Читать книгу Es ist nie zu spät - Dietmar Grieser - Страница 9

Fachwechsel

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Ihrer Mutter bleibt nichts anderes übrig, als eines Tages sämtliche Spiegel im Haus zu verhängen. Wie sonst soll man dem Fratz seine krankhafte Eitelkeit austreiben? Olga ist zu dieser Zeit fünf Jahre alt; ob im Stiegenhaus, in der Diele oder im Kinderzimmer – überall überprüft sie ihr Äußeres. »Du sollst nicht dauernd in den Spiegel schauen!« mahnt sie die um eine normale Entwicklung ihrer Kinder bemühte Mutter.

Eine von Klein-Olgas Pflichten ist es, jeden Abend vor dem Schlafengehen die auf die einzelnen Räume der Wohnung verteilten Schnittblumen einzusammeln und in eine gemeinsame Vase zu stecken, damit sie die Nacht über nicht so »allein« sind, sondern – wie Mama sich ausdrückt – miteinander kuscheln können.

Auf diese Weise gelingt es Olga tagtäglich, für einen Moment ins »Allerheiligste« vorzudringen: Mutters Schlafzimmer. Was sie dort – auf dem Toilettetisch – an Wunderdingen erblickt, zieht das gefallsüchtige Persönchen voll in seinen Bann: all die Parfumflakons, Schminktiegel, Cremedosen und Puderschachteln, die da in bunter Vielfalt zum Gebrauch bereitstehen. Manches davon kommt ihr besonders geheimnisvoll vor – etwa der Haferbrei, den sich Mama unter Beimengung von Topfen, Eigelb, Kräuterabsud und Gurkenscheiben angerührt hat. »Das sind doch Dinge, die in die Küche gehören und nicht ins Schlafzimmer?« fragt sie erstaunt und verlangt nach einer Erklärung. Mutters knappe Antwort: »Geduld, mein Kind. Wozu das gut ist, wirst du schon noch früh genug erfahren. Jetzt wasch dir erst einmal die Ohren – und dann marsch, ab ins Bett!«

Eines Morgens – Olga geht schon in die Schule – hat sie sich verschlafen und muß sich beeilen, rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen. Rasch noch ein prüfender Blick in den Spiegel – da sieht sie, daß ihr Kleid einen häßlichen großen Fleck hat. Zum Umkleiden ist die Zeit zu knapp, also greift sie kurzerhand nach der Schere und schneidet – schwupp, schwupp – den Fleck heraus. Am Abend entdeckt die Mutter das Loch in Olgas Kleid. Doch statt die Vandalin zurechtzuweisen, verordnet sie ihr die erste Näh- und Stopfstunde ihres Lebens. »Es hat mir nicht geschadet!« wird Olga Tschechowa später über die Lehren urteilen, die sie unter Mutters Anleitung aus ihren Jugendsünden gezogen hat, und läßt dabei anklingen, daß sie ohne diese strenge Erziehung zu Reinlichkeit und Ordnungssinn wohl kaum imstande gewesen wäre, fünfzig Jahre später die Schönheitspflege zu ihrem Beruf zu machen.

Doch hübsch der Reihe nach. Olga – mit vollem Namen Olga Konstantinowna Tschechowa – kommt am 14. April 1897 in der Kaukasusstadt Alexandropol, dem heutigen Gümri, zur Welt. Der Vater ist Ingenieur und wird es unter dem Zaren bis zum Eisenbahnminister bringen. Eine ihrer Tanten ist mit dem russischen Dichter Anton Tschechow verheiratet. Die Mutter ist eine kunstbegeisterte, vor allem der Musik hingegebene Frau. Eines der drei Kinder, Olgas jüngerer Bruder Leo, wird später Komponist werden.

Die Familie ist abwechselnd in Tiflis und Moskau ansässig; während der St. Petersburger Jahre darf Olga mit den Zarenkindern spielen und lernt sowohl den Dichterfürsten Leo Tolstoi wie den »Wunderheiler« Rasputin kennen. Als sie mit siebzehn die Schule absolviert, erwacht in ihr – angeregt durch das Beispiel einer schauspielernden Tante – der Wunsch, zum Theater zu gehen. Kein Geringerer als der berühmte Moskauer Regisseur Konstantin Stanislawski ist ihr Lehrer; ihre ersten Auftritte mit einer Wanderbühne führen sie kreuz und quer durchs Land.

Nach der Oktoberrevolution mit all ihren dramatischen Folgen brechen für eine großbürgerliche Familie wie die Tschechows harte Zeiten an: Die 23-jährige Olga nützt die ihr 1920 erteilte Ausreisegenehmigung dazu, sich nach Deutschland abzusetzen. Sie erlernt die Sprache ihres Gastlandes, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten – unter anderem als Plakatmalerin – durch und kommt mit Berliner Theaterleuten in Kontakt. Der Mann, der ihr die erste Chance gibt, ihr schauspielerisches Talent unter Beweis zu stellen, ist der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau, der gerade im Begriff ist, seinen Stummfilm »Schloß Vogelöd« zu besetzen. Olga Tschechowa erhält die weibliche Hauptrolle, Heinrich George, Fritz Kortner und Hermann Thimig sind ihre Partner.

Es ist der Beginn einer großen Karriere, die die ebenso bildschöne wie ausdrucksstarke Exilrussin von Berlin nach Paris und von London nach Hollywood führen wird. Auch bei einem der ersten deutschen Tonfilme – »Die Drei von der Tankstelle« mit Lilian Harvey, Heinz Rühmann und Willy Fritsch – ist Olga Tschechowa mit von der Partie. In »Liebelei« spielt sie 1933 an der Seite von Paul Hörbiger und Magda Schneider, 1934 in »Maskerade« an der Seite von Paula Wessely und 1939 in »Bel Ami« an der Seite von Willi Forst.

Obwohl ihr Beruf dem von Filmatelier zu Filmatelier eilenden Kinostar kaum Zeit dafür läßt, nützt Olga Tschechowa einen ihrer Paris-Aufenthalte dazu, für eine Weile auch einer zweiten Neigung nachzugeben: Sie besucht 1936 einen Kosmetikkurs an der Université de Beauté und schließt ihn mit einem Diplom ab. Daran gewöhnt, von den Masken- und Kostümbildnerinnen oft stundenlang für ihre Filmrollen »fit« gemacht zu werden, denkt sie bei diesem Pariser »Ausflug« in die Welt der Kosmetik eigentlich nur an ihr eigenes Äußeres und dessen Vervollkommnung und nicht im mindesten an die Möglichkeit, sich eines Tages selber in diesem Metier zu versuchen und ihre hier gewonnenen Kenntnisse an andere weiterzugeben. Aber sie wird es, wenn sie nach 1945 tatsächlich in diesen Zweitberuf einsteigen wird, nicht zu bereuen haben, daß sie bei den Pariser Fachleuten ihr Handwerk erlernt hat …

Olga Tschechowas Filmkarriere bricht zwar auch jetzt keineswegs ab: Allein in den Fünfzigerjahren bringt sie es auf weitere 14 Rollen. Andererseits ist sie Realistin genug, um sich darüber im Klaren zu sein, daß ihre Zeit vor der Kamera begrenzt ist. »Eine junge, eine neue Generation wächst nach«, sinniert sie in ihrem 1952 in Buchform erscheinenden Lebensrückblick, »eine Generation, die von Älteren schon deshalb nichts hält, weil sie eben älter sind oder alt.« Hinzu kommt, daß sich ihre materielle Situation mittlerweile gewaltig verschlechtert hat: Olga Tschechowa hat sich von falschen Beratern eine Hypothek auf ihren Besitz aufschwatzen lassen, die sie nun, nach der Währungsreform von 1948, in harter D-Mark abtragen muß. Auch ihr Plan, sich selbständig zu machen und eine eigene Filmproduktion zu gründen, schlägt fehl: Die Firma ist nach drei Projekten pleite. Um zu Geld zu kommen, trennt sie sich von ihren Reichtümern, verkauft ihre geliebten Antiquitäten, ihre Ikonen, ihre Bibliothek. Sollte sie vielleicht das Fach wechseln und sich als »komische Alte« versuchen oder überhaupt ganz aufhören? Aber welche Berufsmöglichkeiten blieben dann noch für sie – Empfangsdame in einem aufstrebenden Unternehmen oder Wirtschafterin in einem kultivierten Haushalt?

Nichts dergleichen kann für eine so verwöhnte, so unabhängige und so selbstbewußte Frau wie Olga Tschechowa in Betracht kommen. Was aber sonst? In dieser Situation erinnert sich die inzwischen Sechzigjährige an jenen Kosmetikkurs, den sie seinerzeit, vor vielen Jahren, in Frankreich absolviert hat. Vielleicht ließe sich damit etwas anfangen? Einen eigenen Schönheitssalon zu eröffnen oder zumindest eine Art Beratungspraxis, in der Frauen mit Tipps versorgt werden, wie sie sich ihr gutes Aussehen erhalten oder ihr weniger gutes korrigieren können – das würde Olga Tschechowa reizen.

Wer sie kennt, weiß, daß diese Frau nichts für halbe Sachen ist: Olga Tschechowa entscheidet sich für eine radikale Zäsur, verkauft ihr Haus im Berliner Bezirk Kladow und übersiedelt nach München. Mitten im Zentrum der zu dieser Zeit prächtig florierenden Bayern-Metropole findet sie die für ihre Zwecke geeignete Lokalität; mit Hilfe des erfahrenen, aus Rußland stammenden und in London wirkenden Biologen Professor Bogomoletz entwickelt sie ihr eigenes Behandlungsprogramm. Für die Regeneration der Körperzellen – so lautet ihr Credo – genügt nicht die Anwendung kosmetischer Substanzen: »Die Patientin muß auch selber aktiv mitarbeiten – zum Beispiel mit möglichst giftfreier Ernährung.«

Die Person, von deren Erfahrungen sie dabei am meisten profitiert, ist Olga Tschechowa selbst: »Ich bin mein Leben lang in der Öffentlichkeit gestanden, mußte schon von Berufs wegen immer gut aussehen – egal, wie stark meine Haut durch Schminken und Abschminken strapaziert wurde.«

Jetzt also geht es darum, dieses Wissen an andere weiterzugeben. In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis finden sich ohne Mühe Versuchskaninchen, an denen sie die Wirkung ihrer selbstgemachten Cremes und Masken erproben kann. Vor allem junge Menschen, die unter entwicklungsbedingten Hautstörungen leiden, sind dankbar für Frau Tschechowas Ratschläge.

Der »Betrieb« fängt klein an: Nur eine ausgebildete Kosmetikerin und eine Praktikantin stehen ihr zur Seite, um die hoffentlich recht bald und reichlich eintreffende Klientel zu bedienen. Gespannt wartet man auf die ersten Damen. Doch welche Überraschung: Zwei hochbetagte Herren machen den Anfang! Und was ist deren Begehr? Sie verlangen nach Fußpflege! Sie sind, wie sich schon nach kurzem Wortwechsel herausstellt, Fans des Filmstars Olga Tschechowa, für die es eine besondere Auszeichnung wäre, von ihrem Idol persönlich von ihren Hühneraugen befreit zu werden …

Zum Glück bleibt es nicht bei diesen beiden, und zum Glück bleibt es auch nicht beim »Nebenfach« Pediküre. Frauen jeden Alters strömen in Olga Tschechowas Studio und vertrauen der »Chefin« ihre Sorgen an. Daß sie bei ihr nicht einfach nur mit Präparaten »abgespeist«, sondern auch zu Selbstdisziplin im Sinne der modernen Ganzheitskosmetik »erzogen« werden, spricht sich in der Münchner Damenwelt herum: Olga Tschechowas Schönheitssalon erweist sich schon nach wenigen Jahren als zu klein. Außerdem meldet die Hausbesitzerin für die vier angemieteten Räume – Behandlungszimmer, Labor, Küche und Wohnzimmer – Eigenbedarf an. Doch auch die Übersiedlung an die neue Adresse ist nicht von Dauer: Das Viertel, in dem Olga Tschechowa ihre Arbeit fortsetzen will, ist ihrer Klientel zu laut. Hinzu kommt, daß sie für die Herstellung, Lagerung und Auslieferung ihrer unter Aufsicht eines fest angestellten Chemikers entwickelten Präparate mehr Platz braucht.

Um das Kapital für die Vergrößerung ihres Salons und die Aufstockung ihres Personals aufzubringen, trennt sich Olga Tschechowa von den letzten Resten ihrer Schmuck- und Antiquitätensammlung. 1955 geht die frisch gegründete Olga-Tschechowa-Kosmetik OHG in Betrieb. Die Belegschaft wächst mit den Jahren auf über hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an. Waren ihre ersten Klienten noch Kinobesucher, die sie zum Großteil von ihren alten Filmen her kannten, oder auch Kollegen (wie der Schauspieler Hubert von Meyerinck), die mit ihr seinerzeit vor der Kamera gestanden sind, so hat sie es nun mit einem Massenpublikum zu tun, das mit dem Namen Olga Tschechowa nur noch Begriffe wie Hautpflege und Schönheitsgymnastik, wie Schlankheitsdiät und Naturkost verbindet.

Während die in München verbleibende Zentrale des Unternehmens weiter ausgebaut wird, wagt sie Filialgründungen in Berlin, Helsinki und Mailand. Auf dem Kosmetikkongreß von Venedig wird Olga Tschechowa der Grand Prix zuerkannt; mit der Rezeptsammlung »Deine Schönheit – Dein Geheimnis« steigt sie in den Buchmarkt ein; und dem ihr 1962 verliehenen »Filmband in Gold« folgt zehn Jahre darauf eine Auszeichnung, die auch ihr Wirken in ihrem Zweitberuf einschließt: das deutsche Bundesverdienstkreuz. Da Olga Tschechowa ihr reiches Wissen um Körperpflege und Gesunderhaltung nicht nur für die ihrer Klienten, sondern auch für die eigene Lebensführung nutzt, erreicht sie das schöne Alter von knapp 83 Jahren. Die gebürtige Russin stirbt am 9. März 1980 in ihrer Wahlheimat Bayern und wird auf dem Friedhof von Gräfelfing bei München beigesetzt.

Es ist nie zu spät

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