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Epitaph für Tewje

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Eines möchte ich euch bitten, Reb Scholem-Alejchem: Ihr sollt mich in Euren Büchern nicht beschreiben! Und wenn ihr mich doch einmal beschreibt, so nennt wenigstens meinen Namen nicht!«

Tewje, der Milchmann – wo setze ich den Hebel an? Aus den Erinnerungen von Scholem Alejchems Tochter Marie, die die Tage ihrer Kiewer Kindheit liebevoll geschildert hat, weiß ich, daß die berühmte Roman- und Bühnenfigur ein lebendes Urbild gehabt hat: gleichen Namens, gleichen Metiers, verwandten Schicksals. In der Gegend um Bojarka, zwanzig Kilometer vor der Stadt – es ist um die Jahrhundertwende die traditionelle Sommerfrische der wohlhabenden Kiewer.

Auch Salomon Rabinowitsch, 1859 als Sproß einer verarmten Gelehrtenfamilie im ukrainischen Perejaslav geboren, Absolvent des russischen Gymnasiums, Hauslehrer, Aushilfsrabbiner und angehender Börsenkaufmann, mit zwanzig seine Liebe für den Journalismus und die Schriftstellerei entdeckend und (unter der klassischen hebräischen Grußformel »Scholem Alejchem« als Pseudonym) Gazetten wie den »Hoisfreind« und das »Jidische Folksblat« beliefernd, mietet für seine Familie, die er – ihres beträchtlichen Umfanges wegen – »meine »Republik« nennt, allsommerlich eine Datscha am Waldrand. Je nachdem, wie die Geschäfte gerade gehen, ist es etwas Besseres oder Billigeres. Allzu komfortabel darf man sich die Sache ohnehin nicht vorstellen: eine grobgezimmerte Holzhütte mit vier, fünf Kammern, dazu eine Kochstelle auf dem nackten Erdboden. Kein Licht, das Wasser vom Dorfbrunnen. Doch für drei Monate würzige Waldluft, ein Badeteich und für die Kinder die Aussicht, den sonst von seiner Arbeit absorbierten Vater Tag für Tag um sich zu haben. Mitte Mai zieht man hinaus, Mitte August geht’s zurück in die Stadt – einen gemieteten Pferdewagen voll mit den nötigsten Möbeln, Bettzeug und Küchengerät, auf dem Kutschbock neben dem Fuhrwerker Babuschka, das Kindermädchen.

Gewisse Probleme macht die Nahrungsmittelbeschaffung. Der Dorfmarkt geht zwar über von den Hervorbringungen des fruchtbaren ukrainischen Bodens, ist aber ziemlich weit von den Sommerwohnungen entfernt – man müßte jedesmal eine Droschke mieten, und das verteuert die Sache erheblich. So ist man darauf angewiesen, daß einem die Waren ins Haus zugestellt werden. Soweit es das Geflügel betrifft, ist vorgesorgt: Baba, eine Bäuerin aus dem Umkreis, das kreischende Federvieh unterm Arm, ist eine verläßliche Lieferantin. Mit dem Gemüse verhält es sich schon schwieriger. Man kann zwar die Bauern, die mit ihren Karren zum Markt ziehen, auf der Straße anhalten, aber mit ihnen Abschlüsse zu tätigen, ist eine ziemlich aufreibende Angelegenheit. Sie haben von ihrem Gutsherrn den strikten Auftrag, pro Wagenladung drei Rubel zu kassieren, und das ist die einzige Rechnung, deren sie fähig sind. Ganz egal also, ob es ihre gesamte Ware ist oder nur ein paar Krautköpfe: Sie beharren stur auf ihren ein für allemal eingelernten drei Rubel.

Ganz anders der Milchmann. Er ist ein Jude aus einem der Nachbardörfer – im Winter bringt er seine Produkte auf den Markt nach Kiew, in der warmen Jahreszeit versorgt er die Ferien-Datschas mit süßem und saurem Rahm, mit Käse, Butter und Milch. Man nennt ihn Tewje – nach dem alttestamentarischen Tobias, er ist ein freundlicher und umgänglicher Mann, seine Waren genießen den besten Ruf, und da er Sommer für Sommer die stets gleichen Stammkunden beehrt, ist er obendrein eine unerschöpfliche Nachrichtenbörse, die man gern zu einem kleinen Plausch ins Haus lädt. Mit Scholem Alejchem verbindet ihn noch eine weitere Eigenart: die Gewohnheit, seine Reden mit Zitaten aus den heiligen Schriften, aus den jüdischen Festgebeten, aus den »Sprüchen der Väter« auszuschmücken und sich so einen Anstrich frommer Gelehrsamkeit zu geben. Daß er dabei den hebräischen Sentenzen mitunter einen ganz anderen Sinn unterlegt, nämlich den, der ihm gerade paßt, ist für den Dichter, der sich so manche dieser Köstlichkeiten ins Notizbuch schreibt, eine Quelle reinen Vergnügens. Kein Wunder, daß dieser Tewje von vielen seiner Kunden bald wie ein Familienmitglied betrachtet wird, daß jeder seine Lebensgeschichte kennt, jeder an seinem Schicksal Anteil nimmt und daß ein Dichter eines Tages auf diese Lebensgeschichte und auf dieses Schicksal als Rohstoff für sein nächstes Werk zurückgreift.

1895 erscheint im jiddischen »Hoisfreind« die »erschte Derzehlung vun Tewje dem Milchiken«, im Jahr darauf folgt – nun schon eine veritable Geschichtensammlung – die Buchausgabe. Natürlich findet sie auch in Bojarka ihre Leser – und so bleibt es nicht aus, daß eines Tages auch der Mann, der dafür Modell gestanden ist, davon erfährt. Es ist ihm übrigens gar nicht recht: Babuschka, dem Kindermädchen im Hause Rabinowitsch, klagt er sein Leid: wie ihn die Leute nun überall auslachten und »Tewje, der Milchiker« hinter ihm herriefen. Schließlich findet er sich doch damit ab – vor allem, als er merkt, daß seine plötzliche Berühmtheit auch pekuniär zu Buche schlägt. Zu seinen alten Kunden stoßen neue hinzu – bloß, um sich damit brüsten zu können, mit der populären Romanfigur persönlich bekannt zu sein.

1905 hat es damit ein Ende – zumindest für den Dichter. Scholem Alejchem, nach dem großen Kiewer Pogrom verarmt und entmutigt, verläßt seine Heimat Ukraine und wandert nach Amerika aus. Er schreibt zwar weiter an seinen Tewje-Geschichten und besorgt auch noch selber deren Dramatisierung, doch statt aus dem unmittelbaren Erleben schöpft er nun aus der Erinnerung. 1916, in seinem Todesjahr, kommt die Buchausgabe letzter Hand auf den Markt, 1921 übersetzt sie Alexander Eliasberg ins Deutsche, nach dem Zweiten Weltkrieg folgt die englische Fassung – und damit ist es nur mehr einen Schritt zum Libretto des Broadway-Musicals »Fiddler on the Roof« …

Olga, deren Stadtführung ich mich anvertraue, gibt das Programm für den nächsten Tag bekannt: Pionierpalast, Bootsfahrt auf dem Dnjepr, Abendessen im Ausflugsrestaurant Prolisok. Bei den Punkten 1 und 2 stehle ich mich davon, dafür werde ich beim Nachtmahl mein Mindestsoll an Gruppendisziplin erbringen. Das Lokal liegt in einem Kiefernwald vor der Stadt – wer dem Naturnahen den Vorzug gibt vor der Hektik des Wolkenkratzerhotels am Taras-Schewschtschenko-Boulevard, mag hier seine folkloristischen Bedürfnisse befriedigen.

Im Restaurant ist an diesem Abend für drei Gruppen gedeckt: Griechen, Japaner und wir Österreicher. Die Tische biegen sich unter den Köstlichkeiten der ukrainischen Küche. Schweres Tongeschirr. Wodka, Bier, Sekt, Mineralwasser. Der Hellas-Tisch singt Heimatliches; Nippon, wie gewohnt, imitiert. Was ist mit Austria? Aufforderungen hängen in der Luft, schon hat die kleine Japanerin an meiner Seite ihr begehrliches »Johann Strauß« gelispelt. Da kommt die Rettung: Die hauseigene Musikkapelle hält Einzug: Geige, Cimbal und Baß – dazu zwei Gesangsstimmen. Sängerin und Sänger mit verteilten Rollen: er das melancholische, sie das lebfrisch-auferbauliche Element vertretend. Zu vorgerückter Stunde nimmt Olga Melodienwünsche aus dem Publikum entgegen. Na, was ist? blickt sie mich herausfordernd an. Sonst immer so naseweis – und nun auf einmal kleinlaut? »Wenn ich einmal reich wär’ …«: Tewjes Lied läge mir auf der Zunge. Aber soll ich es wagen? Was hätte es für einen Sinn, haben sie je davon gehört? Wäre dies ein westliches Lokal, sie würden ihre Gäste damit peinigen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Hier aber, im Tewje-Land, ist der Musical-Ohrwurm made in USA so gut wie unbekannt.

Am nächsten Morgen, in aller Herrgottsfrühe, Streifzug durch die Bauernmärkte der Zwei-Millionen-Stadt. Am Ende der Kiewer Prachtstraße Krestschatik befindet sich der größte, an der Gorki-Straße, auf der Höhe der neuen Ukraina-Konzerthalle, der malerischste, an der Worowski-Allee, wenige Schritte vom Hotel entfernt, der gemütlichste. Hier halte ich nach den heutigen Tewjes Ausschau, ich brauche nur dem Aroma ihrer Produkte zu folgen. Gemüse und Obst dominieren, Pilzmänner tragen knielange Ketten aus Getrocknetem um den Hals – man darf alles anfassen, an allem riechen, alles kosten, alles zu teuer finden und alles zu schlecht. Denn dies ist keine Supermarktware, hier steht noch immer der gute alte Muschik vor den Erträgnissen seines eigenen Bodens: jenes halben Hektars, den ihm auch der seinerzeitige Kolchosen-Kommunismus nicht genommen hat. Seinen Salat als wurmig, seine Gurken als ausgetrocknet und seine Kartoffeln als seifig abzuqualifizieren, ist demnach keine Beleidigung, sondern Verhandlungstaktik mit dem Zweck, einen kulanten Preis herauszuschinden – für eine Ware, von der natürlich auch die kritischste Hausfrau ganz genau weiß, daß sie um vieles besser ist und frischer als die Einheitsartikel aus der öden Ladenkette »Gastronom«.

Beim Milchmann treiben sie’s besonders bunt. Da wird gefeilscht und moniert, geschnuppert und probiert, da werden Grimassen gezogen, als gälte es, das pure Gift zu schlucken, und je nach dem Festigkeitsgrad der Käsesorte wird die geforderte Kostprobe als Brösel in die Handfläche oder als Tupfen auf den Handrücken appliziert. Entschließt man sich zum Kauf, so wird die Ware in einem der vielen Behälter versenkt, die die Kundin in ihrer Einkaufstasche bereithält: Töpfe, Näpfe, Krüge, Kannen.

Mit einer der Marktfrauen, die ein paar Brocken Deutsch kann, komme ich ins Gespräch. Jawohl, auch Bojarka (das der Dichter Boiberik nennt) ist unter den Ortschaften, die die Kiewer Bauernmärkte beliefern. Nur Tewje – so heißt dort heute keiner mehr; die paar Juden, die noch auf dem Land siedeln, haben sich längst ukrainische Namen zugelegt, sind voll assimiliert, wollen nicht an ihre Herkunft erinnert werden, nein danke, bloß das nicht, es ist auch so schon schwer genug.

In einem vergilbten Baedeker von 1892 finde ich das Wort vom »Jerusalem Rußlands«: sechzig christliche Kirchen und vier jüdische Bethäuser habe es im Kiew der Zarenzeit gegeben. Geblieben sind zehn; zwei von ihnen, die berühmte Sophienkathedrale aus dem elften Jahrhundert, und die Andreaskirche, eine Schöpfung Rastrellis, des Erbauers von Petersburg, schaue ich mir an. Dann klettere ich den Andreashang hinab: am Haus Nr. 13 vorbei, der Turbinschen Wohnung. Hier hat Bulgakow gelebt, hier spielt sein Bürgerkriesgsroman »Die weiße Garde«. Häuser, die unmittelbar vorm Abbruch stehen, Kopfsteinpflaster, von einer Zwei-Mann-Brigade behelfsmäßig ausgebessert, ein Mädchen, das hinter seiner Staffelei sitzt und mit Wasserfarben eine Alt-Kiewer Vedute festhält – für die Zeit »danach«, wenn eines Tages auch hier gesichtslose Betonblocks in den Himmel ragen werden.

An der nächsten Straßenecke wieder eine Scholem-Alej -chem-Assoziation: der Kwas-Wagen. Im »Tagebuch eines Knaben« steht die Geschichte vom älteren Bruder Elia, der in der Zeitung das Inserat von der wunderträchtigen Erfolgsfibel liest: »Hundert Rubel monatlich und mehr kann jeder verdienen, der sich mit dem Inhalt meines Buches vertraut macht. Preis ein Rubel einschließlich Zusendung. Eilt! Kauft! Erfaßt den Augenblick, sonst kommt ihr zu spät!« Elia bestellt die Schwarte und erprobt sämtliche Rezepte, mit deren Hilfe man auf so geheimnisvolle Weise reich wird. Eines davon betrifft die Herstellung von Kwas: ein billiges, leicht säuerlich schmeckendes Erfrischungsgetränk aus Schwarzbrotteig, Honigsirup und Zitronenschalen. Elia bereitet es hinter verschlossenen Türen in der Wohnstube zu, damit ihm niemand das Geheimnis der Zusammensetzung abluchsen kann, und schickt seinen kleinen Bruder mit dem fertigen Produkt auf die Straße, in der einen Hand den Krug, in der andern das Trinkglas. Entnimmt einer aus der Familie ein Glas für den eigenen Bedarf, so gilt die Regel, den entstandenen Verlust unverzüglich durch das gleiche Quantum Wasser auszugleichen, und besonders ökonomisch denkende Familienmitglieder schütten sogar die doppelte Menge nach, solcherart für weitere Mehrung der Substanz sorgend. Diese hübsche Geschichte fällt mir ein, als ich nun den dickbauchigen Kwas-Wagen vor mir sehe: auf seinem Schemelchen der Abzapfer, bedrängt von einer Schlange Durstiger mit dem obligaten Zehn-Kopeken-Stück in der Hand. Ob ich von der hübschen Szene ein Photo mache?

Ich setze meinen Weg fort, nun schon mitten im Podol. Dies war einst die Handelsstadt, zusammen mit dem Lybed-Vier-tel im Süden der jüdische Bezirk. In der Schekowitzkastraße, hinter Alleebäumen versteckt, finde ich die Synagoge – es ist die letzte im Distrikt Kiew. Das Tor zum Hof ist angelehnt, in der Mazzes-Backstube treffe ich auf den Kultusdiener: ein abgehärmter, blaßhäutiger Greis. Sogleich ruft er nach dem Präsidenten der Gemeinde: massig, vital, extrovertiert. Ein dritter, für einen Moment aus seinen hebräischen Schriften aufblickend, bietet mir seinen Sitz an. Man begegnet dem Goj mit Neugier, jedenfalls ohne Mißtrauen, natürlich die obligate Frage nach dem Geburtsjahrgang. Immerhin: Der Name Tewje zaubert einen versonnenen Zug in ihr Lächeln. In der Synagoge werden unterdessen die Lichter aufgedreht, ich bekomme das vorgeschriebene Käppchen aufgesetzt. Der Schrank mit den alten Talmudbänden, die Schulbänke der Chejder-Jingln – noch 1959 bekannten sich 154 000 Kiewer zum mosaischen Glauben, beinah 14 Prozent der Gesamteinwohnerschaft der Stadt. Dann kam der Aderlaß – diesmal ein freiwilliger, ein zum Glück unblutiger: der Emigrationsstrom ins Gelobte Land. Doch was hiergeblieben ist, reicht noch immer aus, am Sabbat das Bethaus zu füllen, und beim Jom-Kippur-Fest drängen sie sich gar zu Hunderten bis auf Hof und Straße. Ich erzähle ihnen vom Milchmann Tewje, hinter dem ich her bin, und sie finden es erstaunlich, daß einer wegen so etwas zu ihnen komme, von so weit her noch dazu, dann habe es mir bestimmt auch der Schneider Lasik Roitschwantz angetan, und ich sage nein, mit Ilja Ehrenburg käme ich nicht so gut zurecht, da sei mir doch einiges ziemlich unheimlich, bleiben wir bei Scholem Alejchem, und sie schreiben mir auf einem Zettel zwei Adressen auf – gleich in russisch, damit’s der Taxichauffeur lesen kann: die Wohnung des Dichters und die nach ihm benannte Straße.

Die Scholem-Alejchem-Straße befindet sich in einem der weitläufigen neuen Wohnviertel am andern Ufer des Dnjepr – ich habe Zweifel, ob deren Bewohner mit dem Namen etwas anzufangen wissen. Immerhin ist er noch nicht gänzlich aus dem offiziellen Gedächtnis der Stadt getilgt, und für die Marmortafel am Wohnhaus hat man sogar Goldbuchstaben gewählt.

Zweite Etage rechts – das war Scholem Alejchems Logis. Von hier zog er mit seiner Familie Sommer für Sommer in die Miet-Datscha im zwanzig Kilometer entfernten Bojarka. Jetzt ist in dem Haus ein Postamt untergebracht. Ich sehe mich in der Schalterhalle um: Stuckdecke und falsche Säulen, Blattpflanzen und Ventilator, Federhalter und Tintenfaß. Die Beamten hantieren noch immer mit dem mechanischen Rechenbrett – für unser Empfinden mehr Spielzeug als Arbeitsgerät –, hier ist auf eine anheimelnde Weise die Zeit stehengeblieben. Ich habe keine Mühe, mir vorzustellen, wie Scholem Alejchem zur Tür hereintritt und sein neuestes Manuskript aufgibt: der buschige Schnauzbart, das Haupthaar tief im Nacken, Stehkragen und Gehrock. AltKiew – »Jehupez« nennt es der Dichter in seinen Büchern: »eine Stadt, in der Juden nicht wohnen dürfen, außer sie sind ›privigeldiert‹.

Auf nach Bojarka – Scholem Alejchem macht daraus im Tewje-Roman einen Ort namens Boiberik. Ich brauche nur am Autobusbahnhof vorbei in die Straße der Oktoberrevolution einzubiegen, schon bin ich in der gewünschten Richtung. Der Eislaufplatz, eine zum Touristenlokal aufgeputzte Windmühle, die letzten Wohnblocks, schließlich das Schild mit dem durchgestrichenen Kiew. Die Stadtgrenze ist erreicht. Die Ausfallstraße nach Odessa ist von ebenem Grünland gesäumt, gleich in einer der ersten Ortschaften die Abzweigung nach Bojarka. Quer über den Asphalt ist ein Desinfektionsstreifen gelegt: Maul- und Klauenseuchenalarm. Und da sind auch schon die ersten Rinder mit ihrem Hirten: einer für alle. Die Bauern mieten und bezahlen ihn gemeinsam – gleich für die volle Saison. Beim Friedhof halte ich an: lauter ukrainische Namen. Jüdische Gräber gibt es erst weiter drinnen im Land – eine Frau erinnert sich an den Namen des Dorfes: Wassilkow.

Bojarka: Bretterzäune, dahinter Gemüsegärten, geduckte Wohnhütten. Alle hundert Schritte ein Brunnenhaus, überdachte Gemeinschaftsbriefkästen, der Bahnhof, ein Speiselokal. Die Kirche: heruntergekommen, aber noch in Betrieb. Nur die Hauptstraße asphaltiert, alles übrige Kraterlandschaft, Staub. Die Datschas am Waldrand, schon damals nicht das Stabilste, haben modernen Wohnblocks Platz gemacht, die alten Badeteiche taugen nicht mehr; wer heute aus Kiew in die Sommerfrische fährt, hat ein Auto und kann Entfernteres anpeilen.

Hinter der Schule, gründerzeitlich getürmt, höre ich Lautsprecherstimmen. Es ist ein heißer Juninachmittag, die Maturantenfeier findet unter freiem Himmel statt. An einem langen Tisch der Lehrkörper, davor in mehreren Bankreihen die Absolventen mit ihren Eltern. Alles im Sonntagsstaat: die Mädchen in Weiß, halb Erstkommunion, halb Brautschaft, die Burschen dunkelgewandet, die Mütter frisch vom Friseur, alles in allem erstaunlich bürgerlich, fast altmodisch. Die Frau Direktor im blau Geblümten hält die Festrede, es klingt sehr energisch, sehr nach Parolen fürs Leben. Dann werden nacheinander die Kandidaten aufgerufen, die Schulkapelle spielt einen Tusch, kurzes rhythmisches Klatschen des Auditoriums, Aushändigung der Zeugnisse, Diplome und Medaillen, ein Wangenkuß für die Mädchen, ein Händedruck für die Burschen. Dazu werden Blumen verteilt, auch für mich fällt eine ab: Man freut sich über den fremden Gast.

Die Feier ist beendet, freundlich wendet sich mir eine der jüngeren Lehrerinnen zu. Sie deutet auf die Baracke hinter der Schule, dorthin möge ich ihr folgen. Wieso stellt sie mir keine einzige Frage nach meinem Begehren? Ist es möglich, daß sie mich längst durchschaut hat, längst meine Interessen erraten? Sollten Scholem Alejchem und sein Milchmann Tewje am Originalschauplatz der Story doch noch Anwert, ja Ruhm genießen? Wir betreten das Innere der Baracke: Bücher, Bilder, Büsten und Vitrinen – ist’s denkbar: ein Scholem-Alejchem-Museum? Meine Begleiterin dreht das Licht auf, gleich wird sie mit ihrem Vortrag beginnen. Ein Trupp junger Männer, die irgend etwas mit Eisenbahnbau, mit Baumfällen, mit Holztransport zu tun haben – die Lehrerin, nun schon reichlich Pathos in der Stimme, deutet auf das große Ölbild an der Wand: Jungdichter Nikolai Ostrowski, wie er im Winter 1920/21 mit einer Schar Komsomolzen in den Wäldern von Bojarka Holz fällt, ein sechs Kilometer langes Anschlußgleis zur Bahnstrecke legt und das frierende Nachkriegs-Kiew mit Brennmaterial versorgt. Er ist der Held von Bojarka, seinen Namen trägt die Schule, ihm ist auch das Museum gewidmet, die Schüler selber haben es eingerichtet, jetzt läuft sogar ein Antrag, den Ort in Ostrowski-Stadt umzubenennen. Bin ich enttäuscht? Fühle ich mich gefoppt? Oder komme ich mir im Gegenteil beschämt vor: hier ein Dichter, der tatkräftig zupackt, wo es ums nackte Überleben seiner Mitbürger geht, dort das bißchen Einzelschicksal eines jüdischen Wanderhändlers?

Nein, nein, es ist schon in Ordnung: Tewje – das ist in Wahrheit weit mehr als bloß dieser eine, hinter dem ich her bin, es ist der Archetypus des ewigen Juden, der ständig verjagte, ständig neu hoffende. Tewje – das ist Getto und Pogrom. Podol und Babij Yar. Der moderne Hiob. Chagall hat ihn gemalt. Der Fiedler auf dem Dach – in Bojarka, in Anatevka, im »Schtetl« Irgendwo: »Jeder von uns ist ein Fiedler auf dem Dach. Jeder versucht, eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich dabei das Genick zu brechen.«

In Bojarka, so erfahre ich, hat Tewje seine Kunden besucht, im Nachbardorf Sabirja (im Buch: Masepowka) hat er gewohnt. Ich solle nur nach dem alten Lehrer fragen, der wisse Bescheid.

Diesmal muß ich auf Feldwege ausweichen, die Veterinärbehörde hat die Straße gesperrt. Rinder an ihren Wasserstellen, Frauen, die in Milchkannen Walderdbeeren nach Hause tragen, hie und da noch eine strohgedeckte Wohnhütte aus alter Zeit. Endlich, in Erdstaub eingehüllt, das Dorf. Es wird Abend, die Leute sitzen vor den Häusern. Neben der niedergerissenen Schule, von Katzen umspielt, die Hütte des Lehrers. Wladimir Nikolajewitsch, ein Apostelkopf von Ende siebzig, nun schon viele Jahre außer Dienst. Er hat Freude an meinem Besuch – ich bin der erste, der ihn nach Tewjes Verbleib fragt. Einmal waren Amerikaner da, auch eine der Scholem-Alejchem-Töchter hatte sich brieflich angesagt – und war dann doch nicht gekommen. Wladimir Nikolajewitsch zeigt sich über die Biographie des Tewje-Urbildes vorzüglich informiert, und da er am Rande einer deutschen Kolonie im Kaukasus aufgewachsen ist und seine Geschwister die deutsche Schule besucht haben, fällt auch die Verständigung mit ihm leicht.

1870 sei Tewele – so habe man ihn in Wirklichkeit genannt – aus dem Nachbarort Malucienka nach Sabirja gekommen. Klein von Wuchs, schmächtig, üppiger krauser Bart – so habe ihn die Überlieferung in Erinnerung. Sein einziger Besitz: ein Pferd. »Ein gutes Pferd.« Das habe er vor seinen Karren gespannt, und so sei er von Stall zu Stall gezogen und habe den Bauern ihre Milch abgekauft. In seiner Hütte – zunächst noch ein bloßes Erdloch mit Strohdach – verarbeitete er den eingesammelten Rohstoff zu Butter, Käse, Rahm. Im nahen Bojarka, in den Sommerquartieren der reichen Kiewer, fand seine Ware reißenden Absatz, bald konnte er sich ein besseres Haus leisten. In Ignatovka, dem Sitz des Rabbiners (der Dichter macht daraus Anatevka), wurde geheiratet. Doch die Ehe, anders als im Buch, war nicht von Dauer: Golde, genannt »Gudja«, machte auch anderen jungen Männern schöne Augen, und so jagte Tewje sie auf und davon. Auch mit der zweiten klappte es nicht, erst die dritte, abermals eine Golde, trug ihren Namen zu Recht. Sie schenkte ihm zwei Töchter (keine sieben): Manka und Rebekka; Aaron, den Sohn aus erster Ehe, hatte eine Amme aus der Nachbarschaft aufgezogen. 1905, als die zaristischen Pogrombanden durchs Land zogen und auch Tewele die Fenster einschlugen, zog er für kurze Zeit zum Sohn nach Kiew. Sobald sich die Situation beruhigt hatte, kehrte er wieder in sein Dorf zurück, bis er sich 1912, unterdessen zum Greis gealtert, endgültig in der Hauptstadt niederließ. Ein jüdischer Schmied übernahm Teweles Haus – sorgsam all die Jahre hindurch seines Vorgängers Betstube hütend, bis im Herbst 1941 auch in Sabirja die Deutschen einmarschierten und die örtlichen »Volksschädlinge« aus ihren Häusern holten. Tewele, dem Milchmann, blieb dieses Schicksal erspart: Er ist während des Ersten Weltkriegs gestorben.

Wie ich es wohl anstellen werde, sein Grab zu suchen, wo ihn doch keiner bei seinem Familiennamen gekannt hat, er für alle immer nur »der Tewele« gewesen ist? Popularität, die geradewegs in die Anonymität führt. Und außerdem: Würde es denn überhaupt noch existieren?

Tags darauf, wieder in Kiew, lasse ich mich mit dem Taxi in den Vorortbezirk Lukjanovka bringen – dort lagen früher die Friedhöfe. Teile des christlichen Sektors sind noch erhalten, man kann an ihren Grabsteinen gut den Lauf der Geschichte ablesen: die Prunkgrüfte der Belle Epoque, dann die schlichten silbergrauen Gußeisenkreuze der ersten nachzaristischen Zeit, schließlich die Obelisken mit dem roten Stern. Den jüdischen Friedhof hat Hitlers SS dem Erdboden gleichgemacht, die Ausrottung der Lebenden war ihr nicht genug. Die Massakerstätte Babij Yar, der Jewtuschenko sein berühmtes Gedicht gewidmet hat, befindet sich in unmittelbarer Nähe – ich brauche mich nur am neuen Fernsehturm zu orientieren. In dem kleinen Waldstück jenseits der Friedhofstraße stolpern nächtliche Liebespaare bisweilen über einen Steinbrocken, der, wenn sie näher hinsehen würden, hebräische Schriftzeichen trägt. Da ein Sockel, dort ein Stückchen Grabplatte, vielleicht noch ein Restchen marmorner Girlande. Ein paar Zahlen, die kein Lebensdatum, ein paar Silben, die keinen Psalm, ein paar Buchstaben, die keinen Namen mehr ergeben. Und wenn sie es täten: Es sagte unserem Liebespaar wohl nicht viel. Denn von Tewje, dem Milchmann, hat ihnen keiner etwas erzählt.

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