Читать книгу Es ist nie zu spät - Dietmar Grieser - Страница 12

Ein Spätling namens Robinson

Оглавление

Nicht zehn oder zwanzig oder fünfzig, sondern fast dreihundert Jahre ist es her, daß ein englischer Schriftsteller in einem seiner Werke Klage darüber führt, der Begriff »alt« sei zu einem Schimpfwort der jungen Leute degeneriert. Und er beläßt es nicht beim Klagen, sondern macht auch gleich konkrete Vorschläge, wie der Lösung des Altenproblems beizukommen sei: Zur Versorgung der minderbemittelten »Überzähligen«, so schreibt er, sollten Altersheime errichtet werden, die mit eigenen Ärzten, eigenen Geistlichen und eigenen Pflegestationen auszustatten seien. Seinem Glauben nach Protestant, nennt er die von ihm propagierten Institutionen »Protestant Monasteries«.

Der Name dieses Mannes, der in so erstaunlicher Weise der Zeit vorauseilt, lautet Daniel Defoe. Und wie zum Beweis dafür, daß der alternde Mensch tatsächlich zu einzigartigen Spitzenleistungen befähigt sei, schenkt er der Welt mit 59 Jahren ein Werk, das als Klassiker der Abenteuerliteratur in die Kulturgeschichte eingehen wird: »Robinson Crusoe«.

Es ist der Beginn der fruchtbarsten Periode im Schaffen dieses Daniel Defoe: Seinem 1719 erscheinenden Roman »Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe, eines Seemanns aus York« läßt der Autor in den verbleibenden zwölf Jahren vor seinem Tod eine stattliche Zahl weiterer Bücher folgen, darunter die Romane »Kapitän Singleton«, »Moll Flanders« und »Oberst Jack«, das Traktat »Der vollkommene englische Gentleman« sowie etliche Reiseberichte und historische Erzählungen.

Daniel Foe kommt vermutlich im Jahr 1660 in London zur Welt; das genaue Geburtsdatum ist nicht überliefert. Den Namen Defoe wird er erst im Erwachsenenalter annehmen: Es stört ihn, daß »Foe« im Englischen »Feind« bedeutet.

Vater James, gelernter Wachszieher, handelt mit Talgkerzen; Mutter Alice stirbt, als der Bub acht Jahre alt ist. Onkel Henry, der eine Sattlerei in der Nähe des Londoner Hafens betreibt, ist es, der in dem Heranwachsenden das Interesse für ferne Länder weckt, indem er ihm von den englischen Überseekolonien und von aufregenden Seefahrerschicksalen erzählt.

Daniel soll nach dem Willen des Vaters die Predigerlaufbahn einschlagen, entscheidet sich jedoch letztlich für den Kaufmannsberuf. Er handelt mit Strumpfhosen und anderen Wirkwaren, später steigt er auch in den Wein-, Brandy- und Tabakhandel ein. Mit 23 heiratet er die drei Jahre jüngere Mary Tuffley, Tochter eines begüterten Londoner Zimmermanns. Die stattliche Mitgift, die Mary in die Ehe einbringt, wird man gut brauchen können: Acht Kinder kommen auf die Welt, man leistet sich fünf Bedienstete, eine zweispännige Kutsche und ein geräumiges Landhaus.

Probleme bereitet dem Jungunternehmer Daniel Defoe nur sein verhängnisvoller Hang zum Spekulieren: Sowohl der Versuch, eine Schiffsversicherung zu gründen, wie die Idee, mittels einer Taucherglocke die Schätze gesunkener Schiffe zu bergen, stellen sich als Flops heraus. Auch die Aufzucht von Zibetkatzen, deren moschusähnlicher Duftstoff zu jener Zeit in der Parfumerzeugung Verwendung findet, bringt nicht den erhofften Ertrag: Defoe wird zahlungsunfähig, landet im Schuldgefängnis. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe versucht er einen Neuanfang mit der Herstellung von Dachziegeln. Eine Geschäftsreise auf die Orkney- und Shetland-Inseln verschafft ihm jene ersten Einblicke in Seefahrt und Inselleben, die ihm viele Jahre später, wenn er seinen »Robinson Crusoe« schreiben wird, von Nutzen sein werden.

Auch an der Politik findet der mittlerweile Vierzigjährige Geschmack: Daniel Defoe tritt in die Dienste des Oranier-Königs Wilhelm III., macht mit selbstverfaßten Pamphleten Stimmung für die Krone und rät den Engländern zur Gründung eines stehenden Heeres. Als er sich auch noch in den herrschenden Glaubenskrieg einmischt und mit seinem Traktat »Kurzer Prozeß mit den Nonkonformisten!« gegen die von der anglikanischen Kirche abgefallenen Abweichler agitiert, kommt er ein weiteres Mal mit dem Gesetz in Konflikt, wird wegen Verleumdung und Volksverhetzung an den Pranger gestellt und landet im berüchtigten Newgate-Gefängnis.

Auch an der unter Wilhelms Nachfolgerin Königin Anna zustande kommenden Vereinigung Englands mit Schottland hat Defoe Anteil: Er baut einen Spionagering auf und gründet die regierungstreue Zeitschrift »The Review«, deren alleiniger Verfasser er ist. Seine Themen reichen von der Verbesserung der Verkehrswege, der Einführung einer Spezialversicherung für die Seemannsberufe und der Idee zur Gründung einer Akademie zur Pflege der englischen Sprache bis hin zu dem für seine Zeit sensationellen Aufruf, den Frauen die gleichen Bildungschancen einzuräumen wie den Männern. Plagt ihn dabei vielleicht das schlechte Gewissen, das Vermögen seiner Frau aufgebraucht und nicht genug für die standesgemäße Erziehung seiner Kinder getan zu haben?

Ein neues Thema findet Defoe, als England im Zuge der allgemein einsetzenden Prosperität unter seinem Überangebot an Waren zu leiden beginnt. Um die Absatzmärkte zu erweitern, lenkt er den Blick auf die überseeischen Kolonien und plädiert für vermehrten Handel mit den »Entwicklungsländern«, denen – im Gegenzug – mit dem »Anschluß« an die Segnungen der Zivilisation geholfen werden kann. Er bejaht Sklavenhandel und Sklavenarbeit – allerdings unter strenger Wahrung des Humanitätsprinzips.

Nicht nur ihn, Daniel Defoe, würde es reizen, die dafür in Betracht kommenden Länder persönlich zu bereisen: Auch viele seiner Leser plagt das Fernweh. Er weiß es aus den Briefen, die sie ihm schreiben und die er – ein Novum im englischen Zeitungswesen! – in seiner »Review« nicht nur abdruckt, sondern auch beantwortet. Doch wer kann sich solch kostspielige Abenteuer leisten? Auch ihm selber fehlt es dazu an den Mitteln; außerdem lassen die physischen Kräfte des nunmehrigen Endfünfzigers Zug um Zug nach. Da kommt ihm die Idee, die Reiselust seiner Landsleute mit den Mitteln der Literatur zu befriedigen: Wem es versagt bleibt, ferne Länder zu erkunden, sollte wenigstens die Möglichkeit haben, dies in seiner Phantasie zu tun – und zwar unter Anleitung eines Autors, der seinen Lesern die weite Welt in Buchform nahebringt. Daniel Defoe verlegt sich also aufs Schreiben von Reiseerzählungen. Gestützt auf die Lektüre einschlägiger Vorbilder und angetrieben von der eigenen Vorstellungskraft, schlüpft er in die Phantasiegestalt eines weitgereisten Edelmannes, der die von ihm erlebten Abenteuer tagebuchartig zu Papier bringt. Wie wär’s, wenn es seinen Protagonisten auf eine ferne, einsame Insel verschlüge?

Daniel Defoe ist knapp sechzig, als im Frühjahr 1719 sein »Robinson Crusoe« erscheint. Schon nach nur einem Monat sind die tausend Stück des Erstdrucks abgesetzt, eine Neuauflage folgt der anderen. Und wiederum vier Monate darauf schiebt der Autor einen Fortsetzungsband nach: Auch »Die weiteren Abenteuer des Robinson Crusoe« finden ein begeistertes Publikum. Frankreich und Deutschland ziehen mit eilends in Auftrag gegebenen Übersetzungen nach.

Robinson Crusoe ist der Sohn eines Kaufmanns aus der deutschen Hansestadt Bremen, den es ins englische York verschlägt. Wie er zu seinem Namen kommt, ist eine eigene Geschichte: Crusoe, so werden später die Literaturexperten herausfinden, ist eine englische Verballhornung des deutschen Städtenamens Kreuznach, eines alten Badeortes in der Nähe von Koblenz.

Daniel Defoes Romanheld ist eine Abenteurernatur: Die Warnung seines Vaters, unter keinen Umständen »die Segnungen des goldenen Mittelstandes« aufs Spiel zu setzen, schnöde in den Wind schlagend, zieht es den jungen Mann in die Ferne: Er segelt an Bord eines sogenannten Guinea-Schiffes nach Afrika, treibt Handel mit den Eingeborenen, kehrt mit beträchtlichem Gewinn nach Europa zurück und wagt eine zweite Reise, auf der er von türkischen Korsaren gefangengenommen und als Sklave nach Marokko verkauft wird.

Nach geglückter Flucht nimmt ihn ein gutherziger portugiesischer Kapitän nach Brasilien mit, wo Robinson eine Plantage gründet, die schon bald gute Erträge abwirft. Doch statt seinen Wohlstand klug zu sichern, läßt er sich auf ein weiteres riskantes Abenteuer ein und bricht nach Guinea auf, um für sich und seine Nachbarn billige Sklaven zu rekrutieren.

Während eines Orkans läuft sein Schiff auf Grund, nur mit knapper Not kann sich Robinson ans Ufer einer felsigen Insel retten. Dort errichtet er im Schutz eines Hügels eine stabile Zeltbehausung; in einer angrenzenden Höhle lagert er jene überlebensnotwendigen Fundstücke ein, die er sich aus dem Wrack eines gestrandeten Schiffes beschafft hat: Werkzeug, Waffen, Kleidung. Auf seinen Erkundungsgängen trifft er auf eine Art natürlichen Obstgarten, wilde Ziegen dienen ihm als Nahrung, das aus ein paar aufgelesenen und ins Erdreich versenkten Körnern gewonnene Getreide verarbeitet er zu Brot.

Ein am Strand entdeckter Fußabdruck führt ihn eines Tages in ein aufgelassenes Kannibalencamp. Als die entmenschten Wilden einige Zeit später, vom Festland kommend, auf die Insel zurückkehren, um sich an deren Eingeborenen zu vergreifen, gelingt es Robinson, einem der Opfer zur Flucht zu verhelfen. Er gibt ihm – in Anspielung auf das Datum der geglückten Rettung – den Namen Freitag, nimmt ihn zu sich und erzieht ihn zu einem guten Diener und aufrechten Christenmenschen, an dessen Seite Robinson alle kommenden Abenteuer übersteht. Zum Dank dafür nimmt er – als nach achtundzwanzig Jahren, zwei Monaten und neunzehn Tagen das rettende Schiff am Strand der ansonsten menschenleeren Insel anlegt – seinen Gefährten nach England mit.

Das ist in groben Zügen die Abenteuerstory des 59-jährigen Engländers Daniel Defoe; noch im selben Jahr 1719 läßt er dem ersten Band seines in Ich-Form wiedergegebenen »Tatsachenberichtes« einen zweiten und 1720 einen dritten folgen und hinterläßt damit, als er am 24. April 1731 71-jährig in London an den Folgen eines Schlaganfalls stirbt, ein Stück Weltliteratur, das künftige Generationen nicht scheuen werden, Klassikern wie Don Quijote, Don Juan oder Faust an die Seite zu stellen.

Es ist nie zu spät

Подняться наверх