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Schellen Acht
ОглавлениеDas war ein Fall ganz nach seinem Geschmack. Ein laues Lüftchen wehte und es war auch am Abend noch angenehm warm. Falls es den Himmel auf Erden gab, dann lag er im Schatten eines Kastanienbaums. Ein Baum wie Bayern. Unter einer stacheligen Schale verbarg sich eine harte Nuss. Pföderl hockte breitbeinig an einem der Wirtshaustische und sah sich in aller Gemütsruhe um. Es gab schlimmere Orte, um den Löffel respektive den Maßkrug abzugeben, fand er. Bartholomäus Pföderl war Bayer – und erst in zweiter Linie Kriminalbeamter. Jemand, der das bayerische Erbgut mit der mit Spuren alkoholhaltiger Essenzen angereicherten Muttermilch eingesogen hatte, wusste, dass Himmel und Hölle, Gut und Böse wie Yin und Yang, wie Brathendl und Bier waren. Symbiotisch eben. Der Tod gehörte zum Leben, da führte kein Weg dran vorbei. Die Spatzen tschilpten, die Meisen zwitscherten und Barthl ließ sich ein dunkles Weißbier schmecken. Dienst hin, Dienst her. Ein Mord im Biergarten, was konnte es in seinem Beruf Schöneres geben? Nur die Kriminaltechniker, die mit Pinzette und Klebeband bewaffnet den Boden mit der Gründlichkeit eines unter zwanghaftem Putzfimmel leidenden Saubermanns absuchten, störten ein wenig den Frieden. Unter normalen Umständen hätte Kriminaloberkommissar Bartholomäus Pföderl im »Schützenstüberl« in der »Alpenrose« oder beim »Maurer« gesessen, um die blaue Stunde mit einem Bräuberger-Hell vom Fass einzuläuten. Bei einem Gewaltverbrechen dieses Kalibers galt allerdings Präsenzpflicht – da konnte Barthl schlecht eine Auszeit nehmen. Doch das »Savoir vivre« bestand ja gerade darin, aus der Not eine Tugend zu machen. Mit wahrem Genuss leerte er das kelchförmige Glas. »Mei, des schmeckt heut’ schon wieder!« Eine klobige, schwarz bepelzte Pranke wischte die Schaumspritzer von der Oberlippe. »Ah, oane geht scho’ no’, ha?« Es war eine rhetorische Frage. »Wie wär’s mit einem Wurstsalat oder einem kalten Braten mit Kren und Gürkerl?« Der Einwurf seines Kollegen von der Streifenpolizei erinnerte den Kriminaloberkommissar daran, dass ihn eine dienstliche Obliegenheit hierher, in die Greinbacher »Linde«, geführt hatte. »Mir knurrt der Magen, fix! Die ewige Fragerei macht hungrig und durstig!« Ein hochgewachsener, dabei kräftig gebauter Mittdreißiger in moosgrüner Montur plumpste auf die Bierbank neben ihm. Seine Mütze saß schief, das Hemd hing ihm halb aus der sandfarbenen Hose. Die Schulterstücke der zerknitterten Uniformjacke zierten drei Sternchen – was den nicht ganz vorschriftsmäßig gekleideten Mann als Polizeiobermeister auswies.
»Jetzad reiß dich a bisserl zusammen, Fesl, du läufst ja umanand wie der letzte Grattler. Stopf dir zumindest dein Hemad in die Hosen.« Bartholomäus Pföderl war Kommissar bei der Kriminalpolizeiinspektion Rosenheim. Der »gschlamperte Uhu« war ihm nur für die Dauer der Ermittlungen vor Ort als Hiwi zugeteilt worden. Barthl selbst trug – wie fast immer – Inntaler Tracht und legte einen gewissen Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Sein Vorgesetzter, Hauptkommissar Reimers, war anderweitig beschäftigt, also war er der Chef im Ring. Armin Reimers war eigentlich ganz in Ordnung, ein eher zurückhaltender Typ, der fachlich kompetent, umgänglich und ohne Allüren war, manchmal sogar witzig und schlagfertig sein konnte. Aber er war halt ein Münchner und ein Preiß obendrein. Pföderl hatte prinzipiell nichts gegen Preißen und hegte keinerlei Vorurteile gegenüber Menschen anderer Provenienz. Wenn ein Poncho-Indio in der Rosenheimer Fußgängerzone auf seiner Panflöte herumsuckelte – warum nicht? Da war er durchaus tolerant. Barthl war jedoch aus langjähriger Erfahrung heraus zu der Überzeugung gelangt, dass ein Bayer einer anderen, besonderen »Spezies« angehörte. Ohne dass dies irgendwie abwertend gemeint war, galt eben der eherne Grundsatz: It’s nice to be a Preiß, but it’s higher to be a Bayer! Er würde jedenfalls gewiss nicht den preußischen Vorzeige-Beamten herauskehren – und schon gar nicht bei einem, der weitschichtig mit ihm verwandt war – und aus demselben Dorf stammte wie er. Schließlich kannte er Silvester »Fesl« Gietl viel zu gut. Zumal bei Gietl in Sachen Pflichtbewusstsein, Disziplin und Haute Couture eh Hopfen und Malz verloren waren.
Barthl kannte den Fesl seit Sandkastenzeiten. Sie waren zwar nie wirklich dicke Freunde gewesen, aber aus demselben knorrigen Holz geschnitzt. So hatten die beiden Hundskrüppel den protzigen Schaufelradbagger des tumben Sprösslings des Auer-Bauern mit einem Chinaböller hochgehen lassen, solch »geheime Kommandoaktionen« schweißten zusammen – ein Lebtag lang. Barthl und Fesl waren bald getrennte Wege gegangen, aber sie respektierten sich und halfen einander, wenn es hart auf hart kam. Silvester »Fesl« Gietl war durch reinen Zufall Bulle geworden. In der Schule hatte Fesl nie mit übermäßigen Geistesgaben geglänzt oder sich durch besonderen Fleiß und Ehrgeiz hervorgetan. Eigentlich hätte er den väterlichen Spenglereibetrieb übernehmen sollen, doch nach der mit »Bestnote« bestandenen Gesellenprüfung hatte Gietl junior umdisponiert. Das freie Unternehmertum war seine Sache nicht. Als kleiner Handwerker war man der Depp – Dauerstress mit Bauherrn und Architekten, Ärger mit den Barabern vom Balkan. Da war ihm der Staatsdienst mit geregelten Arbeitszeiten und festem Gehalt weit verlockender erschienen. Fesl hatte eine Ausbildung zum Polizeimeister der zweiten Qualifikationsebene begonnen – und tatsächlich sämtliche Tests und Laufbahnprüfungen bestanden. Was Pföderl, ehrlich gesagt, wunderte. Inzwischen war er in der Besoldungsgruppe A 8 angelangt und schob, wenn irgend möglich, Dienst nach Vorschrift. Mit seinen Kollegen, ja selbst dem Dienststellenleiter der Polizeiinspektion Brannenburg, kam er gut aus. Gietl war zwar ein fauler, gstinkerter Hund, andererseits aber auch ein Pfundskerl, der einen im Ernstfall nicht hängen ließ. »Weshalb haben s’ eigentlich dich hierhergeschickt? Ein solches Engagement sieht dir gar nicht ähnlich«, frotzelte Pföderl.
»Mei, die Leitstelle hat uns kurz vor sechs angefunkt: Schießerei in der ›Linde‹. Wir waren grad zufällig in der Nähe von Grainbach – was willst du machen. Blaulicht und Sirenen und Vollstoff die Serpentinen nauf«, zuckte Gietl mit den Achseln. »Zugang zum Biergarten sichern, den Tatort mit Flatterbandl absperren – Schaulustige vom Ort des Verbrechens fernhalten, Ersteinvernahme der Zeugen. Genau wie es in unserer Dienstanweisung steht.« Dass er über die Extraschicht nicht sonderlich erbaut war, ließ sich an Fesls sauertöpfischer Miene ablesen. »Zwei Paar Debrecziner, wie wär’ das? Mit Sauerkraut und scharfem Senf. Mittags eine mickrige Fleischpflanzlsemmel, seitdem nix mehr! Unregelmäßiges Essen macht dick – und führt im Extremfall zu Herzrhythmusstörungen. So ein Mord ist gar ned gesund.«
Pföderl nickte ihm verständnisinnig zu. »Wie schaut’s aus, sind sämtliche Spuren am Parkplatz hinterm Haus gesichert?«, schlug Bartholomäus Pföderl einen dienstlichen Ton an: »Ich würde gern wissen, wer sich da zum Tatzeitpunkt herumgetrieben hat. Ehgartners Diesel-Benz lass ich nachher in die Werkstatt abschleppen. Da sollen ihn die SpuSis auseinandernehmen.«
Gietl schielte sehnsüchtig nach der Bedienung, die mit voll beladenem Tablett Richtung Stammtisch strebte. Der »Zwischenfall« am Nachbartisch hatte bei den vier Boaznbrüdern offenbar zu keinen posttraumatischen Stress- und Essstörungen geführt. Gietls Lächeln glich dem eines ausgekochten Gauners. »Hund’ san s’ scho’, Buchwieser, Unterleitner und Co.!« Das Kriseninterventionsteam, kurz KIT, des BRK war hier nicht gefragt. Sein Schul-Spezl setzte sein Käppi ab und strich sich einige schweißnasse Strähnen aus der Stirn. »Gfrei ich mich auf eine Dusche – mei Hemad pappt auf der Haut. Was meinst, Barthl, wann sind wir hier fertig?«
»Das wird noch a bisserl dauern. Wenn die Kriminaltechniker ihre Alu-Köfferchen packen, rücken wir auch ab.« Pföderl reckte den Hals, um der Bedienung ein Zeichen zu geben.
»Bestellst du mir oans mit, hab ich einen Durst«, ließ Gietl verlauten. Um ein paar Pluspunkte zu sammeln, kam er auf die Spurenlage zu sprechen. »Die Ausbeute ist bislang reichlich mager, eine Bierdose Marke Pilsner Urquell, eine 0,7-Liter-Flasche Puschkin Pink Grapefruit, gibt’s bei Edeka, eine völlig zermanschte Zigarilloschachtel und ein noch halbvolles Packerl Pariser, Hausmarke eines Drogerie-Markts, Preventivo Sensitive. Mehr war da ned.«
Pföderl seufzte. »Was diese Dreckspatzen ned alles wegschmeißen. Und am Parkplatz selber?«
»Auf dem asphaltierten Teil wimmelt es von Ölflecken, Reifenabrieb et cetera, aber ich bezweifle, dass man die vorhandenen Spuren bestimmten Fahrzeugtypen zuordnen kann. Weiter hinten hat die Straße einen festen Kiesbelag, auch nicht grad ideal.«
Pföderl winkte ab. »Eh ned, kannst vergessen! Aber du kennst doch den Orterer, diesen Gschaftlhuber.« Eigentlich mochte er »Gollum«, wie er den Chef der Kriminaltechnik hinter vorgehaltener Hand nannte, ganz gut leiden. Fritz Orterer war ein Unikum, der mit einem gepflegten schwarzen Humor gesegnet und stets zu deftigen, nicht ganz jugendfreien Späßen aufgelegt war. Mit »Gollum« konnte man prima um die Häuser ziehen und die Korken knallen lassen. Einem erlesenen Whiskey oder Sherry war Orterer nie abgeneigt. Im Grunde war er ein cooler Typ, der sich auf seine fachlichen Fähigkeiten und seinen ausgeprägten detektivischen Spürsinn nichts einbildete, was Barthl allerdings auf den Senkel ging, war sein Hang zu Pedanterie und Besserwisserei. »Mich interessiert viel mehr, wo der Rest von der Schafkopf-Runde abgeblieben ist. Die waren doch alle mit dem Auto da, oder irre ich mich?«
Gietl lachte trocken: »Der Rest, ha, das hast schön gesagt, Barthl! Der Sepp und der Vitus werden so weit nicht sein – auf den Schreck nauf nageln sie sich garantiert die Birne zu.«
Pföderl zog die Brauen hoch. »Nicht dein Ernst, oder! Und diese Gmoadeppen sollen Staatsdiener respektive im Vorruhestand sein? Hauptsache sie kassieren ab, oder?«
In einer entschuldigenden Geste zuckte der Polizeiobermeister mit den Achseln. »Ja mei, vielleicht verfolgt der Sepp ja auch eine heiße Spur. Der meldet sich schon noch! Aber wo ist dieser Jeep-Fahrer aus Tirol hin, hm?«
Der Kommissar zwirbelte sein kümmerliches Kinnbärtchen – und nahm sich vor, sich morgen vor Dienstantritt gründlich zu rasieren. »Seit einer knappen Stunde läuft doch die Fahndung nach einem SUV, einem X3 oder so, der angeblich oben beim Friedhof gesehen worden ist. Und auf Teamwire heißt es, dass wir nach einem Mann mit doppelläufiger Flinte suchen, der dort oben herumgeballert und ein Trafohäuserl zerlegt hat. Da kenn sich noch einer aus …«
Gietl nickte gedankenschwer. »Wir verschwenden hier bloß unsere Zeit, sag ich dir.«
Der Kriminaloberkommissar musste dem Streifenbullen insgeheim recht geben, auch er zweifelte an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Wenn die »Bluthunde« die Fährte des Täters aufgenommen hatten, gab es Wichtigeres, als den Tatablauf minutiös zu rekonstruieren und dazu Zeugen zu befragen, die wenig gehört und noch weniger gesehen hatten. Pföderl war ein ruhiger, besonnener Mensch, den so leicht nichts aus der Fassung brachte. Doch er hatte eine cholerische, aufbrausende Ader. »Fix noch einmal, wo bleibt denn unser Bier. Rollen die das Banzl vom Kirchenwirt hoch?«
Oben Schaum, unten Traum. Zwei Weißbier-Humpen standen perlend und schäumend vor ihnen auf dem Tisch. Das herbe, dennoch leicht süßlich schmeckende Manna rieselte ihre Kehlen hinab. »Ahh, irgendwie scho’ schad um den Ehgartner. Ein gutes Bier hat er gemacht!« Pföderl war wieder eins mit sich und der Welt. »Was meinst, Fesl? So ein Weißbier ist ein wahres Lebenselixier, ha? Geht aufs Haus, sprich auf Spesen.«
Gietls Grinsen war so breit wie die Koteletten von Elvis. »Die Kellnerin hat ausgesagt, dass der Biergarten zum Tatzeitpunkt noch so gut wie leer war. Bis auf die Stammtischbrüder und die vier Kartler am Tisch fünf. Sie hat alle Gäste einwandfrei identifiziert. Allein der vierte Mann war vorher noch nie hier gewesen, ein eingebildeter, eitler Gigerl mit Fieslings-Visage.«
Der Kommissar spöttelte launig. »Mit unserem Face Design System FACETTE müsste sich doch ein Phantombild erstellen lassen. Heut’ gibt’s doch für jeden Scheiß eine App oder ein Tool. Sollen die Computer-Heinis einen Steckbrief des Gesuchten basteln – und rein damit in die webbasierten Fahndungssysteme. INPOL, POLAS, SIS und wie das ganze Graffe heißt. Sobald wir wissen, wer der Goaßenficker ist, kriegen wir ihn auf den Schirm: Alter, Gewichtsklasse, Schuh- wie Schwanzgröße.«
Gietl mochte kein Muster an Zuverlässigkeit und Pflichteifer sein, aber auf den Kopf gefallen war er nicht, selbst wenn er sich gern in Schwejkscher Manier die Maske des einfältigen, minderbemittelten Provinzbullen aufsetzte. »Wenn wir das Kennzeichen der Karre hätten, könnten wir uns die Arbeit sparen.« Einen Versuch war es wert. INPOL, POLAS & Co. konnten warten.
»Schick mir den Wirt und die Kellnerin rüber. Du verhörst die vier Saufbeidl – und krall dir die zwei Lederjacken aus Kolbermoor, die Schafszipfel sollen die Einvernahme protokollieren.«
Gietl zog einen Flunsch. »Die versoffenen Loder leiden doch an chronischem Gedächtnisschwund. Die waren vorher schon ganz bremsig, weil sie angeblich noch einen wichtigen Termin im Sternbräu haben.« Zeugenaussagen von Personen, die unter Alkoholeinfluss standen, galten als wenig verlässlich – ihre Validität war fraglich. Ob eine solche Aussage in einem späteren Verfahren verwertbar war, war Ansichts- und Auslegungssache.
Pföderl bestand jedoch darauf, dass sich Gietl die Fettleber-Fraktion vorknöpfte. »Ihre Zeugenaussage brauche ich so oder so – schon für den Schlussbericht. Vielleicht ist den Foamzuzlern ja doch was aufgefallen. Jedes Detail wär’ wichtig. Vielleicht kommt ihnen dieser Tiroler irgendwie bekannt vor, die kennen doch jede Schnapsnase im Umkreis von 50 Kilometern.«
Gietl stemmte sich schwerfällig hoch und grummelte: »Das Nummernschild, wenn sie sich das gemerkt hätten, die Deppengfrießer! Zumindest die Kennbuchstaben des Bezirks!« Der Drei-Sterne-Bulle trottete davon, da fiel Pföderl noch etwas ein.
»Fesl! Schau, dass du Sonnleitner erreichst. Quatsch ihm von mir aus auf die Mailbox. Der gwamperte Gschwollschädel sollte doch eigentlich wissen, dass er eine Zeugenaussage machen muss. Für was ist er Polizist! Also, sag ihm, dass er sich umgehend melden soll, sonst lass ich ihn und den anderen Kasperlkopf vorladen!« Gietl salutierte lässig und zeigte damit an, dass er verstanden hatte. »Und noch was. Die Kollegen aus Kolbermoor sollen sich die Schrottkübel unserer Stammtisch-Spezln vornehmen. Handschuhfach, Kofferraum et cetera. Trau, schau, wem! Und bestell dir noch ein Weißbier, geht auf mich.«
Gietls Miene hellte sich mit einem Schlag auf – und er machte sich mit frischem Elan an die Befragung der Zeugen. »Geht klar, Chef. Ich sammle die Autoschlüssel der Bande ein, fahrtüchtig sind die allesamt nicht mehr. Nur der Glaser ist mit dem Fahrrad da, den brauchen wir also nicht zu filzen.« Mit einem selbstzufriedenen Grinsen verschränkte Barthl die Arme. Im Interesse einer erfolgreichen Ermittlungstätigkeit musste man die Arbeit delegieren und die Mitarbeiter motivieren können. Das war die Kunst, dann lief alles wie geschmiert.
Die Ermittlungen in einem Mordfall waren für jeden beteiligten Kripobeamten eine Herausforderung. Man war gezwungen, eine Unzahl von Puzzleteilchen zu sichten, ehe sich darin ein Muster ablesen ließ und schließlich ein klares Bild ergab. Um die Tat und ihre Hintergründe aufzuklären, hieß es, methodisch und systematisch vorzugehen. Weißbier hin, Kastanienbaum her: »Wie lang soll denn das Kasperltheater noch dauern? Wegen euch Hanswursten darf ich meine Wirtschaft zusperren. Wer kommt denn bittschön für meinen Verdienstausfall auf?« Lindenwirt Sepp Reinbacher stand da, als ob er für ein Denkmal für die Helden des bayerischen Bauernaufstands anno 1705 posierte. Eine Hand entschlossen in die Hüfte gestemmt, den kühnen Blick anklagend auf den Eindringling, auf Bartholomäus Pföderl, gerichtet. »Schauen S’ doch selber! Keine Gäste, kein Geld!« Dies hier war Reinbachers Reich, und der König der Kartoffelknödel, der Herr über Pfannen, Töpfe und Tiegel, war erbost. Sein Zeigefinger schoss mit der aggressiven Angriffslust einer Viper vor und deutete auf die Absperrgitter, die die Zufahrtsstraße blockierten: »Wissen S’, was passiert? Die Leute drehen um und gehen zum ›Kirchenwirt‹ oder ins ›Il Castagno‹, und ich bleib auf meinen Schnitzeln und Hühnerschenkeln sitzen.« Der Lindenwirt zauste den gekräuselten, in zwei Spitzen auslaufenden Rübezahlbart.
Pföderl war Hobby-Historiker, er nannte eine kleine, aber feine Bibliothek sein eigen, hielt Kurse an der VHS und den einen oder anderen Vortrag im Kreise gleichgesinnter Stammtisch-Gelehrter. Die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem Wirt und dem Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer war ihm sofort ins Auge gestochen. Der Wirt hätte sich jederzeit als Hofer-Double verdingen können. In einer beschwichtigenden Geste hob Pföderl die Hände. »Sie haben den Toten gut gekannt, habe ich gehört.«
Der Hopfen-Hofer beteuerte, dass der Tod Ehgartners einen herben Einkommensverlust für ihn bedeutete. »Freilich! Mit dem Erwin habe ich einen treuen Stammgast verloren, ein fideler, lebenslustiger Bursch, das geht mir durchaus nahe, wissen S’. Aber das Leben geht weiter.«
Pföderl hatte erst vor drei Wochen ein Seminar mit dem schönen Titel »Strategien der Deeskalation im Polizeivollzugsdienst Teil II« besucht, doch er würde zu einer probateren Methode greifen, um Reinbacher den Giftzahn zu ziehen. Mord ging schließlich vor Schlachtschüssel und Surhaxe: »Schön haben Sie es hier – ein Biergarten wie im Bilderbuch.« Die fünf Kastanien sowie die altehrwürdige Dorflinde machten als Bierkrügel-Begleitgrün zweifelsohne eine gute Figur. »Ein idyllisches Plätzchen, keine Frage.«
Reinbacher mandelte sich auf wie ein halbstarker Moped-Mafioso: »Der erste schöne Tag im Jahr und irgendein schießwütiger Trottel spuckt mir in die Rinderbrühe!«
Pföderl wechselte abrupt den Tonfall und zückte sein Smartphone. »Jetzt mal halblang, es handelt sich hier um Mordermittlungen. Wenn du Spaßvogel nicht sofort spurst, ruf ich einen mir wohl bekannten leitenden Beamten im Gewerbeaufsichtsamt an. Der schickt dir demnächst unangemeldet einen Betriebsprüfer und einen Hygienekontrolleur von der Lebensmittelaufsicht vorbei, die nehmen sich dann ausgiebig Zeit für dich und deine Bude auseinander. Die wühlen sich durch sämtliche Gefriertruhen, zerlegen deine Einbauschränke und prüfen deine Bücher, zwei-, drei- und viermal, wenn es sein muss. Haben wir uns verstanden?«
Der Wirt warf sich in die von einem breiten, ledernen Hosenträger umspannte Brust, schnaubte wie ein dampfiges Ross – und schwieg. Er winkte die wartende Kellnerin heran und bedeutete ihr, sich kooperativ zu verhalten. »Ich war hinten in der Küche. Die Irmi hat draußen im Garten bedient. Mögen S’ vielleicht noch ein Weißbier und ein Schnapserl?«, gab sich der Wirt plötzlich versöhnlich.
Pföderl wischte demonstrativ auf dem Display seines Galaxy S7 edge herum. »Gern, wenn es Ihnen keine Umstände macht, bringen Sie mir dazu eine Portion Rostbratwürste mit Sauerkraut.« In Reinbachers Augen blitzte es gefährlich auf, doch er trollte sich leise grummelnd in Richtung Kombüse. Bartholomäus Pföderl richtete seine Aufmerksamkeit auf die, zugegebenermaßen nicht ganz unansehnliche, Schweinsbratenschubse. Ehe er sich nach ihren Personalien erkundigen konnte, kam ihm die fesche Malz-Maid zuvor – und zwitscherte mit kokettem Augenaufschlag: »Irmgard Zech, aber nennen Sie mich doch bittschön Irmi.« Zech – Pföderl schmunzelte. Das passte wie der Schlegel zum Bierfass. Allem Anschein nach war diese Irmi ein ganz ausgekochtes Luder – und was er sah, gefiel ihm auf Anhieb.
Die Einvernahme eines Zeugen war Routine – und glich doch jedes Mal einem Drahtseilakt, der sein ganzes Geschick erforderte. Es gab diverse Befragungstechniken, rhetorische Kniffe und Psycho-Tricks, um möglichst viele und detaillierte Informationen aus seinem Gegenüber herauszukitzeln. Um einen Zeugen gesprächig zu machen, musste man ihn erst ein wenig zappeln und im Unklaren lassen, worauf man hinauswollte. Pföderl schickte seine Blicke erst einmal auf Wanderschaft: Eine Buchsbaumhecke begrenzte den Biergarten zu einem kleinen Dorfsträßchen hin. Hinter dem schmalen Streifen Asphalt erhob sich der von wild wucherndem Gestrüpp bedeckte Kirchbichl. Am Fuß des Hangs trat eine Lage Tuffstein zutage. Ein Tor mit schmiedeeisernen Beschlägen ließ ahnen, dass sich dahinter ein ins Gestein gehauener Felsenkeller verbarg. In diesen Kellern hatte man früher die Bierfässer und andere leicht verderbliche Ware gelagert, schließlich sollte das Bier im Sommer schön kühl bleiben – und das Futter für Mensch und Tier nicht schimmelig werden. Eine Bogenlampe reckte ihren Giraffenhals über das schmale Sträßchen – sinnigerweise hing dort ein Wahlplakat der NP, der Nationalen Patrioten. Darauf war das Konterfei Erwin Ehgartners zu sehen, das auch post mortem noch ungebrochene Zuversicht ausstrahlte. Irmgard Zech hatte seinen Blick bemerkt. »Es ist eine wahre Tragödie, nicht? Er hätt’ beim Bier bleiben und die Finger von der Politik lassen sollen. Der Erwin war kein einfacher Mensch, aber irgendwie ein feiner Kerl. Wenn er sein hinterfotziges Lausbubenlächeln aufgesetzt hat, hat man ihm einfach nicht böse sein können.« Ihr Tonfall, erst noch ein wenig kratzig, war nun weich und warm. »Ich bedien gern hier. Der Wirt ist ein jähzorniger Sauteufel, aber er zahlt seine Leute anständig und versteht sein Metier. Wissen S’, der Betrieb ist seit anno 1864 in Familienbesitz. Eine echte Traditionswirtschaft. Der Sepp ist gelernter Koch und hält große Stücke auf die Rezeptsammlung seiner Oma. Bei uns finden Sie alles von A wie Apfelkücherl bis Z wie Zwiebelrostbraten, aber keinen Schicki-Micki Fraß à la Weißwurst-Carpaccio auf Ingwer-Vinaigrette.« Die Kellnerin hatte sich in Rage geredet, doch Pföderl ließ sie vorläufig gewähren. »Schauen Sie sich doch in der Gastronomie um. Die meisten Pächter wollen bloß den schnellen Reibach machen – und sparen überall, bei den Angestellten und an der Qualität der Ware.«
Pföderl legte abrupt den Schalter um und kam zur Sache: dem Mordfall Ehgartner. »Gut, helfen Sie mir. An was können Sie sich erinnern? Ist Ihnen etwas merkwürdig vorgekommen, war etwas anders als sonst?« Standardfragen – aber altbewährt.
Irmgard Zech sah sich an ihrem vertrauten Arbeitsplatz um – alles war wie immer, und doch war etwas anders als sonst. Der Schatten des Todes wich nur langsam von diesem Ort der Geselligkeit und des fröhlichen Zusammenseins. Die Leiche Ehgartners war vor gut eineinhalb Stunden von einem Leichenwagen des Bestattungsinstituts »Frohberger & Sohn« abtransportiert worden – und lag inzwischen still und starr in einer Kühlkammer, bereit zur Obduktion. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Die vier sind da drüben am runden Tisch gesessen – Schafkopf eben. Es war noch früh am Abend, aber der Ehgartner hat schon einen sitzen gehabt. Die anderen drei haben es ruhiger angehen lassen, hatten aber auch schon einige Halbe intus. Nix Auffälliges, gute Kundschaft!« Irmi holte tief Luft. Ihre drallen, vom großzügig bemessenen Ausschnitt ihrer Dirndl-Bluse zur Geltung gebrachten Brüste hoben sich: »Das meiste Geschäft hab ich am Stammtisch drüben gemacht. Die zahnluckerten Salferer lassen sich beim Trinkgeld nicht lumpen.« Das Dekolleté der Dame gewährte tiefe Einblicke, sodass es Pföderl schwerfiel, sich auf das Wesentliche, die Befragung, zu konzentrieren.
»Als die Schüsse gefallen sind – wo waren Sie da?«
»Ich war auf dem Weg zum Stammtisch drüben – mit einem Tablett Bier aufm Arm. Da hat’s plötzlich einen Kracherer getan, nicht allzu laut, aber nicht zum Überhören. Es hat einige Sekunden gedauert, bis ich realisiert habe, dass da in nächster Nähe geschossen wird.«
»Sie haben nur einen Schuss gehört?«, hakte der Kommissar verwundert nach.
»Denk schon. Ich bin dann ziemlich panisch zurück ins Wirtshaus gerannt. Meine größte Sorge war, dass den Bierglasln nix passiert und ich nix verschütte – seltsam, oder?«
»Und dann?«, fasste Pföderl sachte nach.
»Nach zwei oder drei Minuten hab ich meine Nase ins Freie gesteckt. Aber da war alles ruhig. Erst als ich den Ehgartner kopfüber auf dem Tisch hab liegen sehen, war mir klar, dass etwas Schlimmes passiert ist. Herzinfarkt – hab ich gemeint. Also bin ich ins Büro gerannt und hab den Notruf gewählt – 110!«
»Haben Sie denn draußen im Garten nichts bemerkt? Ein ungewöhnliches Geräusch? Ein wegfahrendes Auto zum Beispiel.«
Die Bedienung sah ihn verdattert an – und stammelte nur: »Na, mir ist nix aufgefallen.«
»Wo waren denn die anderen Gäste. Haben die denn niemand gesehen?«
Irmi schüttelte ratlos den Kopf. »Nein, da war niemand.« Barthl ließ es fürs Erste dabei bewenden. Um es vornehm auszudrücken, war die Zeugenaussage bislang nicht sonderlich ergiebig.
»Da, geht aufs Haus! Die Würstel kommen gleich.« Reinbacher stellte das Weißbier und ein Schnapserl vor ihm hin und verschwand grußlos. Eine liebreizende Person – zweifelsohne.
Pföderl markierte den einfühlsamen Good Cop. Seine Stimme klang so einschmeichelnd, als hätte er drei Tage lang Kreide gefressen. »Sie haben meinem Kollegen gegenüber erwähnt, dass Ihnen einer der Kartler aufgefallen ist, weil der noch nie hier war, ist das korrekt?«
Die Kellnerin knabberte an ihrer Unterlippe. »Noch etwas jünger, so Anfang 30, leger, aber durchaus stilvoll gekleidet. Eine rechte Angeberfotze. Er hat ziemlich blöd dahergeredet, in seinem Tiroler Dialekt – ich mag den ned. Das Bayerische klingt viel weicher, wohliger.«
Kurz entschlossen kippte er den aus heimischem Fallobst gebrannten hochprozentigen Obstler auf einen Sitz hinunter. Dann nahm er den roten Faden wieder auf. »Wo waren wir stehen geblieben – ah ja, dieser Tiroler, war der zufällig hier oder war er mit Ehgartner und den anderen beiden Hallodri verabredet?«
»Einen Moment, auf den Schreck hinauf brauch ich ein Stamperl. So ein grausiges Erlebnis muss man doch erst einmal verarbeiten, oder?« Praktischerweise stand die Obstler-Flasche auf der Anrichte – und Irmi schenkte sich großzügig ein. »Erst neulich hab ich gelesen, dass sich der enorme psychische Druck in Symptomen wie Schwindelgefühl, Konzentrationsstörungen und Reizbarkeit äußern kann. Mia gangst!« Die Kellnerin befühlte ihre Stirn und kippte sich zur Trauma-Prophylaxe gleich noch einen Obstler hinter die Rüschenbluse. »Warten S’, der Ehgartner hat ein paarmal erwähnt, dass er neue Absatzmärkte für seine Brauerei erschließen möchte. Wahrscheinlich sollte der Typ den Vertrieb vor Ort organisieren und die Getränkemärkte abklappern. Das Bräuberger ist ja ein gutes Bier, allemal besser als die Ösi-Plärre, das Huber oder das Zipfer.«
Pföderl kritzelte auf seinem Verhörblock herum. »Und das Mordopfer, dieser Ehgartner, war hier Stammgast? Was wissen S’ sonst noch über den?« Barthl zog alle Register der Verhörtechnik und legte einen suggestiven Unterton in seine heiser und drängend klingende Stimme.
Irmgard Zech zupfte an ihrer spitzenbesetzten Bluse herum. »Ein rotgesichtiger Quartalssäufer, aber nicht unrecht. Hat sich gern aufgeplustert wie ein Gockel am Mist – und eitel obendrein. Aber mei so sind s’, die Mannsbilder. Wenn s’ kein Weiberts mehr finden, fangen s’ zum Spinnen an!« Barthl schaute von seinem Block auf – ihren Unterlagen nach war das Mordopfer 58 Jahre alt und lebte seit fast 10 Jahren von seiner Exfrau getrennt. Er war Geschäftsführer der Bräuberger Brauerei und Spitzenkandidat der Nationalen Patrioten im Stimmkreis 127 Rosenheim-West. »Und die anderen beiden Kartler«, fragte er pro forma, auch wenn er eh wusste, mit welch illustren Persönlichkeiten sie es zu tun hatten.
»Die sind von Audorf drüben. Die finden S’ im Schützenheim oder beim Schmiedwirt.« Irmi plapperte munter weiter. »Kompakt gebaut, die Schultern breit wie Bauernschränke. Eher der grob gestrickte Typ, Marke ›gschlamperter Bauernrammel‹. Nicht grad’ meine Kragenweite, aber nicht unwirsch.« Der Redefluss der Bedienung stockte – es war an ihm, eine neue Frage zu stellen. Doch welche? Von irgendwoher wehte das nun gar nicht mehr so laue Abendlüftchen einen Schnulzen-Song im Country-und-Western-Style heran, der vor Herz, Schmerz und Kentucky Bourbon triefte. »Some broken hearts never mend …« So wie in Ehgartners Fall, dachte Barthl in einem Anflug von Sarkasmus. Der brauchte keinen Herzchirurgen mehr.