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Eichel Sieben

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Ewig grüßt das Murmeltier. Hauptkommissar Armin Reimers erlebte das, was man gemeinhin gern als ein Déjà-vu bezeichnete. Im Kopfkino flimmerte ein Streifen mit sich ähnelnden Szenen in Endlosschleife über die Großhirnrinde. Irritiert schloss er für einen Moment die Augen. Das sich munter drehende Bilderkarussell verlangsamte sich und die blitzlichtartig aufleuchtenden Momentaufnahmen verblassten. Das Gefühl, alles schon einmal durchlebt zu haben, war hochgradig verstörend. Ja, es war beängstigend. Es war, als ob er auf dünnem Seil über einen bodenlosen Abgrund balancierte – und jeden Moment abzustürzen drohte. »Es ist wie verhext, immer wieder das Gleiche in Grün. Wieso passiert das ausgerechnet mir!« Vielleicht war es an der Zeit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Reimers hieb in einem Anflug von Jähzorn auf das Lenkrad ein. »Verdammter Mist, da wirst du ja jeck in der Birne!« Wie es ihm seine Yoga-Lehrerin eingetrichtert hatte, formte er eine Raute vor der Brust und atmete dreimal tief durch. »Ommmmm! Ene Mene muh!« Dann war er bereit. Er tastete nach dem Türgriff und wuchtete sich aus seinem Dienstwagen. Ein optisch unauffälliger Audi A 4 samt Turbo-Triebwerk und Tarnkennzeichen. Kein BMW, es musste schließlich nicht jeder gleich wissen, dass es sich um ein Kripo-Fahrzeug handelte. Der Kommissar blickte sich suchend um. Außer den zwischen den Einsatz- und Löschfahrzeugen herumwuselnden Feuerwehrleuten und den im Föhnwind schaukelnden Absperrbändchen gab es nicht wirklich viel zu sehen. So, das hier war also Grainbach. Die Luft war noch mild und der Abendhimmel von einem fast schon künstlich wirkenden ultramarinen Blau. Die Vorstellung, dass an diesem idyllischen Örtchen ein kaltblütiger Mord geschehen war, erschien ihm surreal. Und das am helllichten Tag. Zwei Kriminaltechniker in weißen Overalls und Plastiküberschuhen waren auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit der Sicherung von Tatortspuren beschäftigt. Mit der akribischen Sorgfalt eines Paläontologen klaubten sie mit Greifzangen Papierschnipsel, Kronkorken und Zigarettenstummel vom Wegrand – und verstauten alle möglichen und unmöglichen Beweisstücke in beschrifteten Folienbeuteln aus Polypropylen. Die mit ihrer Sisyphusarbeit beschäftigten Kriminaltechniker beachteten ihn nicht weiter. Reimers legte den Kopf schief. Der schöne Schein, die glatte Fassade wiegte einen leicht in Sicherheit. Professionalität, Erfahrung waren das eine, ein feines Gespür, ein ausgeprägter Jagdinstinkt das andere, was einen guten Ermittler ausmachte. Jeder Fall war anders gelagert, doch immer ging es im Prinzip darum, das feine Gestrüpp menschlicher Beziehungen und Verflechtungen zu entwirren. Sein Job erinnerte ihn manchmal an den eines Parapsychologen, der mit seinem Echolot geduldig die Untiefen der menschlichen Abgründe vermaß. »Als denn, werfen wir das Senkblei aus« – Reimers gab sich einen Ruck.

Die Sonne hatte ihm den Nachmittag über durchs Bürofenster zugelächelt – und um Punkt halb sechs hatte er den Schlussbericht zur Strafsache mit dem Aktenzeichen 605/Js 4711/16 eingetütet und an den zuständigen Staatsanwalt geschickt. Ein unbequemer, heikler Fall, bei dem im Hinblick auf Flüchtlingsdebatte und Terror-Hysterie ein Höchstmaß an Fingerspitzengefühl gefragt war. In der Flüchtlingsunterkunft Raubling war es zu einem gewalttätigen Übergriff gekommen. Die Täter hatten sie anhand der am Tatort gefundenen Spuren rasch überführt. Zwei irakische Asylbewerber hatten eine aus Eritrea stammende Frau in der Gemeinschaftsküche überfallen, zu sexuellen Handlungen genötigt und ihr schwere, wenn auch gottlob nicht lebensgefährliche Schnittverletzungen zugefügt. Akte zu, Klappe dicht. Ein Verfahren, mit dem sich keine Lorbeeren ernten ließen. Die Sackgesichter würden zu zwei, drei Jahren Haft verurteilt werden – und ihr Anwalt Berufung einlegen. Wenn alles so lief wie üblich, wären die beiden in gut einem Jahr wieder frei. Rechtsstaat nannte sich das – Reimers hatte den Gedanken verdrängt und sein Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums Oberbayern-Süd hinter sich verriegelt. Reimers war eben auf sein Rennrad gestiegen, als sein Handy läutete. Er hatte sich mit einem alten Freund von der Uni in einem Café in der Innenstadt verabredet – und sein erster Gedanke war, dass ihn Dirk um Absolution bitten würde, weil es »mal wieder etwas später« werden würde. Die im Fünfvierteltakt groovenden Triolen brachten ihn auf die richtige Spur. Das Dave-Brubeck-Quartett swingte in der Gesäßtasche seiner Cordhose. Da gehörte es definitiv nicht hin – und es bedurfte einiger spastischer Verrenkungen, bis er das Klingelteil am Ohr hatte. Ein schneller Blick aufs Display hatte ihn vorgewarnt – es war nicht Dirk, es war schlimmer: »Haberl ruft an!« Seine Miene hatte sich schlagartig verdüstert. Er mochte Magdalena Haberl, er schätzte sie als Mensch und als zuverlässige, wenn auch manchmal etwas hyperaktive Mitarbeiterin. Nur hier und jetzt war er nicht sonderlich erfreut, ihre immer etwas überdreht klingende Stimme zu hören. Er musste sich mächtig zusammennehmen, um nicht loszupoltern. »Ach nee, ein Mord, ein Attentat? Nach Feierabend, wie schön«, hatte er ins Telefon geknurrt, als er erfahren hatte, dass es »Arbeit« für ihn gab. Dabei hatte sich Reimers auf einen entspannten Abend gefreut – Dirk war ein echter Kumpel, mit dem man ein paar Bierchen zischen, sich genüsslich das Maul über den Werdegang früherer »Freunde« zerreißen und über die Absurditäten einer immer kränker werdenden Gesellschaft philosophieren konnte. Doch aus dem sozialphilosophischen »Kolloquium« würde zumindest heute nichts werden.

Sechs steinerne Stufen führten zur schmiedeeisernen Eingangstür hinauf. Er drückte dagegen und ein Flügel des Türchens schwang mit gequältem Quietschen auf. Der Friedhof von Grainbach war – wenn man das so sagen durfte – ein nettes, sonniges Plätzchen. Die Bewohner waren jenseits von Gut und Böse und schienen keinerlei Anstoß daran genommen zu haben, dass der Mordschütze ausgerechnet hier, an einem Ort des Todes, zur Tat geschritten war. Das Opfer, die persönlichen Daten hatte er gerade nicht parat, war nicht hier, sondern unten im Biergarten des Gasthofs »Zur Linde« gestorben. Die Befragung der Zeugen hatte er seinem Stellvertreter, Kriminaloberkommissar Pföderl, überlassen. Pföderl, den seine Freunde »Barthl« nannten, sprach dieselbe, ihm zum Teil unverständliche, Sprache der Einheimischen. Barthl war ein durchaus fähiger Kriminalbeamter, etwas störrisch, stur und eigensinnig, das ja, aber seinem Vorgesetzten gegenüber verhielt er sich loyal. Da hatte Reimers in seiner Zeit beim LKA in München ganz andere Fälle von Intrigantentum, Mobbing und Heuchelei erlebt. Mit seinen dunkelbraunen Locken, dem markanten Quadratschädel und einem fast südländischen Teint zählte Pföderl zu einem bestimmten Typus Mann, mit dem man verwegenes Draufgängertum und kaltblütige, kühne Entschlusskraft assoziierte. Wäre da nicht die sich unter der Trachtenjoppe abzeichnende Weißbier- und Schweinsbraten-Wampe gewesen, hätte man Pföderl durchaus die Rolle des unerschrockenen Wildschützen und Weiberhelden abgenommen. Reimers musste einräumen, dass der Mundart-Ausdruck »wuider Hund« respektive »Hundling« die Persönlichkeit seines zu unkonventionellen Ansichten neigenden Kollegen treffend charakterisierte. Sein Stellvertreter war in irgendeinem Kuh-Kaff aufgewachsen und wusste, wie die alteingesessenen Bewohner dieses Landstrichs tickten. Ein harter, rauer und verschlossener, wie es hier hieß »hinterfotziger« Menschenschlag, der sich nicht in die Karten schauen ließ. Bartholomäus Pföderl wusste diese dickköpfigen Kerle zu nehmen, er würde erfahren, was zu erfahren war.

Der Kommissar ließ sich Zeit. Um die besondere Atmosphäre des Orts, den Genius loci, einzufangen, schlenderte er mit der ruhigen Gelassenheit eines Friedhof-Flaneurs durch die sich vor ihm ausbreitenden Gräberreihen. Mit einem stummen Nicken grüßte er einen der Beamten des Erkennungsdiensts, der sich anschickte, im Umfeld eines frischen, mit Kränzen, Gebinden und Gestecken überhäuften Grabes nach einem Hinweis auf den Täter zu suchen. Sein Kollege stocherte derweil mit der Penetranz eines Penners in den Müllbehältern herum. Ihm fiel auf, dass der Kies bei jedem Schritt unter seinen Ledersohlen knirschte. Heimlich, still und leise konnte hier niemand herumschleichen. Reimers versuchte zu rekonstruieren, welchen Weg der Schütze genommen hatte, um möglichst unbemerkt zur Nordwestecke des Friedhofs zu gelangen. Dort war er hinter der halbhohen Einfriedungsmauer in Stellung gegangen, um den Biergarten der »Linde« ins Visier zu nehmen. Nummerntafeln kennzeichneten die wichtigsten Fundstellen. Die Spurensicherer hatten bereits jeden Quadratzentimeter abgegrast – nun war ein Fotograf dabei, jedes noch so winzige Detail auf den Speicherchip seiner teuer aussehenden Digitalkamera zu bannen. Nachdenklich strich er sich mit dem Zeigefinger über den dünnen Bartflaum auf seiner Oberlippe. Hatte der Täter das Gewehr dabeigehabt oder hatte er es bereits in der Nacht zuvor hier irgendwo deponiert? Keine 30 Meter entfernt erhob sich die Aussegnungshalle, ein schmuckloser Klinkerbau – und das ideale »Zwischenlager« für die Tatwaffe. Er rief einen der ED-Beamten zu sich: »Moser, sei so gut und schau dir das Gebäude genau an. Meine Vermutung geht dahin, dass der Täter die Waffe in Einzelteile zerlegt und da drin versteckt hat. In einer Abstellkammer, hinter einem Gemälde, unter einer Leichenbahre, was weiß ich. Schau dir auch die Holzverkleidungen und Paneele an.«

»Herr Kommissar, wenn es da drin etwas zu finden gibt, finde ich es.« Moser, ein Mann von mittlerer Größe und rundlicher, untersetzter Statur, watschelte von dannen. In seinem unförmigen Schutzanzug sah er aus wie ein Michelin-Männchen.

Bei einem Schwerverbrechen ging man nach dem erprobten Muster vor – einem hundertmal durchexerzierten Ablaufplan. Das Prozedere war immer das gleiche. Die Aufgaben waren klar verteilt, die Zuständigkeitsbereiche fest umrissen, die Arbeit weitgehend Routine. Ein Schauspiel, das stets in derselben Besetzung über die Bühne ging: Da war der Gerichtsmediziner, der mit kühler Distanziertheit die Leiche auf Spuren von Gewaltanwendung hin untersuchte, der Staatsanwalt, der mit genervter Miene auf und ab stolzierte und per Handy Rücksprache mit dem ermittelnden Richter hielt, die Mitarbeiter der Kriminaltechnik, die Sessellehnen, Bierkrüge und zur Not auch Grabsteine mit Rußpulver bepinselten, um anschließend die Fingerabdrücke per Klebefolie abzunehmen. In gebührendem Abstand zu den Hauptdarstellern war die Komparserie im Einsatz: Sanitäter, Feuerwehrler oder die Jungs vom THW vermittelten stets den Eindruck geschäftiger Betriebsamkeit. Einzig und allein die vom Büro der Kripo verständigten Bahrenschubser hatten es nie sonderlich eilig. Ihr Fahrgast lief ihnen nicht davon. Als leitender Ermittler erteilte Reimers die Regieanweisungen, um die ganze Szene so realistisch und überzeugend zu inszenieren, als ob ein Filmteam mit von der Partie wäre. Unvermittelt musste er grinsen. Jeder »Tatort«-Kommissar hatte sein Script, seine Dialogzeilen, nur er musste sein Drehbuch erst noch schreiben.

»Ah, da sind Sie ja, Monsieur Le Commissaire!« Eine schlanke, schlaksige Gestalt hechelte im Triathleten-Tempo den Steilhang an der Nordseite des Hügels herauf und hüpfte mit der etwas hüftsteifen Eleganz einer aus der Übung geratenen Hürdensprinterin über das Friedhofsmäuerchen. Trotz der modischen, mit einigen Abstrichen in der B-Note nahezu perfekt sitzenden Wanderkluft wirkte ihre Junior-Kommissarin stets so, als ob sie nur notgedrungen »Räuberzivil« trug und einer schick geschnittenen Ausgehuniform eindeutig den Vorzug gegeben hätte. Ihr Blondschopf war kurz geschnitten, die kurzärmelige Outdoor-Bluse und die eng anliegende Stretchhose betonten ihre sportliche, aber durchaus weibliche Figur. Marie-Rose Duroc umgab eine burschikose und doch feminine Aura, die sie auch heute mit einer feinen Parfumnote betonte. Mit ihren weich modellierten Gesichtszügen und dem kleinen neckischen Grübchen am Kinn sah »Rosi« aus wie das flotte, vielleicht noch etwas naive Mädel vom Land. Doch der erste Eindruck täuschte gewaltig. Die Co-Produktion eines auf Eichenholz-Restaurierungen spezialisierten bretonischen Schreiners und einer aus dem Inntal stammenden Vergolderin und Fassmalerin hatte es faustdick hinter den Ohren. In einer lässigen Geste erhob sie ihren Arm zum Gruß. Kriminalkommissarin Duroc war seit knapp zwei Jahren Teil der Abteilung K 1 der Kriminalpolizeiinspektion Rosenheim. Reimers hatte keinen Grund zur Klage, seine »Neue« war weder launenhaft noch kapriziös. »Rosi« war die Gewissenhaftigkeit und Beharrlichkeit in Person, diszipliniert, zielstrebig und umsichtig. An ihrer fachlichen Kompetenz war nichts auszusetzen. Mit ihr hatte er eine akribisch arbeitende Ermittlerin an seiner Seite, die mit unermüdlichem Bienenfleiß Unterlagen und Datenbanken durchforstete, Zeugen befragte und sämtliche relevanten Fakten wie die Teile eines Puzzles zusammentrug. Das Einzige, was ihr noch abging, war die berühmte »Spürnase«, der siebte Sinn, die kriminalistische Intuition, die vielleicht so weiblich nicht war. Sie sprühte förmlich vor Tatendrang: »Guten Abend, Chef. Tatort Friedhof – mal was Neues. Ich möchte nicht pietätlos erscheinen, aber eigentlich könnten Sie den Toten gleich da drüben aufbahren.« Kommissarin Duroc neigte ihr blondgelocktes Haupt in Richtung Leichenschauhaus.

»Nun, erst mal muss unser Kunde noch unters Messer. Auch wenn Todesursache und Todeszeitpunkt ja festzustehen scheinen.« Es sollte jovial und zupackend klingen – kam aber eher abschätzig und von oben herab daher – so schob er hastig nach: »Den Meldedaten nach kommt das Opfer aus einem Nachbarort, Rauholzen. Er wird also kaum hier beerdigt werden, das wäre dann doch ein wenig, hm, makaber.« Die Kriminalkommissarin nickte mechanisch – schien ihm aber nur mit einem Ohr zugehört zu haben. »Der diensthabende Gerichtsmediziner Doktor Bruckmann hat die Leiche untersucht. Tödliche Schussverletzung, unzweideutig. Das Projektil hat, wie sagt man, ins Schwarze getroffen und das Herz perforiert, ja zerfetzt.«

Zwei dunkelblaue Augen mit einer Schattierung ins Grünliche blickten ihn fragend an. »Und die Spurensicherung, haben die schon was für uns?«

Seine Untergebene musste ein hämisches Grinsen unterdrücken. »Ein Biergarten als Tatort, das ist für unseren Ober-SpuSi doch ein gefundenes Fressen. Optimale Arbeitsbedingungen, massig Spuren, noch frisch und bestens konserviert. Ein wahres Schlaraffenland, wenn ich ihn zitieren darf.« Orterer, den Leiter der KTU, würde er sich später noch vorknöpfen.

Reimers blickte sich misstrauisch um, so als ob er jeden Moment einen Angriff aus dem Rückraum befürchtete. Nun, es half alles nichts, er musste das leidige Thema anschneiden: »Was ist mit dem Staatsanwalt, hat er schon das Go gegeben? An einem Tod durch Fremdeinwirkung kann wohl kein berechtigter Zweifel bestehen.« Über Durocs weichgezeichnete Wangen huschte ein Schatten. Wie jeder aufrechte Kripo-Beamte stand sie auf Kriegsfuß mit den Herren und Damen in ihren mit Samt besetzten, schwarzen Roben. »Ehe ich’s vergesse, Doktor Knittelbeck wünscht Sie umgehend zu sehen – offenbar besteht Gesprächsbedarf.« Seine Gesichtszüge verhärteten, seine Haltung versteifte sich. Ausgerechnet Knittelbeck – dieser überkorrekte, pedantische Korinthenkacker. Das bedeutete zweierlei: Ärger und Überstunden. »Und die Fahndung ist raus, nehme ich an? Haben wir schon eine konkrete Spur?«

Duroc hatte ihre Hausaufgaben gemacht und schnarrte wie ein bretonischer Polizeioffizier: »Fahndung läuft, mon Commissaire. Wir suchen nach drei verdächtigen Personen – mögliche Tatzeugen! Und nach einem Wagen – wahrscheinlich mit Tiroler Kennzeichen! Überdies haben wir einen anonymen Hinweis aus der Bevölkerung erhalten.«

Reimers blickte überrascht auf – das war weit mehr als erwartet. Wieso hatte Duroc nicht gleich erwähnt, dass es eine heiße Fährte gab? »Wissen wir, nach was wir suchen, Marke, Modell?«

»Die Ringfahndung steht – aber wir haben verdammt wenig. Nur den vagen Hinweis, dass es sich bei dem gesuchten Fahrzeug um einen Geländewagen handeln … könnte.«

Sein Jagdinstinkt war nun vollends erwacht. Reimers schielte aufs goldumrandete Ziffernblatt seiner Armbanduhr. »Wann kam der Notruf rein? Vor einer Stunde?«

Durocs Blick war hellwach – sie hatte verstanden. »Moment, Chef.« Sie wischte auf dem Display ihres Tablet-PCs herum. »Hmm, per Teamwire kam nichts rein, komisch.«

In Momenten wie diesen nervte Reimers die stets um penible Korrektheit bemühte Art seiner Kollegin. Ungeduldig knurrte er: »Vergiss die exakte Uhrzeit! Seit wann wissen wir von der Karre – und von wem kommt die Info?« Duroc blätterte hektisch in ihrem Notizblock, schlagartig entspannte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht: »Da, ich hab’s. Um 17 Uhr 52 kam der erste Notruf rein. Es hat immerhin 15 Minuten gedauert, ehe die erste Streife vor Ort war.«

»Scheißfeierabendverkehr«, warf Reimers ein.

»Einer der Zeugen will einen Offroader gesehen haben, der mit quietschenden Reifen davonfuhr. Da könnte durchaus eine Koinzidenz bestehen.«

Und ob es da einen Zusammenhang gab – Reimers war sich sicher. »Woher wissen wir das mit dem Tiroler Nummernschild?«

Eine tiefe Querfalte furchte Durocs Alabasterstirn – ihre Miene glich der eines asiatischen Denkers, der nach einer Antwort auf die Frage nach dem finalen Sinn des Lebens suchte. »Das ist merkwürdig, Chef.« Die junge Kommissarin blätterte eifrig in ihrem Stenoblock: »Das ist hier nirgends vermerkt. Die Kellnerin, Irmi irgendwie, hat die Leitstelle kontaktiert und einen Schusswechsel gemeldet. Dass es einen Toten gegeben hat, haben erst die Kollegen von der Streife bemerkt.« Langsam langte es ihm.

»Gut, das können wir alles später klären. Pföderl wird die Tatzeugen eingehend befragen! Kommen wir zum Punkt, bitte!« Duroc hob den Blick – und er meinte darin so etwas wie Unverständnis und Missfallen zu lesen. Doch sein rüder Befehlston zeigte Wirkung, seine Assistentin fasste sich kurz: »Sorry, Chef, aber die Geschichte ist reichlich verwirrend und kompliziert. Die beiden Polizisten haben als Erstes die Kellnerin und die vier anwesenden Stammgäste zum Tathergang befragt. Offenbar hat das Opfer mit drei anderen Männern Karten gespielt. Schafskopf, sagt man so?« Reimers seufzte – Poker, Blackjack oder Schafskopf, das war für die Ermittlungen wohl ohne Belang. »Zwei der Mitspieler waren so etwas wie Stammgäste und mit dem Opfer befreundet, ein Polizeihauptmeister aus Oberaudorf und sein Spezl, bis vor einigen Jahren bei einer Spezialeinheit, SEK oder so. Namen und Adressen haben wir. Der dritte Mann ist dagegen namentlich nicht bekannt – das ist der mit dem Tiroler Kennzeichen.« Reimers rang die Hände, doch die Kommissarin räusperte sich ausgiebig, ehe sie in verschwörerischem Ton fortfuhr: »Jetzt wird es dubios, ja mysteriös, Chef. Wieder fünf Minuten später, um …« Duroc holte sich in ihrem Notizblock die letzte Gewissheit: »… um 18 Uhr 13 erhielt die Leitstelle einen anonymen Anruf. Mit verstellter Stimme und in abgehackten Sätzen hat der Anrufer etwas von einem Amokschützen am Greinbacher Friedhof gefaselt. Der Täter sei mit einem SUV in silberner Metalliclackierung – einem Audi Q3 oder einem BMW X3 – unterwegs. Ohne Angaben zur Person zu machen, hat unser Informant, oder soll ich sagen Denunziant, das Gespräch beendet.«

Reimers blickte erneut auf die Uhr, das war vor einer Dreiviertelstunde gewesen. »Woher kam der Anruf, wissen wir das wenigstens?«

»Aus einer Telefonzelle am Bahnhof in Raubling.« Raubling? Das war mindestens 10 Kilometer von Grainbach entfernt. Der Kommissar fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch sein noch dichtes, mahagonibraunes Haupthaar. Langsam wurde es kompliziert: ein Geländewagen unten am Gasthaus, ein SUV oben bei der Kirche. Wie passte das zusammen? Es war unwahrscheinlich, dass ihnen der Nobelhobel oder der Furchenflitzer ins Netz ging – dafür war die Beschreibung zu unpräzise. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, brummte er: »Und – haben wir eine Meldung hereinbekommen?«

Duroc hob ihre schön geschwungenen, rostbraun gefärbten Brauen: »Rien, Chef, malheureusement. Sämtliche Streifenwagen wurden umgehend alarmiert, Kontrollstellen an den Ausfallstraßen eingerichtet, die Verkehrsüberwachungscams im fraglichen Bereich haben alles aufgezeichnet. Nur ist nirgends ein SUV, auf den die Beschreibung passt, aufgetaucht. Und Tiroler Kennzeichen, nun ja, die sind bei uns zu Hunderten unterwegs.«

Reimers zuckte mit den Achseln: »Merci, Duroc, gut gemacht. Am Ende rast unser Freund in eine Radarfalle.«

Ein spöttisches Lächeln lag auf den nur leicht geschminkten Lippen seiner Junior-Partnerin. »Schön wär’s! Laisser pisser le mérinos.« Er würde Knittelbeck vorschlagen, die Errichtung einer Soko »Friedhof« oder »Kastanien-Killer« in Betracht zu ziehen. Sollte sich der Staatsanwalt darum kümmern, die notwendigen richterlichen Beschlüsse einzuholen und einige Leute zusätzlich auf den Fall anzusetzen. Arbeit würde es genug geben, sie würden das Zentrale Fahrzeugregister, das ZFZR des Kraftfahrt-Bundesamts, nach einem metallic-silbernen SUV der Marken BMW und Audi durchkämmen müssen. Knittelbeck würde auf der Suche nach einem in Tirol zugelassenen Allrad-Kübel bei den österreichischen Kollegen um Amtshilfe nachsuchen müssen – die würden sich bei den Piefkes bedanken. Doch der Staatsanwalt konnte warten. Ganz oben auf der Prio-Liste stand jemand anders: Fritz Orterer, der Herr der Unterwelt.

Die Ortsnetzstation mit der TH-Nummer 408158 hatte den Netzbetrieb eingestellt. Der Strom war weg – und mit ihm das Summen und Brummen. Eine verirrte Kugel hatte das elektronische Herz der Schaltanlage getroffen. Es hatte einen Kurzschluss gegeben und die Fertigbetonplatten des Häuschens hatten sich mit lautem Getöse in ihre Bestandteile zerlegt. Kiloschwere Betonbrocken lagen verstreut auf Feld und Flur. Zu Schaden gekommen war – der Jungfrau Maria sei Dank – niemand. Nur auf der angrenzenden Weide war eine werdende Muh-Mutter von einem Splitter am Gesäß getroffen worden. Heute würde wohl nur gestöckelte Milch aus ihrem Euter tröpfeln. »Klassischer Kollateralschaden, Herr Hauptkommissar«, konstatierte der zur Bewachung des Unglücksorts abgestellte Beamte. Den Schulterklappen nach war der rotwangige Gebirgs-Gendarm Polizeiobermeister. Dienstbeflissen lüpfte er das rot-weiß-rot gestreifte Flatterband – und Reimers schlüpfte unten durch. »Wissen Sie, wo der Leiter der Spurensicherung steckt, taucht er noch irgendwo hier herum?«

Der Mann in Grün zog vielsagend die Augenbrauen hoch: »Volles Programm. Das wird heut’ spät! Meinen Stammtischabend kann ich vergessen.«

Reimers blinzelte dem mindestens 1 Meter 95 messenden Hünen zu. »Mir geht heute ein Chablis Premier Cru mit blumigem Bouquet durch die Lappen. Und mit dem Sundowner an der Alm-Bar wird es erst recht nichts.«

»C’est la vie. Bis ich heimkomme, liegt meine Freundin auf der Couch und schnarcht gemütlich vor sich hin. Und nix wird es mit der wilden, zügellosen Sexorgie.« Der Polizist lachte glucksend – irgendwie war ihm der Bursche, der in seiner schlecht sitzenden Uniformjacke und den zu kurz geratenen Hosenbeinen nicht gerade eine »bella figura« machte, sympathisch. Um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, umkreiste Reimers das bis auf die Grundmauern zerstörte Gebäude im weiten Bogen. Die Entfernung zwischen dem Friedhof und der Trafo-Station, die jenseits der schmalen Straße lag, betrug Pi mal Daumen 70, höchstens 80 Meter. Der Schuss könnte also von dort drüben gekommen sein und einem fliehenden Fahrzeug gegolten haben. Doch die Kugel hatte ein anderes, unbewegliches Ziel gefunden. Reimers zwängte sich durch eine buschige Hecke und besah sich das Trümmerfeld aus der Nähe. Einer der beiden Schutzanzugträger wühlte geschäftig in dem wirren Durcheinander aus Schalttafeln, Verteilerkästen und bunten Kabelsträngen herum. Alles, was nur entfernt nach einem Beweisstück aussah, wanderte in einen Plastikbeutel mit Zip-Verschluss. Jedes Tütchen bekam einen Aufkleber, der steckbriefartige Informationen zu Fundort und Art des Beweisstücks enthielt. Die andere Gestalt von eher kleinem, um nicht zu sagen zwergenhaftem Wuchs kratzte mit einem spitzen Gegenstand, einem Schraubenzieher oder Stechbeitel, an einem verbogenen Kunststoffblech herum. Unter dem maßgefertigten Schutzanzug zeichnete sich die Wölbung eines stattlichen Ranzens ab, der darauf hindeutete, dass der Spurensucher kein Kostverächter war. Das Zwetschgenmandl, wie man kleinwüchsige Männer hierzulande abklassifizierte, war niemand anders als der Leiter der Kriminaltechnik, Fritz Orterer. Dieser wandte sich an seinen ihn um zwei Köpfe überragenden Kollegen und deutete mit kurzen Stummelärmchen aufgeregt auf einen unförmigen Mauerbrocken, unter dem irgendein Plastikteil begraben lag. Hatte sein Luchsauge etwas erspäht?

Es war Zeit, an die Pforten der Unterwelt zu pochen. Er kletterte über einen Schuttberg und stützte sich am Skelett der Außenmauer ab. »Schönen Abend, na, pickt ihr euch die Rosinen aus dem Gugelhupf? Was gefunden?«

Orterer blickte überrascht vom Objekt seiner Begierde auf – ein Lächeln huschte über seine Wulstlippen. »Nur ein paar zerdepperte Überreste der Belüftungsklappen.« Wie ein Reck-Turner schwang er seine Bonsai-Beinchen über den Betonklumpen und hob die behandschuhte Rechte. Die Haube des Schutzanzugs klappte nach hinten und darunter kam ein, vom Haarkranz am Hinterkopf abgesehen, kahler Schädel zum Vorschein. Der Zwillingsbruder von Danny de Vito war sichtlich erfreut, ihn zu sehen. »Ah, Herr Kommissar. Welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte. Was führt Sie zu mir?«

Reimers machte ein überraschtes Gesicht: »Die Pflicht, was sonst! Die Wahrheit ist’s, die ich zu ergründen suche!«

Orterers Adamsapfel hüpfte vergnügt auf und ab. »Un peu de patience, die Nornen spinnen noch an des Schicksals Fäden.« Ehe Reimers reagieren konnte, schob der Gnom sein Kinn vor. »Sie wollen wissen, wie ich die Sache sehe, deswegen kriechen Sie hier im Dreck herum, erraten?«

Wie ein überführter Missetäter kratzte sich der Kommissar an einer schorfigen Stelle am Hinterkopf. »Eine Rekonstruktion des Tathergangs wäre schon hilfreich.«

»Nun denn.« Der Bericht des Spuren-Spezis war eine Aneinanderreihung kurzer, stakkatoartiger Sätze. »Der Schütze schraubt seine Waffe zusammen, kauert hinter der Friedhofsmauer. Er steckt sich eine Kippe an, Asche rieselt herab. Er legt das Gewehr neben sich in den Kies, späht über den Rand des Mäuerchens. Das Zielobjekt sitzt nichts ahnend im Biergarten – wie festgenagelt, praktisch! Er klappt das Visier hoch, stützt sein Gewehr ab, kneift die Augen zusammen und – kawumm. Meine Leute haben drei Patronenhülsen, Jagdmunition, Standard-Kaliber, eingetütet – was folgt daraus?«

Reimers hüstelte in seinen schütteren Spitzbart. »Der Täter hat dreimal gefeuert – aber nur einmal getroffen.«

Orterer schnaufte kurzatmig. »So ist es. Ein Projektil steckt im rechten Hinterreifen eines vor dem Gasthof parkenden Fiat Punto. Der Rostkübel gehört einem Matthias Wachtveitl, vierschrötiger Typ, Marke Räuber Hotzenplotz. Eine Kugel geht ins Blaue. Aber aller guten Dinge sind drei – die Dritte sitzt, die Pumpe platzt. Was folgern wir daraus?« In Orterers Augen blitzte der Schalk.

Reimers strich sich ums spärlich behaarte Kinn. »Da sehe ich zwei Alternativen. Entweder wir haben es mit einem Sonntagsschützen zu tun, der einen Zufallstreffer landet. Oder einem Profi, der uns nach Strich und Faden verarscht.« Die Äugelein des KTU-Leiters verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. »Ein Täuschungsmanöver? Scusi, das halte ich für abwegig. Unser Attentäter war hochgradig nervös. Er hat die Tat zwar von langer Hand geplant, aber stümperhaft ausgeführt.« Der Kommissar schniefte, es war merklich kühler geworden. Er fror in der leichten, luftigen Freizeitkluft – er hätte sich eine Strickjacke um den Hals schlingen sollen. »Sie hören sich ja schon an wie der Großneffe von Hercule Poirot.«

Orterer verzog keine Miene, der spöttische Unterton in seiner Replik war allerdings unüberhörbar: »Wir liefern die Fakten, die Kripo den Täter ans Messer! Es ist Ihr Job, die richtigen Schlüsse aus der vorliegenden Kausalkette zu ziehen.« Orterer hatte seine Fäuste kampflustig in die Hüfte gestemmt.

»Und wie sieht die Ihrer Meinung nach aus?«

Der Chef-Spurenleser wies mit der ausgestreckten Hand zum Hügel hinüber. »Den Fluchtweg kann ich anhand der Spurenlage mit dem Lineal nachzeichnen: Unser Mordschütze gibt den letzten Schuss ab, steckt sich eine zweite Zigarette an.«

Reimers überlegte laut: »Er zögert, will sich überzeugen, ob er sein Ziel nicht doch verfehlt hat.«

Orterer schnippte ein paar Staubpartikel vom Ärmel seines Schutzanzugs. »Nun, vielleicht hat er aber auch auf die Nachricht eines Komplizen gewartet. Mission completed.«

Die Stirn des Kommissars wellte sich. »Durchaus möglich. Er verstaut sein Gewehr in einer Sporttasche und verschwindet unauffällig vom Tatort.«

»Falsch«, korrigierte ihn Orterer. »Er hat es plötzlich eilig, er springt auf und rennt los. Bei seiner Flucht hinterlässt er deutliche Vertiefungen im sauber geharkten Kiesweg. Er schlittert die Böschung hinab und steigt in einen frisch aufgeworfenen Maulwurfshaufen.«

»Ihr habt einen Schuhabdruck?« Reimers war beeindruckt. Die Jungs waren fix. »Gummisohle. Fünf Millimeter Profiltiefe. Ein robuster Bergstiefel, relativ neu oder zumindest selten getragen. Marke und Modell liefern wir nach.«

Reimers war, was nicht allzu oft vorkam, perplex. Um nicht wie ein Dilettant dazustehen, kam er auf das Fluchtfahrzeug zu sprechen. »Unten an der Straße wartet ein Mittelklasse-SUV, BMW oder Audi auf ihn.«

Jetzt war es Orterer, der ihn erstaunt musterte: »Parbleu, Kompliment, exakt! In den weichen, noch feuchten Untergrund hat sich das Profil der Pneus gestochen scharf eingestanzt. Selbst für einen Laien nicht zu übersehen. Pfeilmuster mit schmalen Rillen.« Der Meister war sichtlich stolz auf die professionelle Arbeit seiner Techniker-Truppe: »Wir haben Gipsabdrücke genommen. Ich bin zwar kein Spezialist, aber die Reifen waren ziemlich breit – Größe 235/55 R 17, grob geschätzt. Nächste Abteilung Bulldog oder Bagger.«

Reimers nahm sich vor, Orterer demnächst auf einen Mojito und eine Cohiba in die »Bar Cubano« einzuladen. »Hersteller, Serien- und Chargennummer?«

»Liegt spätestens Dienstag auf Ihrem Tisch. Sie können die Infanterie schon mal instruieren. Mit der Reifenbeschau sollten sie in den Doppel- und Dreifachgaragen anfangen.«

Reimers kam sich wie ein biederer und begriffsstutziger Provinz-Profiler vor, der nichts wirklich Wesentliches zur Aufklärung des Falls beisteuerte. »Hut ab, das ging ja flott!« Mit einem Auge linste er auf die Zeiger der Armbanduhr. »Die Mord-Meldung kam erst vor knapp zweieinhalb Stunden rein.«

Der Chef-SpuSi wiegelte ab: »Ich war grad zufällig ums Eck – und fürs Herumsitzen werde ich schließlich nicht bezahlt. Ah, da wäre noch etwas, kommen Sie.« Mit einer energischen Handbewegung bedeutete er dem Kommissar, ihm zu folgen.

Im Trippelschritt steuerte Orterer auf die mannshohe Mauer zu, die den Friedhof auf der Südseite umschloss: »Hier hat noch jemand herumgeballert, und zwar mit einer Schrotflinte. Magnum-Patronen Kaliber 12, Hülsenlänge 76 Millimeter.«

Reimers dackelte wie ein getreuer Jagdhund hinterher – langsam wurde ihm dieser Wunderknabe unheimlich. »Weshalb das? Das ergibt doch nur einen Sinn, wenn es jemand auf den Täter abgesehen hat. Aber wenn ich einen Mitwisser beseitigen will, dann doch nicht hier, sondern an einem stillen Örtchen.«

»Na ja, es könnte sich auch um jemanden handeln, der den Mord verhindern wollte«, mutmaßte Orterer. »Wir haben drei Hülsen respektive die Geschossböden der Schrotpatronen eingetütet. Das Zeug ist aus Messing und glänzt, dass jede Elster neidisch wird.« Behände erklomm Orterer die Böschung und tastete sich am Mauerwerk entlang. An mehreren Stellen war der Putz abgebröckelt. »Sehen Sie, überall feiner roter Ziegelstaub.« Der Kommissar fuhr mit den Fingerspitzen über die betreffende Stelle. Orterers Diagnose war auf den Punkt: Eine Schrotladung – kleine Eisenkügelchen aus Hartblei – hatte die Wand durchsiebt, Schrammen und Furchen hinterlassen.

Reimers arbeitete ungern mit ungesicherten Hypothesen, doch die Spuren legten die Vermutung nahe, dass ein Unbekannter auf den Attentäter gefeuert hatte – in klarer Tötungsabsicht: »Deswegen hat der Mordschütze so überstürzt reagiert. Er hat bemerkt, dass ihm jemand auf den Fersen ist. Auf dem Weg zum Wagen wurde er beschossen – aus einer Jagdflinte.«

»Plausibles Szenario.« Orterer nickte zustimmend. Dunkelheit kroch aus den Ritzen des Gemäuers.

Die rußgeschwärzte Ruine der Trafostation erinnerte ihn an ein Spukschloss. »Noch ein Sonntagsschuss – der einen Kurzschluss und eine Detonation verursacht.«

»Licht aus, Spot an«, kommentierte Orterer lakonisch. Er wiegte den Kopf – und schien Reimers Hypothese in Zweifel ziehen zu wollen: »Nun, es ist Ihre Aufgabe, den Tathergang zu klären. Ich würde aber annehmen, dass der Mann mit der Flinte von hier drüben den Hang hochkam.« Orterer deutete auf ein weites, freies Feld. Das Gelände stieg nur sanft an – und war frei einsehbar. Es erschien Reimers unwahrscheinlich, dass jemand das Risiko einging, einfach so querfeldein über die Wiese zu hoppeln. »Gleich nach Sonnenaufgang lass ich das Terrain abgrasen, vielleicht findet sich was. Ein Stofffetzen an einer Brombeerranke, ein Faserrest, ein Papierfitzelchen, irgendetwas.«

Reimers blieb skeptisch: »Wenn unser Mister X von dort kam, hätte er doch mitbekommen, dass hier oben scharf geschossen wird. Wer begibt sich freiwillig auf ein solches Himmelfahrtskommando?« Reimers strich über den völlig zerknitterten Kragen eines teuren, taubenblauen Leinenhemds. Er hatte am Morgen sein Outfit mit ungewöhnlicher Sorgfalt zusammengestellt, um sich bei der Kneiptour mit dem stets modisch akkurat gekleideten »Dressman« Dirk keine Blöße zu geben. Nach der Landpartie sah er jedoch wie eine zerzauste Vogelscheuche aus.

Orterer ließ nicht locker, der Gedankengang des Kommissars leuchtete ihm nicht recht ein: »D’accord! Was wissen wir? Sämtliche Indizien legen die Vermutung nahe, dass der Attentäter ein Amateur ist. Welcher Profi-Killer würde achtlos seine Kippen – übrigens der Billigmarke ›Giants‹ – wegschnippen?« Das Argument war durchaus stichhaltig – im menschlichen Speichel fand man eine Vielzahl von Stoffen, Proteine, Aminosäuren, Enzyme sowie eine bunte orale Mikroflora. Der Speichel enthielt aber auch – und das war entscheidend – Zellmaterial. Aus den Zellen der Mundschleimhaut ließ sich DNA isolieren. Somit hatte ihnen der Täter einen lupenreinen genetischen Fingerabdruck hinterlassen.

Kommissar Reimers versuchte sich in einer diabolischen Taktik, der Dialektik. Er schlug den Spagat zwischen These und Antithese, um seine eigene Hypothese infrage zu stellen. »Nehmen wir mal an, jemand ist so tollkühn und stürmt den Hügel hoch. Wo ist er dann hin?«

Orterer überlegte. »Gehen wir davon aus, dass unser Attentäter in Panik gerät. Was macht er?« Reimers nahm die Flanke volley: »Er türmt – und sein Verfolger setzt ihm nach.« Falls ihre Schlussfolgerung zutraf, dann war der Jäger zum Gejagten geworden. Er war auf der Flucht. Und würde Fehler machen.

Bayerische Hinterhand

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