Читать книгу Bayerische Hinterhand - Dinesh Bauer - Страница 9
Gras Sieben
ОглавлениеDie Gerstensaft-Genossen am Stammtisch spitzten die Luchsöhrchen. Vier Augenpaare spähten suchend umher. Rudl, Wigg, Gustl und Hias wechselten hastige Blicke. Auf ihren Gesichtern lag ein verwirrter, konsternierter Ausdruck. Die Gefahrenlage war offensichtlich. Rudl reagierte als Erster: »Sakrament, die schießen scharf. Obacht, obi!« Gustl schrie aus Leibeskräften: »Runter, macht’s die Schildkröte!« Die »Jägermeister« reagierten prompt. Mit einer Behändigkeit, die man den Zechköpfen so kaum zugetraut hätte, gingen sie im Schutz des Stammtisches in Deckung.
»Was hat der vor?«, zischelte Wigg.
»Dabei san ma grod so gemütlich z’sammghockt«, entrüstete sich Hias.
»Unsere Scheißpolitiker müssen ja auch das ganze Muslim-Gschmeiß reinlassen«, suchte Gustl die Schuld in Berlin zu orten.
Rudl hatte eine andere Tätergruppe im Auge: »Das ist gewiss so ein Bio-Puritaner, der uns die Schweinshaxen ned vergönnt!«
»Das Bier wollen s’ uns verbieten, diese Bionade-Zuzler«, stimmte Wigg in das Lamento ein. Um nicht unter die Rubrik »Kollateralschäden« zu fallen, verfolgte das Quartett die Geschehnisse aus der Krötenperspektive.
Die schmucke Kellnerin war von anderem Kaliber als die hasenherzigen Hopfenheroen. Ihr erster Gedanke galt dem zerbrechlichen Gefahrgut in ihren Händen, erst der zweite der persönlichen Unversehrtheit. Das mit Gläsern beladene Tablett kam leise klirrend auf der Anrichte zum Stehen, dann huschte Irmi hinter die nächstbeste Kastanie. Im Biergarten regte sich nichts. Kein Psycho lief mit abgesägter Schrotflinte Amok. Keine Schmerzensschreie gellten durchs Grün. Irmi dachte nach – es waren einige Schüsse gefallen. Drei oder vier. Danach war unter den Kastanien die Stille des Todes eingekehrt. Hatte der Attentäter den Rückzug angetreten? War die Gefahr gebannt? Eine unbändige Wut kroch in Irmi hoch. Diese schießwütige Schlammsau hatte ihr das Feierabendgeschäft vermasselt – und zwar gründlich.
Sepp Sonnleitner quälten ähnliche Fragen wie Irmi und die Zecher-Crew: Was führte dieser bleiwütige Irre im Schilde? Spielte er Katz und Maus mit ihnen? Sepp kauerte in seltsam verkrümmter Körperhaltung unterm Tisch. Lauerte dort draußen der Tod? Keine zwei Armlängen entfernt hielt Ehgartner Zwiesprache mit Petrus an der Himmelspforte. Sein Körper war in sich zusammengesackt, die Gliedmaßen unnatürlich verrenkt. Noch immer tröpfelte Blut von der Tischkante und formte einen kupferfarbenen Klecks im Kies. Kein erbaulicher Anblick. Er musste hier weg, musste die Initiative zurückgewinnen. Der Lindenwirt hatte hoffentlich die 110 gewählt und die Einsatzzentrale verständigt. Sein Handy lag dummerweise dort, wo es immer lag, wenn er es brauchte: im Handschuhfach seines Ladas. Wie er es in der Grundausbildung gelernt hatte, robbte er bäuchlings über den Boden.
Rabensteiner deutete wild gestikulierend zum Kirchberg hinauf: »Der Schütze hockt dort droben, am Friedhof! Da verwette ich meine geblümten Unterhosen drauf!«
»Da sitzt er doch wie auf dem Präsentierteller. An seiner Stelle hätte ich mich jedenfalls längst verzupft.«
Rabensteiners Kantkopf bewegte sich ruckartig hin und her: »Andererseits wartet er vielleicht nur darauf, dass wir unvorsichtig werden.« Sonnleitner dachte angestrengt nach, eine tiefe Furche teilte seine Stirn. Der Eintrittswinkel des Geschosses ließ nur einen Schluss zu: Der Schütze hatte sich oberhalb von ihnen befunden, hatte sich auf einem Dach oder einem Hügel postiert. »Was meinst«, raunte Veitl, »Entfernung 250 Meter?« Luftlinie wohlgemerkt.
»An die 300«, korrigierte er. Es war klar, was zu tun war. Schließlich waren sie erfahrene Waidmänner und keine heurigen Hasen. Sie würden einen Haken schlagen und von der ungeschützten Flanke her angreifen. Hätte es sich bei dem Opfer um einen Urlaubsgast oder gar einen Isar-Preißen gehandelt, hätte Sonnleitner dem Attentäter höchstens ein Glückwunschtelegramm geschickt. In diesem Fall aber hatte der Dreckrammel eine rote Linie überschritten. Erwin Ehgartner war von »ihrem Stamm«, ein Inn-Indianer – und seine Stammesbrüder würden ihn rächen.
Sepp sondierte die Umgebung – doch es war niemand zu sehen. »Hat sich der broadgfotzerte Tiroler dünn gemacht?«
Rabensteiners Zeigefinger wies auf ein schmales Holztürl: »Da ist er raus. Entweder hat er sich verdrückt oder holt Verstärkung.«
»Meinst etwa, dass da droben eine Schützenkompanie der Schluchtenscheißer im Hinterhalt liegt?«
Sepp legte nach: »Na, sag ich dir, die haben irgendein krummes Ding am Laufen. Und unser Sniper hat ihnen die Tour vermasselt.«
Rabensteiner strich sich um die Bartstoppeln: »Dein Sniper hat mehrmals gefeuert! Könnt’ also leicht sein, dass er zwei auf einen Streich erledigen wollt’.« Die Doppelmord-Hypothese klang durchaus einleuchtend, musste Sepp zugeben. Es war höchste Zeit, ihre Hypothese zu überprüfen. Sie spähten über die halbhohe Hecke, die den Biergarten zur Straße hin abschirmte. Sepp gab das Kommando: »Eins, zwei …« Auf Drei setzten sich die schwergewichtigen Racheengel in Bewegung. In geduckter Haltung folgten sie der wie mit dem Lineal gezogenen Buchsbaumreihe. Veitl klang besorgt: »Blattschuss. Du weißt, was das bedeutet?« Rabensteiner lieferte die Antwort gleich mit. »Präzisionsgewehr, Zielfernrohr mit integriertem Laser-Entfernungsmesser. Wenn wir da ins Fadenkreuz geraten …«
»Könnt’ aber auch sein, dass von drei Kugeln nur eine ins Schwarze getroffen hat. Dann hat er wohl in der Hektik den Zielpunkt im Visier nicht nachkorrigiert.«
»Möglich wär’s«, pflichtete ihm Rabensteiner grummelnd bei. Sie hechelten wie zwei asthmatische Bernhardiner, aber erreichten mit einem fulminanten Schlussspurt Rabensteiners Allrad-Wagen. Veitl überzeugte sich, dass die Karre fahrtüchtig war, nicht etwa ein Querschläger die Pneus geplättet hatte. »Sepp, sag ehrlich. Könnten wir nicht, ich mein …« Rabensteiner war kein Freund der leisen Töne, doch auf einmal klang seine Stimme seltsam zögerlich, ja ängstlich. »Hat es der Schafszipfel auf uns abgesehen?«
Sonnleitner lehnte an der vor Schmutz starrenden Geländekarre. Theoretisch war das durchaus möglich. Allerdings glaubte Sonnleitner nicht an Zufälle: »Die Frage ist doch die: wieso gerade heute, wieso gerade hier? Die Variable in der Gleichung ist dieser Fichtner!« Sepp beugte sich vor, wobei sein Kopf in eine leichte Pendelbewegung geriet: »Er ist der große Unbekannte! Niemand kennt ihn, außer dem Ehgartner – und der brummt im Fegefeuer drunt die Internationale.«
Vitus zwirbelte seine Nasenspitze: »Meinst du, dass unser Freunderl mit dem Attentäter unter einer Decke steckt? Und Ehgartner lässt sich von ihm in die Falle locken? Der Erwin, dieser durchtriebene Loder?«
Sepp grunzte unwillig: »Wir müssen irgendwas übersehen haben!« Er war doch Polizist und kein unbedarfter Schaukelbursch – doch ihm war nichts Ungewöhnliches, nichts Verdächtiges aufgefallen. Der Schafkopfabend in der »Linde« war »heilig«. Einmal im Monat ging es ausschließlich um Ober, Unter und Säue. Ihr »vierter Mann«, der Grasmaier Luggi, war gestern vom Radl und somit kurzfristig ausgefallen. Ehgartner hatte als Ersatzmann Fichtner angeschleppt und vorgeschlagen, bei dem schönen Wetter im Biergarten zu bleiben. Wie also hätte jemand die Tat planen und vorbereiten sollen? Was lief zwischen Ehgartner und Fichtner? Kannte der Tiroler den Täter? Und von welcher Art war diese »Bekanntschaft«? Sonnleitner wusste es nicht, er wusste nur, dass bei solch unübersichtlichen Gemengelagen höchste Vorsicht geboten war.
Fichtner war offenbar noch in der Nähe. Unter dem Japsen-Jeep mit dem Kennzeichen IL-TF 2 hatte sich ein Ölfleck gebildet. Diese Umweltsau, dachte Sepp unwillkürlich. Vom Parkplatz aus war der Hügel samt Kirche und Friedhof außer Sichtweite. Der Hang stieg auf der Nordseite steil an, von dichtem Gestrüpp bedeckt. Nach oben hin wurde das Terrain flacher, das Buschwerk wuchs sich zu einem Wäldchen aus. Die jungen Bäume standen dicht an dicht. Sepps Talente als Fährtenleser waren eher rudimentär ausgeprägt. Es konnte indes auch ein Laie erkennen, dass sich unlängst jemand durchs Gebüsch geschlagen hatte, um den Abhang zu erklimmen. Für einen Moment blitzte es am Rand des Dickichts auf. Die schräg einfallenden Strahlen mochten eine Glasscherbe oder ein Stück Metall gestreift haben. Sonnleitner vermutete allerdings, dass es sich um das Ziffernblatt eines Tag-Heuer-Chronometers handelte, der sich um Fichtners Handgelenk spannte. Was hatte der Tiroler vor? Wollte er in Wildwest-Manier die Sache selbst in die Hand nehmen? Oder bewegten ihn andere, finstere Motive? Sepp deutete auf eine Gruppe dicht stehender Fichten: »Das wird nix, da kommt er nicht weit, wenn er den Mörder aufhalten will.«
Vitus riss die Heckklappe auf. »Durch die Brennnesseln und Brombeerbüsche, mia gangst. Wir nehmen den Jägersteig, hinten rum.«
Sonnleitner fiel ihm in den Arm. »Moment. Was machen wir, wenn uns der Kerl auflauert? Oder wir ins Kreuzfeuer geraten.«
Rabensteiner wischte seine Bedenken beiseite: »Ah was, ich war zehn Jahr’ bei einer Spezialeinheit. Wir checken erst die Lage, dann schlagen wir gezielt zu. Wo hast deine Walther?«
»Wie jetzt, bin ich im Dienst?«
Rabensteiner winkte verächtlich ab. »Mei o mei, die Polizei! Stets für den Ernstfall gerüstet.« Wie ein Zauberer in der Manege schlug er eine graue Plastikplane zurück.
Sonnleitner staunte: »Saxendi, da schau hi!« Ein nagelneues Gewehr, Vollautomatik. So etwas bekam man nicht im Shotgun-Shop, noch nicht einmal im hintersten Redneck-Revier Texas.
»Gell, so etwas habt ihr Grünspargel ned. Da kommst du nur über Beziehungen ran.« Als SEKler a.D. wusste Rabensteiner, wo der Hammer hing.
Rabensteiners Waffenarsenal war beeindruckend: die Vollautomatik, ein Karabiner mit noblem Nussbaumschaft, eine doppelläufige Jagdflinte, stapelweise Notfallrationen, ein »Survival-Kit« zum Überleben in der arktischen Wildnis, inklusive Kampfmesser, Axt und Hackebeil. Veitl vollführte eine einladende Geste: »Keine falsche Bescheidenheit, bedien dich. Weißt, wir leben heute in unsicheren Zeiten. Wenn mir so ein Messerstecher an die Gurgel geht, dann putz ich den weg – und aus die Laus!« Genüsslich ließ Vitus die Verschlüsse eines Stahlkoffers aufschnappen – randvoll mit Patronen verschiedenen Kalibers. Genügend Munition, um gegen eine ganze Armee ins Feld zu ziehen. Fröhlich pfeifend stopfte sich Veitl die Taschen voll. »Stahlmantel, Bleispitze, Full Metal Jacket, wie die Amis sagen. Damit wuchtest du jeden Angreifer aus den Galoschen.«
»Sag mal, was machst du eigentlich abends in deiner Gartenlaube – lustige, lehrreiche Tierfilmchen anschauen, ha?«
»Ah, na! Ride or Die, Medal of Honor, Battle Heroes, dazu ein paar Halbe. Kulturprogramm für harte Hund’«, bekannte Rambo Rabensteiner freimütig.
Mit andächtiger Ehrfurcht strich Sepp über den kalt gewalzten Lauf der Präzisionswaffe, einer SIG 550: »Sauber, Schweizer Qualitätsarbeit.« Ein mokanter Unterton war nicht zu überhören: »Wozu brauchst du ein Infrarot-Nachtsichtgerät? Geht’s nachts auf Hasen-Hatz?«
Rabensteiner gluckste: »Bist neuerdings bei Pax Christi? Frieden schaffen ohne Waffen!« Bester Laune feixte er: »Alter Greenpeace-Groupie! Den Granatwerfer lassen wir da. Gegen weiche Ziele braucht’s des ned – aber mit so einer Sprenggranate knackst du jede Panzerlimousine.«
Sonnleitner wog das Gewehr in der Hand: »Ganz schön schwer. Eine handliche Glock hast ned«, motzte er.
Rabensteiner ließ nicht mit sich handeln. »Glock gibt’s ned. Da, nimm – Mauser 98. Oldie but Goldie. Damit hat schon mein Großvater die Gämsen aus der Wand gesäbelt.« Wie ein Lagerist bei der Inventur warf er ihm den dazugehörigen Ladestreifen zu: »Da, fang. Fünf Schuss Munition. Das muss fürs Erste langen!« Mit missmutigem Gesichtsausdruck schob Sepp die zylindrischen, flaschenförmigen Patronen ins Magazin des Karabiners. »Auf geht’s, Zugriff!« Veitl schulterte das Schweizer Schießeisen, die Jagd hatte begonnen.
Der Pfad mäanderte um das Dornengebüsch herum auf den Hügel. »Wir müssen weiter am Waldrand lang«, gab Vitus die Marschrichtung vor. »Der Tiroler is’ nirgends zu sehen.« Dieser Umstand bereitete Sepp allerdings Kopfzerbrechen. Dem hinterlistigen Zirben-Zipfel traute er alles zu. Und wenn sich der Mörder im Gebüsch herumdrückte? Vollgepumpt mit Adrenalin und zu allem entschlossen. Wie ein Trapper auf Puma-Pirsch schnaufte Rabensteiner vornweg, er hinterdrein. »Siehst schon was?«, japste Sonnleitner.
»Na. Da ist niemand, die hocken bei dem Wetter alle im Biergarten!« Wie im Lehrfilm für angehende Guerilla-Kämpfer hoppelten sie in geduckter Haltung durch den dunklen Tann. Die kurzläufige Waffe baumelte wie ein überdimensioniertes Amulett vor seiner Brust. Sepp war schweißgebadet, die schüttere Haarpracht klatschnass.
»Wieso ziehst du eigentlich das kracherte Trikot vom SV Tacherting nicht aus? Der Fetzen leuchtet doch wie eine Signalrakete«, stichelte Sonnleitner.
»Rot wirkt auf Frauen anziehend, du Bauernrammel. Eine männliche Farbe, die Mut, Opferwille und Macht ausstrahlt.« Mut und Macht – Sepp hätte am liebsten losgelacht. Wieso machte er nicht einfach kehrt – und überließ dem »Full Metal Man« das Feld? Rabensteiner war reif für Gabersee. Für die Diagnose brauchte man kein Psycho-Diplom.
Zugegeben: Rabensteiners Schlachtplan war simpel, aber hatte Hand und Fuß: von der Flanke her attackieren, den Gegner einkesseln und eliminieren. »Wir machen das wie der Napoleon bei Austerlitz«, hatte er vollmundig posaunt. Sepp hegte indes Zweifel bezüglich der taktischen Umsetzung. Ein Hohlweg trennte das bewaldete Gelände hinter, von der Viehweide vor ihnen. Die üppig wuchernden Büsche am Feldrain gewährten ihnen vorerst Sichtschutz. Rabensteiners Blick war nach vorne, auf ihr Angriffsziel gerichtet: »Da hockt der Feind. Zumindest ist er da gesessen.« Die Greinbacher Kirche machte sich auf einem lang gezogenen Wiesenbuckel breit. Bis zur Umfassungsmauer des Friedhofs, die, einer keltischen Wallanlage gleich, das Hügelplateau umgab, waren es 150 Meter. Durch offenes Gelände wohlgemerkt. Die Sonne verabschiedete sich langsam in den Feierabend, die Holzpflöcke des Weidezauns warfen lange Schatten. Ein friedliches Idyll: dottergelbe Frühlingsblumen, eine weichselbraungescheckte Rinder-Rotte, die sich durchs grüne Gras mümmelte. Die Glöckchen unter den faltigen Hälsen der Muh-Madonnen bimmelten vergnügt. Sepps Mund verzog sich zu einem schmalen Strich: »Du kennst doch den Film ›Gettysburg. 1863 – Pickett’s Charge‹. So kommt mir das hier vor. Jeder Blinde mit Ladestock nietet uns da draußen um.«
Rabensteiner entblößte eine Reihe fleckiger Zähne, die in maroden Molaren endete. In puncto Dentalhygiene lag da einiges im Argen. Kein Wunder, dass die Mädels nicht so recht anbissen. »Wir sind in Grainbach, nicht in Gettysburg. Wirst sehen, das klappt.« Rabensteiner strich sein rotes Laiberl glatt. Zur Not würde er selbst einem wütenden Stier die Stirn bieten.
Sonnleitner war ein gewiefter Hund, ein körndlgefütterter Isar-Irokese. Um ihr Ziel ungesehen zu erreichen, bediente er sich einer alpenindianischen Kriegslist. Auf leisen Sohlen schlichen sie durch die friedlich grasenden Bayern-Bisons. Die rindsrouladenförmigen Wänste boten den beiden »Kriegern« Deckung. Unaufhaltsam näherten sie sich dem Findlingsfelsen, der die keilförmig vorspringende Südecke des Friedhofs markierte. Doch auf den letzten Metern gab es keinerlei Deckung, keinen Baum, keinen Strauch, keine Kuh. »Und was machen wir jetzt, du Schlauberger?«, knurrte Rabensteiner.
Sepp suchte sein Heil als »Büffel«-Beschwörer: »Da vorn, schau, das grüne Graserl. Mmmh, fein, gutti, da gehst hin, gell!« Ein bayerisches Rindvieh ließ sich jedoch kein X für ein U vormachen. Das kurze, kümmerliche Gras, von Unkräutern und Disteln durchsetzt, lockte keine Kuh hinterm Heuballen hervor.
Rabensteiner knuffte den glücklosen Fleckviehflüsterer in die Weichteile: »Lass gut sein. Die Rindviecher sind so blöd ned, wie du Hornochs meinst. Ich sag: Riskieren wir’s!«
»Da rüber, ohne die geringste Deckung? Na, ohne mich. Taktischer Rückzug, sag ich.«
Rabensteiner bedachte ihn mit einem vernichtenden Seitenblick: »Von mir aus, checken wir erst die Lage.« Er warf sich der Länge nach ins Gras und lugte unter den prall gefüllten Eutern durch: »Da drüben rührt sich nix, schau selber.«
»Das ist ja gerade verdächtig! Eine unachtsame Bewegung – und piffalapuff. Abflug, sag ich«, raunzte Sepp.
Rabensteiner war nicht gewillt, klein beizugeben: »Wie denn? Keiner rechnet mit uns, das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite. Du sprintest zu den Mäuerchen, ich geb dir Feuerschutz!« Ehe Sepp weitere Einwände geltend machen konnte, beendete Rabensteiner kurzerhand die Diskussion: »Jetzt hab dich nicht so, du Memme. Dir passiert schon nix.« Rabensteiner nahm die Mauer ins Visier und entriegelte den Sicherungshebel. »Los!«
Er riss die Waffe hoch und stanzte ein unregelmäßiges Lochmuster in den Abendhimmel. Sepp nahm seine kurzen Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Jeden Moment vermeinte er, von einer Feuergarbe in Stücke gerissen zu werden. Doch niemand nahm ihn aufs Korn. Urplötzlich ließ der dumpfe Schlag einer Detonation den Boden unter seinen Füßen erbeben. Sonnleitner tauchte nach unten weg und legte eine bildsaubere Bauchlandung in einem frisch verlegten Kuhfladen hin. »So eine Scheiße, so eine verdammte«, fluchte er wie ein Fichtenfiaker. Das würde Ärger zu Hause geben, war sein erster Gedanke. Sein zweiter war, dass jemand eine Sprengladung zur Explosion gebracht hatte, um alle verräterischen Spuren des Anschlags zu beseitigen. Er hatte es geahnt, hatte die Gefahr gerochen! Rabensteiner, dieser trottelige Trotzkopf! Die Angst verlieh ihm Flügel.
Mit zwei, drei katzengleichen Sprüngen erreichte er seinen Mitstreiter, der mit dem Gewehr im Anschlag wie angewurzelt dastand. »Da droben ist alles ruhig, ha? Was ist denn dann bittschön grad’ in die Luft geflogen?«
Rabensteiner sah ihn mit dem wilden, wirren Blick eines Paranoikers an. »Es geht um uns, um unsere Heimat, verstehst? Das ist was Politisches! Der Ehgartner, ein eingefleischter Patriot, ein Wortführer der nationalen Bewegung, und jetzt – schau hin!« Sein Waffengefährte bewegte sich ruckartig wie eine mechanische Puppe. »Ein Fanal! Diese Volksverräter sprengen unser Oberländler-Denkmal.« Instinktiv fuhr Sonnleitner herum. Tatsächlich – eine dunkle Rauchsäule stieg zum weiß-blauen Himmel empor. Hatte ein Terrorkommando den bayerischen Löwen in die Luft gejagt? Vor gut hundert Jahren, noch zu Lebzeiten des Prinzregenten, hatte man zum Gedenken an die Gefallenen des Bauernaufstands anno 1705 ein Ehrenmal errichtet – dort, wo einer der Anführer des Aufstands, der legendäre Schmied von Grainbach, begraben lag. Seitdem thronte ein überlebensgroßer, in Kupfer getriebener Löwe auf einem Sockel aus Steinquadern. Den schwermütigen Blick in die Ferne, gen München gerichtet. Bei der Sendlinger Pfarrkirche waren die Oberländler Bauern in jener Blutweihnacht vor über 300 Jahren regelrecht abgeschlachtet worden. Von säbelschwingenden Mordbuben, in Österreichs Sold. Rabensteiner murmelte wie in Trance: »Dreinschlagen sag ich, die gehören plattgemacht, allesamt …!«
Sonnleitner brüllte ihn Löwen-like an: »Bist jetzt komplett plemplem? Steht die Rauchsäule etwa über dem Friedhof? Nein, sondern über Schönrain. Reiß dich gefälligst am Riemen! Wenn wir nicht sofort von hier verschwinden, machen die Achter klick und wir hocken als Tatverdächtige in U-Haft!«
Die braven Muh-Maiden deckten – ohne auch nur einmal Muh oder Mäh zu machen – ihren Rückzug. Kaum war der erste Schreck verflogen, widmete sich die Damenwelt wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Fettwerden. Sonnleitner entstammte einer weit verzweigten Bauernsippe, daher war er mit den Gewohnheiten der Wiederkäuer bestens vertraut. Mit gutturaler Stimme gurrte er: »Ruhig, Liesl, brav, Rosl, fein, Fleckerl.« Endlich hatten sie das schützende Wäldchen erreicht. Wie eine Kuppel spannte sich ein dichtes Nadelnetz über ihnen. Über denselben Weg, den sie gekommen waren, ging es im Ferkelgalopp bergab. Von fern heulten schon die Martinshörner. Mit Tatütata kam die Blaulicht-Kolonne angerauscht. »Wir müssen uns genau überlegen, was wir aussagen.« Rabensteiner klang kleinlaut: »Da darf es keine Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten geben.« Bei einem Mord dieses Kalibers würde die Kripo schweres Geschütz auffahren. Sie würden ein wasserdichtes Alibi brauchen – und zwar für die Zeit nach der Mordtat. »Unterm Rücksitz hab ich einen Fünfliterkanister gebunkert. Kerschgeist, selbst gebrannt, nur für Notfälle, weißt, zwecks dem posttraumatischen Stress und so.« In Sonnleitners Hirn formte sich ein Plan. Ein Plan von A wie Alibi bis O wie Obstler.