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Vorwort

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»Ich habe es mir einfach nicht träumen lassen …«

Der Kellner des Gasthofes ›Zum Elephanten‹ in Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis.« Nach 44 Jahren strikter Absenz war »die Hofräthin Witwe Charlotte Kestner, geb. Buff«, Goethes Wetzlarer Jugendschwarm und »Modell« der Werther-Lotte, der Versuchung erlegen (Stefan Zweig nennt es eine »süße Torheit«), den Theseus ihrer Mädchenjahre wiederzusehen: »Lotte in Weimar«. Thomas Mann wird 1939 dem »wahrhaft buchenswerten Ereignis« einen seiner vergnüglichsten Romane abgewinnen.

Dem Kellner Mager, ein »Mann von Kopf«, eine »von jung auf literärische Seele, wohlbelesen und citatenfest«, den die unverhoffte Konfrontation mit dem »geheiligten Wesen« gänzlich aus der Fassung bringt, räumt der Dichter fast das gesamte erste Kapitel ein. »Das Haus hat also die Ehre und die unschätzbare Auszeichnung, die wahre und wirkliche, das Urbild, wenn ich mich so ausdrücken darf –« stammelt der vor Ehrfurcht Erschauernde und unternimmt alles, die Formalitäten der Ankunft künstlich in die Länge zu ziehen, um der »Begegnung mit einer vom Schimmer der Poesie umflossenen Persönlichkeit« das Äußerste abzugewinnen, »die hier waltende Identität und die sich eröffnende Perspective« auszukosten: »Es ist nicht gemeine und unstatthafte Neugier.«

Was also ist es dann?

»Es ist einem beschieden, an der Quelle selbst – man muß es wahrnehmen, man darf es nicht ungenützt –«: Wieder geraten ihm im Taumel der Erregung die Worte außer Kontrolle: »Ich habe es mir einfach nicht träumen lassen.«

Eine lächerliche Figur, dieses Faktotum Mager – auf einer Stufe stehend mit Klatschmaul, Promi-Groupie und Autogrammsammler?

Wohl kaum. Hat es der Thomas-Mann-Leser denn nicht immerhin mit einem Mann zu tun, der auf präzise Kenntnis jenes Werkes verweisen kann, dessen »weltberühmte und unsterbliche Heldin« ihm nun »in voller Leiblichkeit« gegenübersteht? Wie oft haben er und »Madame Mager« sich »bei der Abendkerze mit zerflossenen Seelen über die himmlischen Blätter gebückt«!

Man wird ihn also lediglich in seinem unbändigen Gleichsetzungsdrang bremsen müssen: »Mein lieber Herr Mager, Sie übertreiben gewaltig, wenn Sie mich oder auch nur das junge Ding, das ich einmal war, einfach mit der Heldin jenes vielbeschrienen Büchleins verwechseln.«

Dann aber wird man wohl einräumen dürfen: Es hat schon seinen besonderen Reiz, den Blick auf das reale Alter ego einer literarischen Figur zu richten – was immer von jenem in diese eingeflossen sein mag: ein paar flüchtige Züge nur oder aber der ganze Mensch. Alles ist möglich: vom zarten Farbtupfen bis zur vollkommenen Abbildung, von der behutsamen Verfremdung bis zur radikalen Umformung, von der Kunstfigur bis zum Prototyp. Im Umgang mit dem der Wirklichkeit abgewonnenen Rohmaterial hat der Dichter freie Hand. Ob man ihm dabei über die Schulter blicken darf?

Verlockend ist es allemal: Wie war das doch gleich mit der »echten« Effi Briest? Wer verbirgt sich hinter Ibsens Hedda Gabler, hinter Schnitzlers Leutnant Gustl, hinter Brechts Puntila? Wie kamen Scholem Alejchem zu seinem Milchmann Tewje, Franz Werfel zu seiner Teta Linek, Heinrich Mann zu seinem »Blauen Engel«? Und überhaupt: Was sind das für Menschen, die in die Literatur eingehen – Auserwählte? Oder aber Durchschnitt: Leute wie du und ich? Tun sie selber etwas dazu, oder passiert »es« einfach? Und wie wirkt »es« auf sie zurück? Zahlt ihnen der Schriftstellerverband eine Leibrente, gehen sie fortan stolzerhobenen Hauptes durchs Leben oder im Gegenteil aufs schwerste verunsichert – wie Schlemihl, dem sein Schatten abhanden gekommen ist?

Thomas Manns Tadzio – ist er nicht einem Knaben nachgezeichnet, dem der Dichter in jungen Jahren tatsächlich am Lido von Venedig begegnet ist? Wie wär’s, man nähme seine Spur auf? Die Lara aus Boris Pasternaks »Doktor Schiwago« – auch da hat man irgendwann von persönlichen Nahverhältnissen gehört. Und der verkrüppelte Bettler Porgy aus den Slums von Charleston – richtig: Sogar er hat leibhaftig gelebt. Auf nach Amerika!

In keinem Adreßbuch der Welt wird man die Namen Sara-stro oder Madame Butterfly finden. Nachreisen kann man ihnen trotzdem. In Brechts »Hauspostille« steht eines der seltsamsten Liebesgedichte deutscher Sprache: »Erinnerung an die Marie A.« Die Dame ist kein Phantom. Nur klammern Sie sich nicht an das A – die Augsburger Jugendliebe des Dichters hat in späteren Jahren einen anderen geheiratet. Hinter Nathan dem Weisen lugt der mit Lessing befreundete Philosoph Moses Mendelssohn hervor; die Titelfigur aus Joseph Conrads Roman »Almayers Wahn« ist einem niederländischen Handelsmann namens William Charles Olmeyer abgeschaut, der dem Autor 1887 in Borneo über den Weg gelaufen ist. Und dem Münchner Kaufmannssohn Maximilian Kronberger setzt Stefan George mit der zum Gott erhobenen Gestalt des Maximin ein bleibendes Denkmal.

Kein Berufsstand, der von den höheren Weihen literarischer Verewigung ausgeschlossen bliebe: Als Wilhelm Busch seine »Fromme Helene« kreiert, gehen seine Gedanken zurück zu jener Marie Euler, die ihm in seinen Frankfurter Jahren 1869–1872 den Haushalt besorgt hat. In die Figur des Schwejk fließen mancherlei Züge des Prager Offiziersburschen Strašlipka ein, der demselben 91. Infanterieregiment angehört, in dem auch Autor Jaroslav Hašek seinen Militärdienst ableistet. Und das Mädchen Piroschka, das in Hugo Hartungs Nachkriegsbestseller dem deutschen Austauschstudenten Andreas den Kopf verdreht, hat sogar in Wien Spuren hinterlassen: In der Rodauner Klosterschule Santa Christiana hat Katalin Késöi aus Hódmezövásárhely ihr amüsantes Ungarndeutsch gelernt. In der Gruft des zum Hospital umgewandelten Schlosses im böhmischen Kuks sind die sterblichen Überreste jenes Reitergenerals Spork beigesetzt, den Rilke in der »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« aufleben läßt, und der Pariser Prominentenfriedhof Père Lachaise hat seinen Namen von jenem Beichtvater Ludwigs XIV., den Molière in der Gestalt des Lüstlings Tartuffe auf die Bühne bringt.

Eine Zeitungsnotiz gibt Gustave Flaubert den Anstoß zu seinem Roman »Madame Bovary«: Es ist die Nachricht vom Selbstmord einer gewissen Delphine Delamare, Gattin eines Landarztes aus der Gegend um Rouen, die aus Langeweile zur Ehebrecherin wird, sich in Schulden stürzt und schließlich keinen anderen Ausweg sieht, als den Giftbecher zu leeren. Doch was macht der Dichter nicht aus dem banalen »sujet terre-à-terre«! So sehr geht er in dem Stoff auf, daß er bei Abschluß seiner Arbeit, nach der »wahren« Emma Bovary gefragt, ohne jedes falsche Pathos antworten kann: »C’est moi.« Modell und Autor werden eins.

Ähnlichen Ursprungs ist die Fabel von Heinrich Manns »Professor Unrat«; in seiner Autobiographie »Ein Zeitalter wird besichtigt« gibt der Dichter bereitwillig zu Protokoll, wie er 1904 während eines Aufenthaltes in Florenz einer Vorstellung im Teatro Alfieri beiwohnt und in der Pause eine Zeitung kauft: »Darin las ich die Geschichte, die dereinst ›Der blaue Engel‹ heißen sollte … In meinem Kopf lief der Roman ab – so schnell, daß ich nicht einmal bis ins Theater-café gelangt wäre. Ich blieb versteinert sitzen, bemerkte dann, daß der Vorhang wieder offen war, und so viel Beifall aus dankbarem Herzen hat nicht oft ein Schauspiel von einem einzelnen Gast erhalten.«

Auch Robert Musil schöpft aus der Tagespresse: Die Berichte über den Zimmermann Christian Voigt, der 1910 im Wiener Prater eine Prostituierte umbringt, zu lebenslänglichem Kerker verurteilt wird und im Gefängnis von Garsten seine Strafe absitzt, liefern dem Dichter die Konturen für die Figur des Sexualmörders Moosbrugger im »Mann ohne Eigenschaften«. Und der Lyriker Theodor Kramer verwertet die makabre Zeitungsmeldung von dem Burschen, der den Leichnam seines Vaters beiseite schafft, in seinem Zimmer einschließt und auf Eis legt, um die Rente des Verblichenen zu kassieren, zu der Ballade »John Holmes«.

Einer, der bei der »Materialbeschaffung« ganz seinem Glück vertraut, ist James Joyce: Es werde schon auf ihn zukommen, was er brauche. Als ihn für eine Weile eine Arbeitsflaute lahmlegt, reist der Dichter nach Locarno und macht dort die Bekanntschaft einer reichlich abenteuerlichen Dame, die ihn auf »ihre« Insel im Lago Maggiore einlädt. Zwei Monate später sitzt er wieder über dem Manuskript des »Ulysses«: Das Circe-Kapitel beginnt Gestalt anzunehmen …

Die Frage nach dem »Who is who?«, für die einen unstatthafte Neugier und somit verächtlich, für die anderen aufschlußreiche biographische Fußnote und somit legitimer Teil der Datensammlung, wird gestellt, seitdem es fiktive Literatur gibt und Menschen, die sie lesen. Manches davon ist gängiges Lexikonwissen: Hinter Hölderlins Diotima darf man Susette Gontard, die Mutter seiner Frankfurter Zöglinge, vermuten; in der Beatrice der »Divina Commedia« spiegelt sich Dantes florentinische Jugendliebe; von einem Türknauf im alten Bamberg läßt sich E.T.A. Hoffmann zur Märchenfigur des »Apfelweibes« inspirieren. Friedrich de la Motte-Fouqué begegnet als Besatzungsoffizier in der Weserstadt Minden der fünfzehnjährigen Elisabeth von Breidenbauch: Urbild seiner »Undine«; die Kellnerin jener Weinwirtschaft, mit der Schiller während seiner Dresdner Zeit anbandelt, kehrt in »Wallenstein« als »Gustel von Blasewitz« wieder; und daß Lessing seinem Freund Ewald von Kleist, fünf Jahre nach dessen Tod, mit dem Major Tellheim in »Minna von Barnhelm« ein Denkmal setzt, hat für den in die Angelegenheit eingeweihten Verleger Friedrich Nicolai sogar eine »ganz besondere Rührung«.

Nicht immer machen es die Dichter, die sich bezüglich der »Herkunft« ihrer Figuren in der Regel bedeckt halten, den Spurensuchern so leicht wie Arthur Schnitzler: Als der Zweiundvierzigjährige, von einem spektakulären Suizidfall im damaligen Wien aufgeschreckt, sein Schlüsselstück »Das Wort« zu Papier bringt, sind die meisten der handelnden Personen noch am Leben. Um sie zu »schonen«, gilt es also einen Dreh zu finden, die wahren Zusammenhänge zu verschleiern. Bei den Namen fängt’s an: Peter Altenberg wird einfach auf den Kopf gestellt, aus »alt« wird »neu«, aus »Berg« wird »Hof«. Aber auch »Neuenhof« ist dem Dichter noch immer zu deutlich, zu platt. Es wird also weitergedrechselt. Bis er schließlich bei »Treuenhof« landet. Anastasius Treuenhof.

Aus dem Erfinder Robert Fulton, der mit dem um 1800 von ihm konstruierten Unterseeboot Nautilus in die Geschichte der Kriegstechnik eingeht, formt Jules Verne in seiner Romanutopie »20 000 Meilen unter Meer« die Gestalt des Kapitäns Nemo, aus dem westfälischen Pfandleiher Soistmann Berend wird in Annette von Droste-Hülshoffs Novelle »Die Judenbuche« der Jude Aaron, aus dem nach Amerika ausgewanderten Wiener Bildhauer Karl Bitter in Gerhart Hauptmanns Roman »Atlantis« die Nebenfigur des Bonifazius Ritter. Auch Ernst Toller schöpft aus der eigenen Erlebniswirklichkeit: Hinter Sonja L., der Protagonistin seines Dramas »Masse Mensch«, versteckt sich die Frau eines namhaften Münchner Gelehrten, die sich 1918 tatsächlich mit einer Gruppe revolutionärer Arbeiter solidarisiert und dafür ihr Eheglück opfert.

Als im Oktober 1960 im Londoner Old Bailey der Lady-Chatterley-Prozeß abrollt, scheut der Vertreter der Anklage nicht davor zurück, die Titelfigur des inkriminierten Romans mit Frieda von Richthofen, der Gattin des Verfassers, gleichzusetzen. Die Folge: Frau von Richthofens Biograph Robert Lucas läßt die Lebensgeschichte des Lady-Chatterley-Urbildes mit dem Seufzer enden: »Arme Frieda! Vier Jahre nach ihrem Tod saß man über sie zu Gericht …«

Auch von Fällen, wo sich das »Modell« (oder dessen Nachfahren) offen mit der Nobilität literarischer Verewigung brüsten, weiß man: Wenn der Bredstedter Advokat Heinrich Momsen die Kupferstiche aus dem ererbten Familienbesitz abstaubt, tut er es im stolzen Bewußtsein, der Ururenkel jenes »nordfriesischen Kopernikus« Hans Momsen zu sein, der Theodor Storms Schimmelreiter Hauke Haien zum Verwechseln ähnlich sieht; die spanische Bürgerkriegskämpferin Dolores Ibárruri läßt es sich gern gefallen, in Hemingways Roman »Wem die Stunde schlägt« als Partisanin Pilar verherrlicht worden zu sein; die Berliner Dichtermuse Lisa Matthias plärrt, als sie sich dazu entschließt, ihre Memoiren zu schreiben, 325 Buchseiten lang »Ich war Tucholskys Lottchen«; begierig stürzen sich die Medien auf den englischen Bautechniker Ian Potter, nachdem Joanne Rowling ihren Spielkameraden aus Kindertagen in einem Interview als den »originalen« Harry Potter geoutet hat; und in der »Bassa« zwischen Po und Appenin, wo Giovannino Guareschi seine berühmten Schelmenromane spielen läßt, setzt alsbald ein heftiger Wettstreit unter den Dörfern der Region ein: Jedes will, als es um die Identifizierung des »echten« Don Camillo geht, den streitbaren Pfarrer für sich reklamieren … Nur die Frankfurter Bankiersgattin Marianne Willemer, die als Suleika in den »Westöstlichen Diwan« eingegangen ist, lüftet erst lange nach Goethes Tod das Geheimnis ihres Beitrags zur Weltliteratur.

Ganz anders Arnold Schönberg: Höchst unwirsch reagiert er auf die Entdeckung, im »Doktor Faustus« als Vorlage für den wahnsinnigen Komponisten Adrian Leverkühn »benützt« worden zu sein: Als er in einem Supermarkt seines Exilsitzes Pacific Palisades zufällig der Thomas-Mann-Vertrauten Marta Feuchtwanger begegnet, ruft er ihr grimmig nach: »Aber Syphilis hab ich nicht!« Heinrich Böll, sowieso allergisch gegen jeden Versuch, die Begriffe »fiktiv« und »dokumentarisch« gegeneinander auszuspielen, wehrt nach dem Erscheinen des Romans »Gruppenbild mit Dame« alle Fragen nach der Identität seiner Leni mit der lakonischen Auskunft ab: »Sie ist zusammengesetzt aus meiner Erfahrung mit Frauen in Krieg und Frieden.« Und Françoise Sagan, ihrerseits von »Aufdeckern« bedrängt, gibt sich blasiert: »Leute, die mir bereits bekannt sind, in meinen Romanen unterzubringen, würde mich zu Tode langweilen.«

Sie tut gut daran, denn das freimütige Eingeständnis des Schriftstellers, auf nachprüfbare Realien zurückgegriffen zu haben, birgt auch mancherlei Gefahren in sich. Der Bankier Stephan Jakobowicz, dem Franz Werfel die Fabel seiner Emigrantenkomödie »Jacobowsky und der Oberst« verdankte, erhob allen Ernstes den Anspruch, an den Tantiemen des Autors beteiligt zu werden, und um den »Onkel Franz« aus Thomas Bernhards Roman »Die Ursache« wurde monatelang prozessiert. Alphonse Daudet sah sich gezwungen, seinen »Barbarin de Tarascon« mit Rücksicht auf eine ortsansässige Familie gleichen Namens in einen »Tartarin« umzutaufen – so, wie sich ein Jahrhundert später Tennessee Williams von der Heldin seines Schauspiels »Süßer Vogel Jugend« trennen mußte: Das »Original«, die mit ihm persönlich bekannte Tochter eines griechischen Diplomaten, verlangte 50 000 Dollar Schmerzensgeld. Anders Max Frisch: Als er sich nach der Uraufführung seines Schauspiels »Graf Öderland« über manche allzu aktuelle Deutung ärgern mußte, sperrte er den vorliegenden Text für sämtliche Bühnen und entschloß sich zu einer Neufassung.

Die Grenze des Zulässigen ist dort überschritten, wo der Spurensucher leer ausgeht, sich jedoch darüber hinwegsetzt und sich kurzerhand seine eigene Wirklichkeit zurechtzimmert: Edmond Dantès, Alexandre Dumas’ »Graf von Monte Christo«, ist eine durch und durch erfundene Figur – ohne jede Anleihe aus der Wirklichkeit. Der Tourist, der nach Marseille kommt und sich zum Château d’If, dem Schauplatz des Romans, übersetzen läßt, wird gleichwohl in »seine« Kerkerzelle geführt.

Ja, es sind Fälle bekannt, wo sogar der Autor selber beim Phantomspiel kräftig mitmischt. Vier Jahre nach Erscheinen des »Baal« schreibt Brecht eine Art Nachwort, in dem er sich über den Ursprung seiner Figur ausläßt: »Es war ein gewisser Josef K., von dem mir Leute erzählt hatten, die sich sowohl an seine Person als auch an das Aufsehen, das er seinerzeit erregt hat, deutlich erinnern konnten. K. war das ledige Kind einer Waschfrau. Er geriet früh in üblen Ruf. Verschiedene dunkle Fälle, zum Beispiel der Selbstmord eines jungen Mädchens, wurden auf sein Konto gesetzt.

Brecht-Forscher haben sich der Mühe unterzogen, anhand der Augsburger Kriminalakten dem »wirklichen« Baal nachzuspüren. Es ist ihnen nicht gelungen. Inzwischen weiß man auch wieso: weil es diesen Tunichtgut Josef K. niemals gegeben, weil der Dichter die ganze Sache fingiert hat. Welches Interesse er an dieser quasi-historischen »Beglaubigung« haben mochte? Ganz einfach: Ohne realen Hintergrund, so mutmaßte Brecht, könnte sich der »große Baal« zum unverbindlichen Mythos verflüchtigen, das wollte er verhindern, und deshalb das unecht-echte Modell.

Auch das also gibt es.

Der Systematiker, der einmal den »Gotha« der literarischen Figuren zusammentragen und zum Lexikon bündeln wird, hat ein hartes Stück Arbeit vor sich: Sein Terrain ist unabsehbar weit – von der Helene Alving bis zum Großen Gatsby, von Forsyte bis Karamasow, vom Nymphchen Lolita bis zur Irren von Chaillot. Einigen wenigen unter ihnen bin ich gefolgt, lebenden wie toten. Einigen schon vor vielen Jahren, anderen in allerjüngster Zeit. Manchen aus bloßer Neugier, manchen aus alter Anhänglichkeit, manchen – gleich Mager, dem Kellner des Gasthofes »Zum Elephanten« in Weimar – im Überschwang des Entdeckerglücks: »Ich habe es mir einfach nicht träumen lassen.« Träumen Sie mit!

Sie haben wirklich gelebt

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