oratorium »Paulus« aufgeführt. Und worüber läßt der Dichter seinen Leutnant Gustl angewidert lästern? Vor lauter Juden im Publikum könne man »nicht einmal mehr ein Oratorium in Ruhe genießen …« Da kann Schnitzler, selber wiederholt einschlägigen Anfeindungen ausgesetzt, also auch gleich mit dem im österreichischen Offizierskorps grassierenden Antisemitismus abrechnen.

Ist schon die Entstehungsgeschichte der Novelle »Leutnant Gustl« ein interessanter Beitrag zum Thema Inspirationsquell, so wird es vollends spannend, wenn man sich den Umständen und Folgen ihrer Veröffentlichung zuwendet. Am 19. Juli 1900 schließt der Dichter die handschriftliche Fassung des Textes ab, am 3. September beginnt die Diktierarbeit, einem ersten »Test« im privaten Kreis folgt eine Lesung in einem Literaturzirkel in Breslau, wo am 1. Dezember in Anwesenheit des Autors dessen Schauspiel »Der Schleier der Beatrice« uraufgeführt wird.

Für die Erstveröffentlichung des »Leutnant Gustl« ist die Weihnachtsausgabe der »Neuen Freien Presse« ausersehen. Ob es da ein böses Omen ist, daß Schnitzler sich schon in diesem Frühstadium des Geschehens zweifach ärgern muß? Zuerst fehlen in einem Teil der Zeitungsauflage die letzten drei Spalten des Textes, dann liegt auch noch das Honorar weit unter seinen Erwartungen: Erst auf seine Reklamation hin werden die 150 Gulden, die ihm die Buchhaltung angewiesen hat, verdoppelt.

Aber der eigentliche »Wickel« kommt erst, als das konservative Lager im allgemeinen und die Spitzen des Militärs im besonderen sich mit dem Inhaltlichen der Novelle auseinanderzusetzen beginnen: »Leutnant Gustl« ist in ihren Augen ein frecher Frontalangriff auf die österreichische Offiziers -ehre. Nur wenige Tage nach dem Erstdruck in der »Neuen Freien Presse« eröffnet in der »Reichswehr« deren Chefredakteur Gustav Davis mit einem massiv denunziatorischen Artikel das Trommelfeuer gegen den Autor, und die Redaktion des »Neuen Wiener Tagblatts«, davon verunsichert, zieht ihr Angebot, in der Neujahrsausgabe Schnitzlers Dialog »Silvesternacht« abzudrucken, verschreckt zurück. Als dem Autor außerdem zugetragen wird, in einem Wiener Ringstraßencafé habe man eine Runde Offiziere beobachtet, die beisammengesessen seien und, den Zeitungstext vor Augen, gewisse Stellen rot angestrichen hätten, kann es ihn kaum noch wundern, daß ihn Anfang Jänner 1901 ein »Befehl« des k.k. Landwehrergänzungsbezirkskommandos Nr. 1 erreicht, mit dem Schnitzler aufgefordert wird, bekanntzugeben, ob er »der Verfasser des am 25. Dezember 1900 in der ›Neuen Freien Presse‹ erschienenen Feuilletons ›Leutnant Gustl‹« sei.

Böses ahnend, versichert sich der Dichter des Beistandes seines Gönners Max Burckhard – der Herr Hofrat, der gelernter Jurist ist und seit seiner Abdankung als Burgtheaterdirektor am Verwaltungsgerichtshof arbeitet, wohnt mit Schnitzler im selben Haus. Burckhard rät zu Härte, und so repliziert Schnitzler am 6. Jänner, er »erachte sich in keiner Weise verpflichtet, dienstliche Meldungen oder Auskünfte über seine literarische Tätigkeit zu erstatten«.

Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Das k.k. Landwehrtruppendivisionskommando fordert den »Herrn Oberarzt« auf, sich zwecks Vorverhandlung am 30. Jänner um 9 Uhr vor dem ehrenrätlichen Ausschuß für Landwehroffiziere und Kadetten in der Kaserne Siebenbrunnengasse 37 einzufinden.

Um gegen eine eventuell drohende Hausdurchsuchung gewappnet zu sein, übergibt Schnitzler seinem Berater Burck-hard eine Reihe wichtiger Papiere. Sein persönliches Erscheinen vor dem Ehrenrat verweigernd, antwortet er: Das »Verfahren« möge ohne seine Einvernahme abgewickelt werden. Auch die nächste Weisung, bei einer für den 22. Februar angesetzten Offiziersversammlung »entweder persönlich zu erscheinen oder eine schriftliche Äußerung vorlegen zu lassen«, läßt Schnitzler kalt:

»Da ich nicht einzusehen vermag, inwiefern die Veröffentlichung dieser Novelle als eine jener Handlungen oder Unterlassungen gedeutet werden könne, die einem ehrenrätli-chen Verfahren unterliegt, entfällt für mich jeder Anlaß zu einer weiteren Äußerung in dieser Angelegenheit.«

Über den Ausgang der für den 26. April anberaumten und von Schnitzler gleichfalls ignorierten »Schlußverhandlung« erfährt er am 1. Juni, als er beim Frühstück in einem Salzburger Kaffeehaus die »Neue Freie Presse« aufschlägt: er sei der Verletzung der Standesehre für schuldig erkannt und seines »Offizierscharakters für verlustig erklärt«.

Zwei Wochen darauf liegt der »Beschluß« im vollen Wortlaut vor: Arthur Schnitzler habe, »als dem Offiziersstande angehörig, eine Novelle verfaßt und in einem Weltblatte veröffentlicht, durch deren Inhalt die Ehre und das Ansehen der österreichischen und ungarischen k.u.k. Armee herabgesetzt wurde …«

Der Rest sind die für solche Fälle üblichen Formalitäten: Schnitzler wird aufgefordert, sein Ernennungsdekret zu retournieren. Da er sich zwar weiterhin passiv verhält, jedoch zumindest der Abholung des Offiziersdiploms nichts in den Weg legt, wird ihm immerhin ein Militärpaß ausgefolgt, der ihm bis zum 42. Lebensjahr den Status eines gewöhnlichen Sanitätssoldaten des k.u.k. Landsturms einräumt.

Nachdrücklicher als mit dieser spektakulären Maßregelung durch seine militärischen Vorgesetzten könnte Schnitzlers satirische Treffsicherheit kaum bestätigt werden: Erst durch die »Leutnant-Gustl-Affäre« erhält »Leutnant Gustl« seine volle Effizienz und Glaubwürdigkeit.

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