Читать книгу Der reiche Russe - Dietrich Knak - Страница 7
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ОглавлениеMorgen zur selben Zeit hatte mir Brandt gestern bei meinem Abgang hinterhergerufen. Ich erinnere mich: 10.56 Uhr hatte meine Armbanduhr angezeigt, als ich hier ankam. Und heute stehen ihre Zeiger auf 10.58 Uhr. Ein zu vernachlässigender Unterschied von ganzen zwei Minuten. Das deutsche Pünktlichkeitsgen ist fest in mir verankert. Wenn ich in mich hineinlausche, kann ich hören wie es mich auffordert, ja meine Termine einzuhalten. Mit Schwung schnappe ich mir den auf dem Beifahrersitz abgelegten Aktenkoffer mit den zwei Millionen, der gegenüber dem Vortag spürbar an Gewicht zulegen konnte und wende mich Brandts Haus zu. Bevor ich meine Hand auf die Klingel lege, werfe ich erst einmal einen flüchtigen Blick auf die Umgebung. Jetzt am frühen Mittag sind nur wenige Menschen unterwegs. Ich nehme an, es liegt an der unbarmherzigen Hitze, die hier in der Rheinebene momentan herrscht und die für diese Jahreszeit etwas Normales ist.
Ich betätige die Klingel. Doch überraschenderweise meldet sich niemand. Kurz bevor ich es ein weiteres Mal versuche, fällt mir auf, dass die Haustür nur angelehnt ist. Ohne zu zögern, betrete ich den Hausflur. Wie am Vortag flammt umgehend die Neonbeleuchtung an der Decke auf. Zu meiner Verwunderung ist die Tür zur Wohnung ebenfalls nur angelehnt. Als ich im schmalen, dunklen Flur der Wohnung stehe, rufe ich laut: „Herr Brandt. Der Weihnachtsmann aus Baden-Bad en ist gekommen! Bescherung!“ Trotzdem niemand reagiert. Alles deutet darauf hin, dass der Hausherr nicht da ist. Instinktiv beschleicht mich ein mulmiges Gefühl, das sich mit jedem Schritt, mit dem ich weiter ins Innere der Wohnung vordringe, verstärkt. Doch auf einmal überfällt mich ein Gedanke, der mit einem Schlag meine Bedenken beiseiteschiebt. Wenn ich die Situation nutze, um an das Manuskript zu gelangen. Ich könnte es kopieren und damit überprüfen, ob Kutusow mir die Wahrheit gesagt hat. Oder das hier eine Falle ist. Alleine der Gedanke löst einen Adrenalinschub in meinem Körper aus. So muss es einem Jagdhund ergehen, der mit seiner Nase unverhofft auf eine frische Wildfährte stößt und ihr zwanghaft folgt. Den Koffer festumklammert gehe ich entschlossen weiter. Orientierungsprobleme habe ich keine, ich bewege mich gewissermaßen auf vertrautem Terrain. Ich weiß, erst kommen Bade- und Wohnzimmertür, dann erst die, die in Brandts Arbeitszimmer führt. Vorsichtig betrete ich den Raum. Auf den ersten Blick hat sich gegenüber dem Vortag nichts verändert. Es fehlt nur Eugen Brandt. Würde er an seinem Schreibtisch sitzen, dann wäre rundum alles wie bei meinem gestrigen Besuch. So, als hätte sich jemand die Mühe gemacht, die Zeit anzuhalten.
Als erstes stelle ich den Koffer mit dem Geld neben dem Sessel ab, in dem ich gestern gesessen hatte. Anschließend gehe zu dem Regal, das dem Schreibtisch am nächsten steht. Es ist vollgestopft mit Zeitschriften, diversen Tageszeitungen und auch Manuskripten. Wobei ich mich ausschließlich für seine Manuskripte interessiere. Das erste, das ich in der Hand halte, entpuppt sich als Abhandlung über chinesische Triaden. Das nächste beschreibt ukrainische Oligarchen, das dritte beschäftigt sich mit der italienischen Camorra. Organisierte Kriminalität ist offensichtlich Brandts Spezialgebiet. Auch wenn der Mann mir nicht gerade sympathisch ist, wer ein derartiges Geschäft ausübt, der muss Mut haben! Was mir grundsätzlich imponiert! Und beim vierten Versuch stoße ich auf „Die reichen Russen in Baden-Baden“. Ich balle die Faust und lasse mich mit der Beute in meinen Sessel fallen. Kurz streichele ich den Geldkoffer, dann nehme ich mir das Manuskript vor.
Es ist flüchtig zusammengeheftet und umfasst gute dreihundert Seiten. In der rechten oberen Ecke der Titelseite steht ein handgeschriebenes Datum, demzufolge wurde es vor gut vierzehn Tagen ausgedruckt. Der Autor hat das Exemplar zum Korrekturlesen genutzt, denn jede Seite ist voll mit grammatikalischen Korrekturen und handgeschriebenen Anmerkungen, teilweise hat er es sogar mit längeren Ergänzungen versehen. Brandt handelt zehn Russen ab, die allesamt eins verbindet: Sie erwarben Baden-Badener Immobilien im zweistelligen Millionenbereich. Akribisch verfolgt er ihren Lebensweg, geht zunächst auf ihre Herkunft ein und wie sie vor ihrem Reichtum gelebt haben. Anschließend beschreibt er, mit welchen Mitteln sie zu ihrem vielen Geld gekommen sind und welchen Lebensstil sie jetzt, sozusagen als Neureiche, führen. Alle können damit gewissermaßen auf zwei Leben verweisen. Eins davor, eins danach und beide unterscheiden sich dramatisch. Und ich entdecke noch eine Gemeinsamkeit der Protagonisten: Fast alle haben das Fundament für ihr Vermögen in der Wendezeit gelegt, als das Sowjetreich implodierte und überstürzt abgewickelt wurde. Auch sind die Akteure vorwiegend auf Gebieten tätig, die für das tägliche Leben gebraucht werden. Energie, Telekommunikation, Banken, Handel. Ambitionen in die Politik zu gehen, scheint niemand gehegt zu haben. Ich muss unwillkürlich an das Schicksal von Michail Chordoskowski denken, der genau aus dem Grund seine besten Jahre in sibirischen Zwangslagern verbringen musste. So etwas wirkt abschreckend. Abschließend folgt eine Einschätzung über welches Vermögen die aufgeführten Personen derzeit verfügen. Mein Auftraggeber ist mit seinen drei Milliarden eindeutig der reichste dieser zehn Russen. Gewissermaßen ihr Primus! Folglich schenkt ihm Brandt mit guten fünfzig Seiten die meiste Aufmerksamkeit. Einfache Millionäre haben sich mit der Hälfte zu begnügen. Und plötzlich reibe ich mir die Augen. Valerie Kutusow, ist tatsächlich vier Jahre Mitglied der KPDSU gewesen.
Plötzlich höre ich ein Geräusch. Leider kann ich nicht sagen, woher es kommt. Es hört sich an, als schleicht jemand auf Zehenspitzen durch die Wohnung. Ist Eugen Brandt etwa doch zurückgekehrt? Aber warum macht er das so heimlich? Das Kopieren kann ich jedenfalls vergessen. Eilig erhebe ich mich, um das Manuskript zurück ins Regal zu legen. Doch dann folge ich einem Reflex und lasse es zu meiner eigenen Überraschung in dem Seitenfach meines Geldkoffers verschwinden. Ich hoffe, dass Brandt den Verlust des Manuskripts nicht bemerkt. Wenn doch, würde ich es einfach abstreiten. Kutusow dagegen wird bestimmt jubeln, wenn ich ihm dieses Leckerli übergebe.
Als ich den Kopf in den Korridor stecke, kann ich niemand sehen. Offenbar gibt es noch einen zweiten Besucher. Und er heißt nicht Eugen Brandt. Der Hausherr hätte sich längst bemerkbar gemacht. Ich tippe auf einen zufällig vorbeigekommenen Einbrecher, der die Gelegenheit mit den offenen Türen nutzt. Und erneut höre ich Geräusche. Dieses Mal kann ich sie zuordnen. Sie kommen eindeutig aus der Küche. Ich greife nach meiner Beretta, entsichere sie und gehe vorsichtig, die Waffe in der ausgestreckten Rechten vor mich haltend, dem Geräusch nach. Die Küchentür steht weit offen. Ich erinnere mich, als ich die Wohnung betreten habe, ist dies nicht der Fall gewesen. Es wird immer offensichtlicher, jemand hält Ausschau nach geeignetem Diebesgut. Ich bin fest entschlossen, den Eindringling außer Gefecht zu setzen, um ihn Brandt in Form eines gut verschnürten Weihnachtspakets zu übergeben. Und obendrauf, gewissermaßen als Sahnehäubchen, lege ich den Geldkoffer mit den zwei Millionen. Das würde ihn zusätzlich zwingen, das Geld anzunehmen und den Vertrag zu unterschreiben. Wodurch ich wiederum meine Zwanzigtausend bekäme.
Als ich einen ersten Blick in die Küche werfe, zucke ich förmlich zurück als hätte ich mit bloßen Händen in ein geladenes Stromkabel gegriffen. Alles in und an mir bebt und zittert, sodass ich gezwungen bin, mich mit beiden Händen am Türrahmen festzuhalten. So etwas Furchtbares habe ich in meinem bisherigen Ermittlerleben noch nicht zu sehen bekommen. Mein erster Gedanke: Marowski, du bist in eine Russenfalle geraten! Verschwinde! Doch ich bin immer stolz darauf gewesen, kein Feigling zu sein! Selbst wenn es sich hier um eine Falle handeln sollte, ich kann nicht zurück. Ich atme mehrmals tief ein und aus, schließe ich kurz die Augen, danach betrete ich tapfer den Tatort.
Wo ich hinschaue: Überall Blut. Auf dem Fußboden, an den weißen Kacheln an der Spüle, dem Elektroherd, an den Beinen des Küchentischs, dem Kühlschrank, ja ein paar rote Spritzer haben es sogar bis zu den Fensterscheiben und dem Fensterbrett geschafft. Außerdem hängt ein schwerer süßlicher Geruch in der Luft. Und mittendrin liegt ein Mann auf dem Bauch, jeweils ein Arm und ein Bein angewinkelt, die beiden anderen Extremitäten weit von sich gestreckt, während seine erloschenen Augen starr auf die dunkelbraunen Terrakotta-Platten des Küchenbodens gerichtet sind. Gleichzeitig umschwirren ihn Fliegen über Fliegen und immer neue stoßen dazu.
Je länger ich auf das Opfer starre, umso gegenwärtiger wird mir, was hier passiert sein könnte. Folgend Ausgangssituation: Als der Täter den tödlichen Schuss abgab, stand er direkt hinter dem Opfer, der an der Kaffeemaschine herumhantierte, um zwei leeren Tassen mit Kaffee zu füllen. Verdammt, Opfer und Täter haben sich gekannt. Man lässt keinen Fremden in seine Wohnung und brüht ihm einen Kaffee. Plötzlich registriere ich etwas ganz Merkwürdiges. Es sind die vielen Verletzungen, die der Tote im Gesicht, am Hals und den Armen davongetragen hat und sicher sind sie auch an seinem Körper zu finden. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Der Tot alleine reichte dem Täter nicht, er hat mit blinder Wut auf sein Opfer eingeschlagen, obwohl der bereits tot vor ihm lag. Aber warum macht der Täter das? Spuren eines Kampfes sind nicht einmal vom Ansatz her zu erkennen. Alle Gegenstände stehen da, wo sie hingehören. Das alles unterstreicht meine Vermutungen: Zwischen Opfer und Täter ist etwas hoch Emotionales, vielleicht sogar etwas zutiefst Persönliches mit elementarer Wucht zum Ausbruch gekommen. Während ich zusehe wie kleinste Knochensplitter, vom zertrümmerten Schädelknochen des Opfers orientierungslos auf der Oberfläche der Blutlache herumtreiben, formt sich in meinem Kopf die drängende Frage: Was ist die Ursache für diesen Hassausbruch? Wenn ich das wüsste, hätte ich das Motiv und wäre dem Täter ganz nahe. Doch soweit ist es leider Gottes nicht.
Obwohl mir klar ist, dass ein Toter, der vor mir auf dem Boden liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit Eugen Brandt heißt, fühle ich mich trotzdem in die Pflicht genommen, diese beiden Annahmen zu überprüfen. Sollte auch nur ein Hauch Leben in seinem Körper stecken, bin ich verpflichtet etwas zu unternehmen. Zum Beispiel Hilfe herbeizurufen. Ebenso sollte die Identität des Opfers zu hundert Prozent geklärt sein. Ich stecke meine Beretta zurück in den Hosenbund und gehe in die Hocke. Routinemäßig taste ich Halsschlagader und Handgelenke ab, anschließend hebe ich leicht den Kopf des Opfers an, weil ich die linke Gesichtshälfte nur teilweise sehen kann, da sie größtenteils auf dem Küchenboden aufliegt. Meine Annahmen bestätigen sich schnell. Der Mann heißt Eugen Brandt, und er ist tot. Sofern das ein medizinischer Laie wie ich überhaupt sagen kann. Auf Grund seiner langsam scheckiger werdenden Haut, der gesunkenen Körpertemperatur und dass kein Blut mehr aus den Wunden an seinem Körper austritt, muss er mindestens seit einer Stunde, möglicherweise sogar zwei oder gar drei, tot sein. Mir bleibt nur die nüchterne Feststellung, ich wurde mit zwei Millionen Euro zu einem Toten geschickt. Einen Vorteil hat das Ganze allerdings auch: Von nun an ist Kutusows Auftrag kein schlichter Botengang mehr, sondern ist zu einem richtigen Mordfall mutiert. So gesehen, habe ich als Privatdetektiv einen regelrechten Karrieresprung hingelegt. In dem Moment, da ich versuche, mich wieder aufzurichten, um endlich die Polizei zu verständigen, knallt mit aller Wucht ein harter Gegenstand auf meinen Hinterkopf und löst eine heftige Explosion in meinem Kopf aus. „Küchentür!“, ist das letzte Wort, welchesmir intuitiv über die Lippen kommt. Danach versuche ich mich mit immer heftiger rudernden Armen, auf den Füßen zu halten. Doch es hilft alles nichts, ein grauer, watteartiger Nebel, der schnell dichter wird, kennt keinerlei Erbarmen und nimmt mich mit in sein verschwommenes Reich, aus dem es vorerst kein Entrinnen für mich gibt.