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Herz Sieben

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Die »Linde« zu Grainbach war einer jener magischen Orte, um rituelle Schlachtfeste zu zelebrieren und den Ahnen zu opfern. Was für einen Japaner der Shinto-Schrein und der Sake, waren für einen Bayern das Fass und die Maß. In den Wirtsgärten beschworen die Adepten der überkommenen Bräuche und Traditionen nicht nur die Geister der guten, alten Zeit, sondern frönten auch rein weltlichen Vergnügungen. Diesseits und Jenseits gehörten hierzulande zusammen wie die Sau und der Speck, wie der Mensch und der Dreck. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Beim Wetter allerdings musste man im Oberland mit allem rechnen. Mit Schnee im August wie mit Föhnstürmen im Februar. Vorige Woche hatte ein heftiger Flockenwirbel das frische Grün glasiert. Raureif hatte Feld und Flur überzuckert. Endlich war die Eiszeit passé, der Frühling eingekehrt. Ein laues Lüftchen ließ die ersten Blätter in Bäumen und Büschen rascheln. Die Luft war von samtener Konsistenz, das Licht flauschig und flaumig. Kreidegriffel kratzten Zaubersprüche auf die Schiefertafeln: »Biergarten geöffnet«. Auf den Balkonen stapelten sich die Blumenkästen, bald würde darin das Scharlachrot der Geranien erblühen. Lichtgirlanden schlängelten sich wie Riesenschlangen von Ast zu Ast. Aus den Lautsprecherboxen jodelte alpenländische Folklore, Boarische oder Zwiefacher. Die ersten Starkbier-Striezi suchten sich ein Sonnenplätzchen. Die Haut fahl und fleckig, die Speckschicht stattlich. Der Winter hatte deutliche Schmauchspuren hinterlassen. Die kraftstrotzenden Naturburschen in den alten Heimatfilmen à la »Jäger von Fall« sahen anders aus. Da entsprach der Lindenwirt schon eher dem Archetyp des strammen Mannsbilds: breitschultrige, kräftige Statur, muskelbepackte Oberarme, dazu ein fein gezwirbelter Schnurrbart, der die kantigen Züge perfekt zur Geltung brachte. Wie es sich für einen urtümlichen Gamsbart-Gastronomen geziemte, war er in Loden und Leder gewandet. Mit Adleraugen kontrollierte er, ob vor Ort alles picobello war. Die Inspektion fiel zu seiner vollsten Zufriedenheit aus, sodass er am Rückweg seiner Stamm-Kellnerin Irmi gravitätisch zunickte: »Fesch bist beinand, zum Anbeißen!« Irmi hatte sich auch alle Mühe gegeben: die weiße Bluse, das grüne Dirndl, den rosafarbenen Rock mit Blümchenmuster aus dem hintersten Winkel des Bauernschranks gezerrt. Sogar ein gelbes Bändchen hatte sich Irmi in das zum Zopf gebundene Haar geflochten. Das Bier würde nur so aus den Zapfhähnen schießen, der Appetit auf Schweinshaxen und Zigeuner-Spießchen riesig, das Trinkgeld dementsprechend üppig sein. Noch hatte Irmi Zeit, um die Boazn-Bagage, die sich in ihren speckigen Garnituren um den Stammtisch geschart hatte, auf Touren zu bringen. Das mit animalischen Grunzlauten unterlegte Geknurre mochte bei einem des bayerischen Idioms unkundigen Beobachter den Eindruck erwecken, dass eine Horde Neandertaler die letzte Eiszeit unbeschadet überstanden hatte. Aus heiserer Kehle krächzte der Buchwieser Wigg: »I sog oiwei gegga an Misthaufen kannst ned ostinga!« Der zweite im Bier-Bunde, der Unterleitner Rudl, nuckelte an seinem Glas: »Es ist doch so: Gschlampert macht wampert, das ist ein Gesetz der Natur!« Angesichts dieser tiefgründigen Stammtisch-Weisheiten mochte Trachtenträger Nummer Drei, der Glaserer Gustl, nicht zurückstehen: »Wie beim berühmten Satz des Pythagoras, von nix kummt nix.« Der Vierte in der Zecher-Runde, ein vierschrötiges Mannsbild vom Format des Riesen Goliath, meckerte wie ein Ziegenbock: »Das ist eine Sentenz von Sokrates. Dich haben s’ auch mit Semmelbröseln aus’m Woid rausgelockt.« Unterleitner hatte unterdessen sein Glas geleert und kniff die Kellnerin ungeniert ins gut gepolsterte Hinterteil: »Ah, du Hirnbeiß! Das ist das Paradoxon des Diogenes! Sei so guad und bring mir noch ein Helles!« Irmi rüffelte den ungehobelten Lackel: »Nimm deine dreckerten Pratzen weg, alter Saubär!« Irmi schlug einen geschäftsmäßigen Ton an: »Noch was? Dann muas i ned zwoamoi roaffen!« Die Antwort kam wie aus einer Kehle: »Zwei Halbe Dunkle und ein Weißbier!« Der Riese mit dem Körperbau eines Gorillas, der Wachtveitl Hias, feixte vergnügt: »Dei Vater war a Bräuross ha, i moan bei dem broaden Oarsch?« Die Malz-Matz war nicht auf den Mund gefallen. Mit gekonntem Hüftschwung zeigte sie den Boaznbrüdern ihre rückwärtigen Reize: »Red du nur, du aufgestellter Mausdreck! Erbsen, Bohnen, Linsen – lassen des Oaschal grinsen!« Drei der Stammtischbrüder glucksten, als ob jemand einen zotigen Witz gerissen hätte. Der Wachtveitl Hias murrte griesgrämig in seinen Prinzregenten-Gedächtnisbart: »Weiber sterben is koa Verderben, Vieh verrecka, des ko schrecka!« Es war wie mit Yin und Yang, Tag und Nacht. Eine ewige Polarität, die die Funken fliegen ließ. Ein Scheitl allein im Kamin aber brannte schlecht.

An Tisch Nummer fünf ging es beileibe nicht so zünftig und fidel zu wie bei den Boaznbrüdern nebenan. Vier Männer saßen schweigend da, ihre Mienen so unergründlich wie die bayerische Seele. Verstohlene Blicke suchten in den Gesichtern ihrer Mitspieler zu lesen. Kryptische, wie von einer Codiermaschine verschlüsselte Sätze waren zu vernehmen: »Auf die Bumms!«, »Den pack i dant!«, »Mit der Oidn, bist gut ghoitn!«, »Hau a Pfund nei!« Das Schafkopf-Vokabular war nur jenen vertraut, die in die Mysterien von Ober und Unter eingeweiht waren. Schafkopf war kein Kinderspiel, nein! Hier wurde die hohe Kunst des Kartelns zelebriert. Jeder der vier suchte zu ergründen, wie es um das gegnerische Blatt bestellt war, welche Trümpfe der Vordermann in der Hinterhand hatte. Den Blauen, den »Alten« gar? War er farbfrei, in Schellen, in Eichel? Dem Habichtsblick eines erfahrenen Zockers entging nichts, kein Zucken im Mundwinkel, kein Zeichen des Zögerns und Zauderns. Es galt die Absichten des Gegners zu erahnen, im richtigen Moment einzustechen, um mit einem Stich möglichst viele »Augen« einzustreichen. Eine Sau zählte 11, der Zehner 10, der König 4, ein Ober 3, ein Unter 2 Augen. Die »Luschen«, also Neuner, Achter und Siebener waren »Nullen«. 120 Augen respektive Punkte waren im Spiel, mit 61 war der Sack zu. Und allein darum ging es.

Fair Play war am Kartentisch verpönt, da ging es derb und deftig zu. »So eine Sudsau, so eine verreckte!«, »Abgestochen hätte die Sau gehört!«, »Die Farbe musst du nachspielen, du Trottel!« Das Meckern, Schimpfen und Granteln gehörte einfach zum bayerischen Naturell. Sepp Sonnleitner war ein Parade-Bayer und ein ausgebuffter Kartenfuchser dazu. Schafkopf und Tarock waren für Sonnleitner das, was für Okkultisten und Nekromanten das Tarot war. Mit Argusaugen verfolgte er das Spielgeschehen. Sein Bordcomputer lief auf Hochtouren. Ein eingefleischter Kartler wusste stets, wie viele Punkte bereits vergeben waren. Sein Nebenmann stupste ihn unter dem Tisch an. Ein sicheres Zeichen, dass sein alter Spezl Vitus »Veitl« Rabensteiner ein mieses Blatt hatte. Bei ihm sah es indes nicht besser aus. Fortuna war ihm nicht gewogen. Er lugte zu Rabensteiner hinüber, der wie aus dem Landei gepellt war: kuhbraune Lederhose, blau-weiß kariertes Hemd, samtschwarzes Gilet mit rot paspelierten Taschen, fichtengrüner Trachtenhut mit Band und Kordel. Von der Statur her glich Rabensteiner einem Sumo-Schwergewichtler. Mit seinen Bären-Pranken, den muskulösen Oberarmen und dem Brustkorb eines Zugochsen flößte er jedem potenziellen Gegner Respekt ein. Zweifelsohne war Veitl ein beeindruckendes Exemplar der Gattung Homo Alpiniensis. Doch da war mehr Schein als Sein. Rabensteiner mochte den Macho-Macker geben, doch daheim hatte er nichts zu melden. Da hatte seine Gemahlin Irina, eine ebenso rassige wie streitlustige Wolgagermanin, die Hosen an. Zu allem Überfluss hatte Madame Rabensteiner beschlossen, ihren Gatten vorerst von Tisch und Bett zu verbannen. Veitl war »auf Bewährung« und logierte draußen im Gartenhäuschen. Die häusliche Situation war also suboptimal und der Druckkessel drohte zu platzen: »Was ist jetzt, Erwin? Wird das heut’ noch was oder scheißt dir in die Hosen?«

Ehgartner ließ solche Verbalinjurien nicht unkommentiert. »Geduld ist die Mutter vom Gulasch. Wir sind hier nicht beim Watten oder Grasobern. Das richtige Anspiel will wohlüberlegt sein.« Das hämische Grinsen schürte in Sonnleitner die Befürchtung, dass der niederträchtige Loden-Loder ein Bombenblatt hatte. Ehgartner war listig wie ein Fuchs, gerissen wie ein Waschbär und nachtragend wie ein Elefantenbulle. Mit seinem Stiernacken, den walzenförmigen Wadeln und dem grellrot glasierten Sauschädel sah er aus wie der Zwillingsbruder der bayerischen Polit-Ikone FJS. Sein vulkanisches Temperament und sein Jähzorn waren gefürchtet. Zumal er ohne Umschweife mit der Zielstrebigkeit eines Presslufthammers in den »Infight« ging.

Kartler Nummer vier riskierte eine dicke Lippe: »Ist dir der Erzengel erschienen oder hast grad dein Damaskuserlebnis? Ich hätt’ ein Spiel!«

Ehgartner mimte den jovialen, vor Selbstgefälligkeit strotzenden Großbauern. »Schaut schlecht für dich aus, mein Freund. Ich sitz vorn!« Sepp Sonnleitner scannte zum wiederholten Mal seine Karten, doch sie wurden nicht besser. Zwei Säue, der Herz Zehner, zwei Könige, drei windige Luschen. Trümpfe – Fehlanzeige. Obendrein war die Gras Sau blank, das sah nicht gut aus, gar nicht gut. Ohne das nötige Kartenglück war beim Schafkopf kein Sauschwänzchen zu gewinnen. Sonnleitner schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sich der Herrgott seiner erbarmen möge und den Kelch an ihm vorübergehen ließ. »Wenn nix weiter geht, werfen wir zusammen.«

Doch die Rollen waren wie die Trümpfe klar verteilt. »Ich spiel – oder hast was dagegen, Erwin?« Der vierte Mann wurde langsam ärgerlich. Sepp ahnte Schlimmes. Wie es aussah, hatte der Bursche einen astreinen Wenz – bei dem nur die Unter Trumpf waren – auf der Hand.

Der Neue in der Runde war der hagere, habgierige Typ. Sein Raubvogelgesicht, der lauernde, tückische Blick verhieß Ärger. Das kehlige K, das rollende R deuteten darauf hin, dass der beutegierige Berg-Bajuware aus dem südlichen Nachbarland stammte. Sepp hielt nicht sonderlich viel von ihren »Stammesverwandten«. Hinterfotzige Hinterwäldler, deppengesichtiges Diebsgesindel. Und heute plusterten sich die Speckknödelfresser wie die Gockel am Misthaufen auf, nur weil sie dank Pickerl und Pulverpisten zu Geld gekommen waren. Wie ein typischer Vertreter der alpinen Zipfelklatscher-Zunft sah der Großkotz allerdings nicht aus. Handgenähte Lederlatschen, haselnussbraune Flieger-Jacke mit Pelzkragen, moosgrüne Cargohose im Casual-Look. Fehlte nur noch die verspiegelte Ray Ban. Sonnleitner suchte sein Heil im Small Talk: »Wo bist denn her, aus Innsbruck oder von Kitz drüben?«

Die coole Cargohose grinste nur herablassend: »Willst mir eine Ansichtskarte schicken, oder was?«

Ehgartner kicherte wie ein Ziegenbock: »Hofergasse 1 A, haha!«

»Nix für ungut, Salute!« Der unverschämte Kerl, den Ehgartner als »guten Geschäftsfreund und aufrechten Patrioten« gebauchpinselt hatte, erhob das Glas zu einem Toast: »Auf uns, ein einig Volk und Vaterland!«

Ehgartner strahlte über beide Schlitzohren: »So ist es recht, Fichtner! Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel! Wir sind von einem Schlag, schlagen mit geballter Kraft zu. Wir jagen dieses ganze Gesindel zum Teufel und holen uns unser Land zurück.« Wie die bilaterale »Kooperation« zwischen Bayern und Tirolern im Detail aussehen würde, darüber schwieg sich Ehgartner geflissentlich aus. Rabensteiner war wie erwartet – schließlich stammte die Sippschaft seines Vaters aus einem dieser finsteren Bergtäler – sofort Feuer und Flamme: »Bayern und Tirol, dass isch lei oans! Das ist unsere Heimat, die gehört uns allein. Ned den Negerwaschln.« Veitl spuckte gerne große Töne, zumal er zu Hause nichts zu gacksen hatte. Sonnleitner war kein Freund solch zweifelhafter Stammtischparolen. Er war bekennender Bayer und stolz darauf. Deswegen musste er mit seiner Weltanschauung nicht hausieren gehen. Extremismus, in jeglicher Form, war der falsche Weg. Und führte nur zu Hass und Unfrieden. Dass er sich mit ketzerischen oder gar rassistischen Äußerungen zurückhielt, hatte rein pragmatische Gründe: Er war Polizeibeamter, da war es allemal gescheiter, unter dem Radarschirm zu bleiben. Auch wenn er nicht im Dienst, sondern auf der Verliererstraße war.

Ehgartner gab sich einen Ruck. »Herz sticht! Heute ist Zahltag.«

Sonnleitner zischte: »Geh verreck, so ein Dreck.« Hilfeheischend schielte er zu Rabensteiner hinüber. Ihre Blicke kreuzten sich – ein Solo würde ins Geld gehen. Sepp Sonnleitner und Vitus Rabensteiner waren ein eingespieltes Tandem. Seit den Tagen, als sie auf getunten MZ Mopeds zum Grand-Prix-Rennen in Imola gedüst waren – in Nietenjacken, mit zwei Biertrageln und wenig mehr im Gepäck. Sepp und Vitus waren aus demselben Holz gedrechselt. Bayerische Eiche. Sture Dickschädel, die sich in die Haare kriegten und wieder aussöhnten. Aus ähnlich robustem Erbmaterial, doch nach Charakter und Physiognomie durchaus verschieden. Rabensteiner war etwas kräftiger, grobknochiger. In seiner Sturm-und-Drang-Zeit hatte er sich zum Kraftpaket hochgehantelt. Anfang 30 war er jedoch vom Barras-Beau zum Bundesgrenzschutz-Beamten mutiert und hatte gehörig Hüftspeck angesetzt. Bei Sepp hatte es nie zum Muskelmonster gereicht. Er taugte weder zum Athleten noch zum Asketen. Schon als Säugling hatte er mit wahrer Wonne an der Mutterbrust genuckelt. Später dann, im zarten Alter von fünf oder sechs Jahren, hatte der »Sepperl« die kulinarischen Schätze der heimischen Schmankerlküche entdeckt. Die Oma hatte ihren »Enkerl« mit Rindsrouladen, Kalbsnierenbraten, Rahmgeschnetzeltem, Strudel und Striezel verwöhnt. Von da an war es um ihn geschehen. Kalorienarme Grünkost seitdem vom Speiseplan gestrichen: Kaiserschmarren mit Weinbeerl, Krautnocken, marinierte Schweinshaxenscheibchen, Schmorbraten in Dunkelbiersoße. Die »kalorienarme« Kochkunst war ein Garant dafür, dass man nicht zum Knochengerüst abmagerte. In jungen Jahren war er durchaus ein fescher, wenn auch etwas untersetzter Bursch gewesen, vor dem kein Gipfel, keine Gämse sicher war. Erst nach der Heirat mit Vroni war er wie ein Germknödel auseinandergegangen. Liebe ging bekanntlich durch Magen und Gedärm. Ein Prozess, der langsam, quasi organisch vonstattengegangen war. Wie die Eichen im Wald hatte er Jahr um Jahr an Masse und Volumen zugelegt. Vor allem um die Leibesmitte. Bis sämtliche Hosennähte zu platzen drohten. Dieser Umstand hatte Veronika Sonnleitner dazu bewogen, den »gwamperten Uhu« rigoros auf Diät zu setzen. Wellfleisch, Wammerl & Co. wurden ersatzlos gestrichen. Die Fastenzeit hatte den gewünschten Effekt erbracht. Die Waage zeigte zehn Kilo weniger an als noch vor einem Jahr. Er war ganz »spitzig« im Gesicht, wie er fand, aber seine altgediente Lederhose passte wieder wie angegossen.

Erwin Ehgartner rieb seinen himbeerroten, von einem feinen Geäst kapillarer Blutgefäße durchflochtenen Zinken und strahlte über beide Schweinebacken. »Packt’s den Geldbeutel aus!« Seine Wieselaugen glänzten wie bei der Hennen-Hatz im Hühnerstall. Sonnleitner strich sich eine widerborstige Strähne aus der Stirn. Die dichten Brauen des Tirolers zogen sich erstaunt zusammen. Er bleckte eine Reihe perlmuttweißer Zähne und leckte sich die Oberlippe: »Herz Solo? Bist du dir da sicher? Da drauf spritz ich!« Sein Lächeln war so tückisch wie das eines Beutelschneiders, der einen Sack voller Dukaten in Griffweite wähnte. Eine schier unerträgliche Spannung lag in der Luft. Ehgartner reckte sein Doppelkinn kämpferisch vor: »Einen Stoß gibst! Sapperlot, du traust dich was, Bürscherl.« Jeder am Tisch wusste, was die Stunde geschlagen hatte. High Noon – Showdown! Erwin Ehgartner saß vorn. Er war also am Zug. Er hatte eine lauernde Haltung eingenommen und bellte wie ein speckschwartiger, übellauniger Seelöwen-Bulle: »Gras hat ein jeder, sogar der Allerbleder.« Dann drosch er den Gras Zehner auf den Tisch. Nun war es an ihm. Sepps graue Zellen fuhren Sonderschichten, exerzierten verschiedene Szenarien durch. Er äugte zum »Feind« hinüber und kratzte sich hinterm Ohr. Wo war die Lücke in seinem Blatt? Bei einem Solo gab es nur eines – Mut zum Risiko. Er zückte die Gras Sau – und kommentierte lapidar: »Willst du Haue, spiel die Blaue!«

Ehgartner lief puterrot an und brüllte wie ein Mastochse am Spieß: »So ein Mordsmassel! Zieht mir der Sauhund den Spatzen!« Wütend schlenzte er den blauen Achter quer über den Tisch. Der Tiroler orakelte so dunkel und doppeldeutig wie die Pythia von Delphi: »Das Glück vom Goaßpeterl ist das Pech der Marie!« Fichtner war Gras frei – und schmierte den Schellen Zehner. Die Sau brachte 11, die beiden Zehner jeweils 10 Augen, machte summa summarum 31. Die halbe Miete. Mit einem diabolischen Lächeln zückte Sepp eine weitere Lusche, die Schellen Sieben.

Rabensteiner jauchzte schadenfroh: »Feine Farbe. Schon blöd ha? Dein Freunderl aus Tirol ist frei – und ich hau ein Pfund nei!«

Ehgartners Gesicht war eine Grimasse wilder Entschlossenheit. »Ich ziehe euch Schafbeidlwaschern die Lederhosen stramm!« Beim Schafkopf ging es ums Ganze, um Gedeih oder Verderb, um Leben oder Tod.

Der Kampf der Titanen ging in die entscheidende Phase. Sie hatten 56 Augen am Konto. Fünf Augen noch – und der Sieg wäre ihrer! Ein Solo mit vier Laufenden plus Stoß – beim bloßen Gedanken daran wurde ihm schummerig. Der Parade-Patriot hatte sich verbissen gegen das drohende Debakel gestemmt und seine Trumpf-Flöte ausgespielt. Fünf Stiche in Folge gemacht, doch noch war er gerade mal Schneider frei. Ehgartner war ein Alpha-Tier, das gern groß auftrumpfte. Andererseits war er ein schlauer Fuchs, der wusste, wie man ein Hühnchen rupfte. Der letzte Stich würde der alles entscheidende sein. Hatte der Tiroler noch ein As im Ärmel? Im Eifer des Gefechts hatte Sonnleitner den Überblick komplett verloren. An sich unverzeihlich – doch in dieser Ausnahmesituation verständlich. Am Tisch war es totenstill wie im Leichenschauhaus bei der Autopsie. Es war so still, dass man eine Sektionsnadel hätte fallen hören. Sepp suchte in den Mienen seiner Mitspieler zu lesen wie eine Hellseherin im Kristallglas. Rabensteiner kaute unschlüssig auf seiner Unterlippe herum. Fichtners Gesichtsmuskeln zuckten unkontrolliert. Ehgartners Batzelaugen glänzten gierig. »Rück den Herz Zehner raus! Euch Bratwürste röste ich auf dem Kugelgrill.« Fichtners Finger krampften sich um die letzte Karte. »Kreuz Kruzifix, dieser oreidige Unterweltler sticht mir den Zehner ab!«

Um Ehgartners Froschmaul spielte ein schurkisches Lächeln, als er die Spielkarte mit den vier roten Herzen aufdeckte. »Die Herzsau, die Herren, und die sticht …«

Ein dumpfer, eigentümlich verzerrt klingender Knall. Ein Sirren, als ob Pfeile von einer Sehne schwirrten. Dann ein Ploppen, als ob man einen Korken aus dem Hals einer Bardolino-Buddel zog. Er war Jäger, er wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Harter Stahl traf auf weiches Fleisch, ließ Knorpel und Knochen splittern. War dies das Ende, würde er gleich in den Hades hatschen? Müsste er nicht einen brennenden Schmerz verspüren? Müsste er nicht wie ein Ochs am Spieß brüllen, wenn sich die Kugel in ihn bohrte? Noch etwas machte ihn stutzig: Ein aus einem Gewehrlauf abgefeuertes Projektil legte 800 bis 1.000 Meter pro Sekunde zurück. Folglich musste das Geschoss ein anderes Ziel gefunden haben. Diesen vermaledeiten Tiroler Kaspressknödelfresser etwa? Ein unterdrücktes Stöhnen ließ ihn herumfahren. Ehgartner! Sein massiger Körper drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse. Sein Gesicht war wie aus Wachs gegossen, die Lippen blutleer und bleich, die Augäpfel seltsam verdreht. Aus dem schwarzen Loch in seiner Brust quoll Blut. In einem verzweifelten Versuch, das Unvermeidliche hinauszuzögern, presste er beide Hände auf die Wunde: »Was passiert da mit mir? Um mich dreht sich alles …« Sonnleitner war wie paralysiert, unfähig, dem Sterbenden Trost zuzusprechen. Ehgartner hauchte: »Ganz entrisch ist’s mir zu Mut …« Ein konvulsivisches Zucken lief durch den schweren Leib, das Herz, die Atmung setzten aus. Der seidene Faden zerriss, das Röcheln erstarb. Sonnleitner war zur Salzsäule erstarrt. Um ihn herum lief alles wie in Zeitlupe ab. Stühle fielen um, geisterhafte Schatten huschten davon. Es war wie im Film, wie in einem Western, in irgendeinem Saloon. Das Klaviergeklimper erstarb, ein Stetson flog in den Staub, der Falschspieler kippte kopfüber auf den Poker-Tisch. Eine gezinkte Karte rutschte aus dem Ärmel seines grau melierten Jacketts. Ein Pik As. Ehgartner hatte verspielt. Der Boandlkramer die besseren Karten.

Bayerische Hinterhand

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