Читать книгу Sie haben wirklich gelebt - Dietmar Grieser - Страница 8
Rouge et blanc
ОглавлениеAcht Minuten Fußweg trennen sie voneinander: Ihr Grab liegt in Gruppe 15, seines in Gruppe 21. Die Kameliendame und ihr Dichter. Friedhof Montmartre, Paris.
Parallele und Kontrast halten einander die Waage: Beide vom selben Jahrgang 1824, erreicht Alexandre Dumas ein Alter von 71, Alphonsine Plessis stirbt mit 23. Pompe funèbre hier, schlichte Ornamentik dort: Die Skulptur der Poetengruft zeigt den Verblichenen in voller Mannesgröße, den Gedenkstein der Kurtisane schmückt eine Kamelienblüte aus Porzellan.
Rose-Alphonsine Plessis, die sich in späteren Jahren Marie Duplessis nennen und nach ihrem Tod als Marguérite Gautier beziehungsweise Violetta Valéry in die Roman-, Theater-, Opern- und Filmliteratur eingehen wird, kommt 1824 in einem kleinen Dorf in der Normandie zur Welt. Von der Mutter weiß man so gut wie nichts; der Vater, von Beruf Kesselflicker, ist ein schwerer Alkoholiker. Noch im Kindesalter von einem Landarbeiter aus der Gegend entjungfert, folgt die Minderjährige einem Mann, der dem Alter nach ihr Vater sein könnte, nach Paris, wo sie sehr bald dahinterkommt, daß man sich als Liebesdienerin leichter durchs Leben bringt als mit einer schlechtbezahlten Stelle als Korsettmacherin. Vor allem, wenn man, was die Freier betrifft, wählerisch und nur zahlungskräftigen Männern von Stand zu Willen ist.
Mit der Zeit pendelt es sich bei einer Zahl von sieben Verehrern mit festem Wochenplan ein: Jedem von ihnen bleibt »sein« Tag reserviert – ein präzis funktionierendes Syndikat der Lust. Auch der bejahrte Graf Stackelberg, in seiner aktiven Zeit Gesandter der russischen Botschaft in Paris, muß zur Kenntnis nehmen, daß all die üppigen Geschenke, mit denen er seinen Schützling überschüttet, nicht dazu ausreichen, sie von der »Konkurrenz« fernzuhalten.
Von Alphonsines frappanter Ähnlichkeit mit seiner frühverstorbenen Tochter fasziniert, will er die Zwanzigjährige von ihrem lasterhaften Lebenswandel befreien und zur Monogamie überreden – da tritt abermals ein neuer Galan auf den Plan. Diesmal handelt es sich um einen Gleichaltrigen: Alexandre Dumas ist – so wie sie – gerade zwanzig geworden. Sohn des Roman- und Theaterschriftstellers gleichen Namens, der mit Werken wie »Die drei Musketiere«, »Das Halsband der Königin« und »Der Graf von Monte Christo« zur ersten Garnitur unter Frankreichs Autoren der Zeit zählt, hat der Filius seine Karriere noch vor sich, sammelt erste Erfahrungen in den literarischen Salons der Hauptstadt, bereist zwischendurch Spanien und Nordafrika, stürzt sich ins Pariser Theaterleben. Und dort, in einer der Proszeniumslogen des »Théâtre des Variétés«, lernt er im Spätherbst 1844 die bildhübsche Alphonsine kennen und spannt sie ihrem betagten Begleiter aus. Es ist ebenjener Graf Stackelberg, der ihr kurz zuvor noch eine Luxuswohnung am Boulevard de la Madeleine eingerichtet sowie eine eigene Karosse und zwei Rassepferde zum Geschenk gemacht hat. Dumas zieht mit seiner Geliebten aufs Land, die Schwindsüchtige braucht unbedingt frische Luft. Doch auch diese Verbindung ist nicht von Dauer: Nach nur einem Jahr – Trennungsgrund: Eifersucht – gehen die beiden auseinander, Alphonsine (die sich mittlerweile, eine adelige Herkunft vortäuschend, Duplessis nennt) fällt wieder in ihr gewohntes Mätressendasein zurück. Die Dichter Alfred de Musset und Eugène Sue erfreuen sich ihrer Gunst ebenso wie der Klaviervirtuose und Komponist Franz Liszt, der sich gerade von der Mutter seiner drei Kinder, der Gräfin Marie Cathérine d’Agoult, losgesagt hat. Die schnöde Verlassene, deren jüngere Tochter Cosima später Richard Wagners Frau werden wird, rächt sich an dem untreuen Liszt, indem sie – unter dem männlichen Pseudonym Daniel Stern – einen Roman herausbringt, der deutlich autobiographische Züge trägt.
Alphonsine schert dies alles wenig, in ihrem Salon herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, vielleicht ahnt die immer wieder von Schwächeanfällen Heimgesuchte, daß ihre Tage gezählt sind. Apropos Tage: Zu ihrem zweifelhaften Ruhm trägt unter anderem auch jener delikate Tick bei, sich stets eine frische Kamelienblüte ans Dekolleté zu heften – an 25 Tagen im Monat eine weiße, an den restlichen fünf eine rote. Ihre Liebhaber sollen wissen, woran sie mit ihr sind – ein ebenso poetisches wie drastisches Signal. Madame Bar - jon, die Blumenhändlerin in der Rue de la Paix Nr.14, hat für ihre Stammkundin stets das Gewünschte auf Lager.
Am 5. Februar 1847, nicht einmal 23 Jahre alt, stirbt Alphonsine Plessis in ihrem Liebesnest am Boulevard de la Madeleine Nr. 11; es handelt sich um dasselbe Haus, das auch für Genüsse anderer Art berühmt ist: In den unteren Stockwerken stellt die Schokoladefabrik »Zur Marquise de Sévigné« ihre Spezialitäten her.
Ob unter den Verehrern, die Alphonsine Plessis auf ihrem letzten Weg das Geleit geben und ihrer Bestattung auf dem Friedhof Montmartre beiwohnen, auch Alexandre Dumas ist, wissen wir nicht. Auf jeden Fall wäre er für sein Fernbleiben entschuldigt, denn Dumas tut ungleich mehr als all die anderen, die ihrem Sarg nur ein Schäufelchen Erde nachwerfen: Er macht sie unsterblich, indem er sich noch in ihrem Todesjahr an den Schreibtisch setzt und ihrem Andenken mit einem Roman huldigt, der zu einem der größten Publikumserfolge des 19. Jahrhunderts werden wird: »La Dame aux Camélias«. Es ist die nur mäßig verschleierte Geschichte der lungenkranken Marguérite Gautier, die aus Liebe zu dem sie umwerbenden Gesellschaftstiger Armand Duval ihren bisherigen Lebenswandel aufgibt, jedoch von dessen Vater bedrängt wird, mit Rücksicht auf den guten Ruf der Familie den Sohn »freizugeben«, daraufhin wieder in ihr früheres Milieu zurückkehrt und den verzweifelt Fallengelassenen erst auf dem Sterbelager über ihr heroisches Liebesopfer aufklärt.
Dumas legt seinen Roman nicht als schlüpfrig-schwüle »chronique scandaleuse« an, sondern entscheidet sich für ein Sittenbild mit sozialkritischem Einschlag, das bei aller Melodramatik der Handlung auf eine flammende Verteidigung des neuen Typus »ehrbare Dirne« hinausläuft: Seine Sympathie gilt nicht der verlogen-dünkelhaften »guten Gesellschaft« (der er selber angehört), sondern der sich selbstlos aufopfernden Liebenden aus der »demi monde« (ein Begriff, den Dumas als erster in die Literatur einführt).
Armand Duval – das ist niemand anderer als er selbst, hinter Marguérite Gautier verbirgt sich seine Kurzzeitgeliebte Mademoiselle Plessis, und das Boudoir in der Rue d’Antin Nr. 6, mit dessen Schilderung die Romanhandlung einsetzt, ist mit Alphonsines Wohnung am Boulevard de la Madeleine identisch. Für die Versteigerung ihres Nachlasses gibt es übrigens einen prominenten Zeugen: Alexandre Dumas’ dreizehn Jahre älterer englischer Kollege Charles Dickens, der seine Arbeit am »David Copperfield« unterbrochen hat, um in Paris frische Kraft zu tanken, befindet sich, auf das spektakuläre Ereignis aufmerksam geworden, unter den Zaungästen der denkwürdigen Auktion.
Die französische Erstausgabe des Romans umfaßt zwei Bände und erscheint 1848, also nur wenige Monate nach dem Tod der Protagonistin; zwei Jahre darauf folgt in einem Wiener Verlag die deutsche Übersetzung – zunächst noch in strenger Anlehnung an den Originaltitel: »Die Dame mit den Camelien«. Erst mit Otto Flakes neuer Version anno 1907 kommt es zu der griffigeren Variante »Die Kameliendame«, und bei der wird es wohl ein für allemal bleiben.
Gleich seinem Vater beherrscht auch Alexandre Dumas fils beide Sparten: die dramatische wie die erzählende, und so verstreichen keine vier Jahre, bis »La Dame aux Camélias« auch die Bühne erobert. Die Premiere am 2. Februar 1852 im Pariser »Théâtre Vaudeville« wiederholt, ja übertrifft noch den Erfolg der Buchausgabe, und da sich unter den vielerlei Gästen von auswärts, die der Aufführung beiwohnen, auch der neununddreißigjährige Giuseppe Verdi befindet, der – nach Erfolgen wie »Nabucco«, »Ernani«, »Macbeth«, Luisa Miller«, »Rigoletto« und »Der Troubadour« – nach einem weiteren Opernstoff Ausschau hält, ist es nur einen Schritt zur Vertonung des Kameliendame-Sujets: Francesco Piave, der Hausautor des Teatro la Fenice in Venedig, der schon mehrfach mit Verdi zusammengearbeitet hat, erhält den Auftrag, Alexandre Dumas’ Schauspiel in ein Libretto umzuwandeln, wobei die Handlung im großen und ganzen der des Originals folgt und nur die Namen der auftretenden Personen ausgewechselt werden. Aus Marguérite Gautier wird eine Violetta Valéry, aus Vater und Sohn Duval ein Georg und Alfred Germont, und der blumige, nur scheinbar romantische Stücktitel »La Dame aux Camélias« weicht dem schärferen »La Traviata«, obwohl sich durch das Motiv der »vom rechten Wege Abgekommenen« ein kritisch-moralisierendes Element einschleicht, das eigentlich der heroisierenden Parteinahme für die Hauptfigur diametral zuwiderläuft. Erst der Film – all den 33 Kinoversionen voran: George Cukors 1936 gedrehte Fassung mit Greta Garbo, Robert Taylor und Lionel Barrymore – greift wieder auf den Originaltitel zurück, und auch wenn es eines Tages in keinem Blumenladen der Welt mehr Kamelien zu kaufen geben sollte, weil der von dem auf die Philippinen ausgewanderten mährischen Jesuiten Georg Joseph Kamel um 1700 entdeckte und nach ihm benannte Zierstrauch von anderen und modischeren Gewächsen verdrängt sein wird: Der Kameliendame ist ein ewiges Leben gewiß.