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»Flicki« und die Kühe

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Seit einiger Zeit ist der Trend gegenläufig: Man siedelt sich lieber wieder in den großen Städten an. Aber damals, in den Siebzigerjahren, war es unter Künstlern mit überdurchschnittlich hohem Einkommen Mode, aufs Land zu ziehen und in ausgewählten Gegenden zu bauen. Auch die aufwendige Adaption schon bestehender Liegenschaften – vor allem verlassener Bauernhöfe – war eine begehrte Option. Die Maler und Bildhauer machten den Anfang, einzelne Schriftsteller folgten. Auch Schauspieler zeigten sich bereit, größere Distanzen zu ihren Aufführungsorten in Kauf zu nehmen, wenn sie nur Lärm und Hektik der Großstadt hinter sich lassen und untertags Landluft atmen konnten.

In Österreich war es vor allem das Salzkammergut, wo es schon in früheren Zeiten unter Künstlern aller Sparten zur Tradition geworden war, sich ein naturnahes Refugium zu schaffen, das höhere Lebensqualität und zugleich bessere Arbeitsbedingungen versprach: der Schauspieler Rudolf Forster, der es liebte, auf den einsamen Wiesenpfaden »seines« Ausseer Hochplateaus seine Rollen zu memorieren; der Konzertpianist Clifford Curzon, der sich auf seinem Besitz am Attersee ein (von den Anrainern »Tobzelle« genanntes) Blockhaus errichten ließ, in dem er nach Herzenslust und zu jeder Tages- und Nachtzeit üben konnte; oder der Dichter Carl Zuckmayer, der in seiner »Wiesmühl« in der Wallerseegemeinde Henndorf so sehr im Landleben aufging, daß er von den dort gewonnenen Erfahrungen noch im amerikanischen Exil profitieren und in seiner neuen Heimat Vermont zum Farmer mutieren konnte.

Unter all den vielen »Ausreißern« ist die Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt diejenige, die bei ihrer »Stadtflucht« am konsequentesten vorgeht. Für sie, die berühmte »Magic Lady« des deutschen Theaters, Films und Fernsehens, ist der Bauernhof im Elbland nahe der niedersächsischen Kreisstadt Stade, den sie als Siebzigjährige 1975 bezieht, nicht nur ihr abgeschieden-kraftspendendes Tusculum, sondern auch ihr Arbeitsplatz: Ihre zehn Kühe, zwei Pferde und drei Hunde versorgt sie eigenhändig, und eigenhändig mistet sie den Stall aus, streut das Heu, läßt sich auf dem Melkschemel nieder und fährt die frischgewonnene Milch zur Molkerei. Daß die Theaterrolle, mit der sie vor 45 Jahren am Hamburger Schauspielhaus debütiert hat, die Bäuerin Armgard in Schillers »Wilhelm Tell« gewesen ist, ist daher für Elisabeth Flickenschildts Biographen nicht Zufall, sondern ein klares Signal, welcher Weg ihr vom Schicksal vorgezeichnet ist.

Die Hamburger Kapitänstochter mit der 45-jährigen Bühnen- und Filmkarriere ist, als sich diese dem Ende zuneigt, eine einsame Frau. Die Ehe mit dem Theaterwissenschaftler und Dramaturgen Rolf Badenhausen wird nach nur acht Jahren geschieden; der Dauerkontakt mit ihrer wichtigsten Bezugsperson, dem Regisseur und Intendanten Gustaf Gründgens, bleibt aufs Freundschaftliche beschränkt; Kollegenschaft und Publikum sind der einzige Umgang der als Privatperson kühl und distanziert agierenden Künstlerin. Ein Altersheim kommt für sie, als sie über die Planung ihres Lebensabends nachzudenken beginnt, nicht in Frage. Auch dem zu dieser Zeit in Deutschland einsetzenden Trend, sich auf seine alten Tage – Stichwort Mallorca – in den »sonnigen Süden« abzusetzen, mag sie nicht folgen. Schon in ihrer Autobiographie »Kind mit roten Haaren« hat sie diesbezüglich abgewinkt:

Wo sollte ich hingehen – nach Portugal, in den Libanon, an die spanische Küste, ins Tessin? Nein, danke. Das kenne ich alles. Das ist alles dasselbe. Und die Langeweile breitet sich aus wie eine Krankheit. Nein, ich mußte etwas finden, das zu mir paßte.

Dieses »etwas« findet die siebzigjährige Elisabeth Flickenschildt im bäuerlichen Leben in nächster Nähe ihrer Geburtsheimat. Sie will, wie sie es mit wechselndem Erfolg schon in früheren Jahren an verschiedenen Orten im süddeutschen und im angrenzenden österreichischen Raum versucht hat, nun im vertrauten Norden ihr Leben beschließen. Was dabei eine besondere Rolle spielt, ist die geradezu obsessive Anziehungskraft, die die Tiere – allen voran die Kühe – auf sie ausüben. Sie wird nicht müde, ihr Vieh zu umsorgen, es zu beobachten, in seinen Augen zu lesen. Auch nachts schleicht sie sich mitunter in den Stall, um den Kühen beim Schlafen zuzuschauen – es ist fast, als wollte sie deren Mysterium ergründen. Sie schreibt darüber in ihren Erinnerungen:

Nachts sind die Tiere ganz anders als am Tag. Die Kühe liegen, die Beine weit von sich gestreckt, mit dem Kopf auf dem Stroh. Unter dem Fell bewegen sich die Nerven unentwegt, die Ohren sind in Bewegung; man merkt, wie sich die Augen unter den Lidern bewegen; der Atem kommt mühsam wie unter schwerem Druck, es ist wie ein ununterbrochenes Seufzen. Wenn man das Licht aufdrehen muß, erwachen sie schwer; es dauert lange, bis sie wissen, wo sie sind und wer vor ihnen steht. Zurück aus dem Traum.

Auch die Besucher, die sie auf ihrem Bauernhof empfängt, läßt Elisabeth Flickenschildt an dem seltsamen Kult, den sie mit dem geliebten Vieh treibt, teilhaben. Einmal macht ihr Gustaf Gründgens seine Aufwartung. Doch statt den Gast ins Haus einzulassen, fordert sie ihn auf, zuerst den Stall aufzusuchen, sich vor den Kühen zu verbeugen und ihnen den alten Bauerngruß »Glück im Stall!« zuzurufen.

Elisabeth Flickenschildt weiß, daß sie mit dieser übersteigerten Form von Tierliebe bei manchen Leuten aneckt. Denen erzählt sie dann gern, wie sie schon in jungen Jahren – es ist die Zeit ihres Münchner Engagements während des Zweiten Weltkriegs – jeden Tag die Immobilieninserate in den Zeitungen studierte, um sich über die zum Verkauf stehenden Bauernhöfe zu informieren. Als sie sich später ihren Traum vom eigenen Hof endlich erfüllen kann, ist sie überglücklich. Und legt Wert darauf, als »Vollbäuerin« ernstgenommen zu werden – nicht etwa als Künstlerin, die nur so nebenher ihren Spleen auslebt: »Ich sehe mich als Bäuerin, die hin und wieder ins Theater muß …«

»Hin und wieder ins Theater« – das ist natürlich eine arge Untertreibung: Elisabeth Flickenschildt steht bis an ihr Lebensende auf der Bühne, zuletzt meist im Deutschen Schauspielhaus Hamburg. 1973 wirkt sie bei den Salzburger, 1977 bei den RuhrFestspielen mit. Außerdem dreht sie einen Kinofilm nach dem anderen: Auf das Debüt von 1935 (an der Seite von Anny Ondra und Wolf Albach-Retty) folgen im Lauf der Jahrzehnte an die hundert Filmrollen – vorwiegend im Unterhaltungsfach. Dem breiten Publikum wird sie vor allem durch die Edgar-Wallace-Verfilmungen der Siebzigerjahre bekannt.

Daß sie, die sich mit den Klassikerfiguren Marthe Schwerdtlein, Medea und Lady Macbeth, mit Brechts Mutter Courage und Dürrenmatts Claire Zachanassian einen Namen gemacht hat, auch so manches »seichte« Angebot annimmt, hat mit ihrem »zweiten Leben« als Bäuerin zu tun: Die Bewirtschaftung des Hofes samt Tierzucht und Personalaufwand verschlingt eine Menge Geld. Den Anfeindungen mißgünstiger Nachbarn, die ihr die Berechtigung zu ihrer Berufsausübung abzusprechen versuchen, begegnet sie mit dem Hinweis auf ihre Mitgliedschaft bei einem renommierten Zuchtverband und ihre hochoffizielle Ernennung zur »Meisterbäuerin«.

Umso glücklicher ist Elisabeth Flickenschildt, daß sie an ihrer letzten Wirkungsstätte, ihrem Hof in Norddeutschland, endlich schalten und walten kann, wie sie will. 13 Hektar Land gehören zu dem prachtvollen Besitz hinter dem Lühe-Deich; das alte Haupthaus mit Fachwerk und Reetdach läßt sie nach allen Regeln der Kunst renovieren, sein Inneres wird mit kostbaren Kunstwerken ausstaffiert. In einer Nische in der Scheune erhält eine Figur der heiligen Notburga einen (des Nachts mit Scheinwerferlicht angestrahlten) Ehrenplatz: Sie ist die Schutzpatronin der Bauern und Mägde. An der Kirschbaumallee, die vom Hof ins freie Feld hinausführt, kommt es sogar zu einer Art Verschmelzung von Beruf und Hobby: Hier ist es, wo die Diva mit der dunklen Stimme und dem feierlichen Gang laut deklamierend ihre Rollen einstudiert. Daß ihr Anwesen eines Tages von Einbrechern heimgesucht wird, die sich an ihren Antiquitäten vergreifen, kann ihr den stolzen Besitz nicht verleiden. Nur die Ladung zur Gerichtsverhandlung gegen die inzwischen dingfest gemachten Täter setzt ihr zu. Zu viele unverkennbar schadenfrohe Schaulustige drängen sich um die 71-Jährige.

Eine Wunde, die inzwischen verheilt ist, ist die Kritikerschelte, die ihr vor zwei Jahren widerfahren ist, als ihr Roman »Pflaumen am Hut« erschien: Elisabeth Flickenschildts Domäne, so urteilen die Rezensenten, sei die Bühne, nicht der Schreibtisch. Auch die vielen Auszeichnungen, die sie im Laufe ihres Schauspielerlebens erhalten hat – »Filmband in Gold«, »Bambi«, Professorentitel und Bundesverdienstkreuz – schützen die angehende Schriftstellerin nicht vor dem bösen Diktum: »aus der Rolle gefallen«.

12. Oktober 1977. Elisabeth Flickenschildt steigt in ihren Mercedes 250 S, um in einer dreißig Kilometer von ihrem Hof entfernten Landgemeinde an einer Vieh-Auktion teilzunehmen. Lieblingskuh Senta ist im Sommer gestorben, Ersatz muß her. Für den stolzen Betrag von 3800 Mark erwirbt »Flicki« (wie sie von ihren Freunden genannt wird) ein neues Tier. Es ist ein guter Kauf, hochzufrieden tritt sie die Rückfahrt an. Da kommt es zu einem Verkehrsunfall; der herbeigerufene Notarzt stellt bei Frau Flickenschildt Prellungen und mehrere Rippenbrüche fest. Doch statt der ihr dringend empfohlenen Einlieferung ins Krankenhaus zuzustimmen, kehrt sie auf die Bühne zurück: Am 21. Oktober steht im Hamburger Thalia-Theater eine Vorstellung des Shakespeare-Dramas »Coriolanus« auf dem Programm, in dem sie – an der Seite von Boy Gobert – die Rolle der Volumnia spielt. Trotz starker Schmerzen steht sie ihren Auftritt durch, will sogar an dem in der Woche darauf stattfindenden Brüssel-Gastspiel teilnehmen. Doch bevor sie noch ihre Koffer packen kann, bricht sie zusammen; mit rasenden Herzschmerzen wird sie ins Spital der Kreisstadt Stade eingeliefert.

Der Patientin ist nicht mehr zu helfen: 72-jährig stirbt Elisabeth Flickenschildt am 26. Oktober 1977. Exgatte Rolf Badenhausen, der in diesen schweren Tagen ständig um sie ist, kann der Sterbenden nur noch ein letztes, ein allerletztes Wort abringen: »Kümmer dich um Haus und Hof, vor allem um die Tiere, und vergiß nicht, die Rosen zuzudecken.« Auf dem Friedhof von Hittenkirchen nahe Bernau am Chiemsee wird Elisabeth Flickenschildt beigesetzt. Die Grabstelle hat sie sich schon vor Jahren gesichert – es ist ein Platz an der Südseite. »Dort blühen die Blumen am schönsten!« hat ihr die Friedhofsgärtnerin geraten.

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