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Die Entdeckung des Menschenfresser-Gens

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Die Genetik hatte den Menschen vom Affen getrennt – als nächstes stempelte sie ihn zum Kannibalen ab. Das Fleisch, das über frühen Feuern brutzelte und für rasante Mutationen bei Homo sapiens gesorgt haben soll, könnte Menschenfleisch gewesen sein. Diese These stellte der Londoner Biologe Simon Mead auf, erntete Kritik, aber servierte Beweise.

In der Kulturgeschichte Europas ist der Kannibalismus ein Ungeheuer aus den Märchen. Menschen, die Menschen mit Genuss essen, gibt es ausschließlich in den Schauergeschichten der Kolonialzeit. Im 16. und 17. Jahrhundert brachten Kolonialisten und Konquistadoren von ihren Reisen in die Neue Welt Seemannsgarn heim nach Europa, in dem es um zerstückelte Opfer ging, die im Kochtopf der Eingeborenen gelandet oder gar roh verspeist worden sein sollen. Bis heute ist der Missionar im Kochtopf beliebtes Sujet bei Karikaturisten.

Als Ethnologen in den folgenden Jahrhunderten nachforschten, fanden sie vom Gewaltkannibalismus der vermeintlich Wilden allerdings nichts. Vielmehr entdeckten sie, dass es bei manchen Völkern tatsächlich einen Ritus gibt, in dessen Verlauf Teile menschlicher Körper verspeist werden. Noch heute verbrennen die Yanomami im Amazonas-Regenwald ihre Toten und rühren die Asche in einer komplexen Zeremonie in eine Bananensuppe, die ein zuvor Ausgewählter in sich aufnimmt. Solche Praktiken zeigen keinesfalls Menschen als Leichen fressende Bestien. Sie sind Beispiele für einen sorgsamen Umgang mit dem Tod. In vielen Fällen dient die Aufnahme des Toten in den Körper der Lebenden dem Glauben an den Erhalt der Seele.

Eine gefährliche Form dieses rituellen Kannibalismus praktizierten die Fore, ein Stamm in Papua-Neuguinea. Sie verspeisten das Gehirn ihrer Verstorbenen. Der Ritus verbreitete sich vermutlich Ende des 19. Jahrhunderts, hielt sich aber nicht lange. Bereits Mitte der 1950er Jahre wurde er von der australischen Regierung verboten. Diese kurze Zeit aber genügte, um eine Krankheit bei den Fore entstehen zu lassen: Kuru, „der lachende Tod“, wie ihn die Fore nannten. Wer von Kuru befallen wurde, begann krankhaft zu lachen, beim Gehen zu schwanken, zu zittern, erlitt schwere Fälle von Demenz und starb wenige Monate später. Niemand wusste, woher Kuru kam. Aber die Krankheit ging zurück, nachdem die Regierung die kannibalistischen Praktiken verboten hatte. Der Zusammenhang war deutlich. Die Fore erkrankten durch das Essen der Leichenhirne. Wieso das Essen von Menschenhirn krank macht, blieb vorerst ein Rätsel.

In der südenglischen Grafschaft Sussex dachte 1985 zunächst niemand an Kuru, als „Kuh 133“ begann, beim Gehen zu schwanken. Das Rind zog die Beine nach, knickte immer wieder ein, keilte beim Melken aus und verlor schließlich die Orientierung. Den Stallgenossen erging es bald darauf ähnlich. Eine Untersuchung von „Kuh 133“ offenbarte Löcher im Hirn des Tieres. Die europäische Landwirtschaft hatte ihren ersten Fall von Boviner spongiformer Enzephalopathie (BSE) und den als „Rinderwahnsinn“ bekannten größten Nahrungsmittelskandal der Landwirtschaftsgeschichte.

Woher kam BSE? Wie bei Kuru blieb auch bei der Rinderkrankheit die Ursache zunächst ungeklärt. Dann entdeckten die BSE-Detektive die Tatwaffe im Tierfutter. Die infizierten Kühe waren mit Tiermehl gefüttert worden, in dem kranke Schafe verarbeitet waren. Die Schafe wiederum hatten an Scrapie gelitten, einer Variante von BSE. Damit schien der Fall gelöst. Als sich die Wissenschaft jedoch zu Wort meldete und behauptete, durch die BSE-Fälle einen neuen Krankheitserreger entdeckt zu haben, winkten die britischen Landwirtschaftsbehörden noch drei Jahre nach dem Tod von „Kuh 133“ ab. Alles lief weiter wie zuvor. Aber weitere Fälle von Rinderwahnsinn ließen die Öffentlichkeit aufschreien und die Behörden aufhorchen. Nun endlich schenkten die offiziellen Stellen in Großbritannien den Genetikern Gehör, die schon geraume Zeit versuchten, auf seltsame Strukturen in ihren Reagenzgläsern aufmerksam zu machen.

Prionen waren für BSE verantwortlich. Das sind infektiöse Proteine, die der US-Mediziner Stanley Prusiner 1982 entdeckt hatte. Vor allem in den Nervenzellen des Gehirns vermehren sich Prionen dadurch, dass sie gesunden Proteinen ihre abnorme Struktur aufzwingen. Von einer bestimmten Konzentration an zerstören die Prionen die Zellen, sie durchlöchern das Gewebe, das schließlich aussieht wie ein Schwamm (spongiform). Prusiner, dessen Theorie der BSE-geschüttelte Krisen-PR-Stab der britischen Ministerien zunächst nicht beachtete, erhielt 1997 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Kuru, Scrapie und BSE – die Parallelen zwischen den Krankheiten waren auffällig. Der Störungsverlauf war bei Kühen, Menschen und Schimpansen ähnlich. Auf die Affen hatten Forscher in den 1960er Jahren die Krankheit zu Versuchszwecken übertragen. Auch der Verzehr des Fleisches von Artgenossen schien eine Rolle zu spielen. Noch einmal holten Mediziner die rätselhaften Todesfälle bei den Fore aus dem Archiv und verglichen die Untersuchungsergebnisse: Tatsächlich stellte sich heraus, dass auch Kuru auf Prionen zurückgeht, die im Nervensystem Eiweiße zu faserartigen Strukturen verklumpen. Kannibalismus kann krank machen.

Historikern wäre diese Erkenntnis nicht aufregend erschienen, wenn sich nicht 2003 Simon Mead am University College London gefragt hätte, warum nur einige Fore an Kuru erkrankt, andere aber gesund geblieben waren. Auf dem Prionen-Gen PRNP entdeckte Mead eine Mutation, welche einen Teil der Fore offensichtlich vor der Krankheit schützte. Das Protein trug entweder Valin oder Methionin, beides Aminosäuren. Erkrankt waren stets jene Fore, die von beiden Elternteilen jeweils dasselbe Gen erhalten hatten, also zweimal Valin oder zweimal Methionin. Wer aber von jedem Elternteil eine andere Genvariante erhielt, war gegen Kuru immun. Ein Rückschluss auf die Geschichte des Menschen drängte sich auf. Aber dem britischen Biologenteam fehlte es noch an Belegen.

Mead fand heraus: Was auf Papua-Neuguinea funktionierte, gilt auf der ganzen Welt. Menschen, die von Vater und Mutter je einmal Valin und Methionin an der entsprechenden Position erhalten, sind gegen die neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit immun. Diese Krankheit ist erst seit 1996 bekannt und wird durch den Verzehr von mit BSE-Erregern verseuchtem Rindfleisch übertragen. Simon Mead stellte sich die Frage: Wieso ist der Mensch gegen eine Krankheit immun, die es erst seit wenigen Jahren gibt?

Die Antwort lag auf der Hand. Da Selektion und Mutation in den Genen von Homo sapiens Prozesse sind, die viele Tausend Jahre dauern, ist es wahrscheinlich, dass schon die meisten Menschen der Frühgeschichte gegen eine dem Kuru ähnliche Krankheit immun waren. Die Verbindung von Valin und Methionin könnte es den Hominiden ermöglicht haben, das Fleisch der eigenen Art zu essen, ohne durch den Verzehr zu erkranken und auszusterben. Mead schätzte, dass die Gene sich vor etwa 500.000 Jahren an die rohe Kost anpassten. Der moderne Mensch und sein Vetter, der Neandertaler, waren zu dieser Zeit allerdings noch nicht entwickelt. Die Welt gehörte Homo heidelbergensis.

Einen Misston hörte eine Genetikerin aus Spanien in der Komposition ihres Londoner Kollegen. Marta Soldevilla versuchte 2006 die Forschung Simon Meads zu reproduzieren und kam zu einem anderen Ergebnis. An der Pompeu-Fabra-Universität in Barcelona nahm Soldevilla das PRNP-Gen von 174 Individuen unter die Lupe und fand heraus, dass es in 28 Versionen vorkommen kann. Daran sei allerdings nicht erkennbar, dass die fraglichen Aminosäuren in der immunisierenden Kombination gehäuft auftauchten, so die Biologin, vielmehr wirke die Verteilung der Genversionen wie zufällig. Auch bei der Datierung des Kannibalen-Gens gehen die Meinungen auseinander. Der zurückgedrehte Uhrzeiger bringt das Team um Marta Soldevilla auf eine Datierung von vor 200.000 Jahren und damit in die Nähe der Entstehung von Homo sapiens. Der Unterschied umfasst eine Zeitspanne von 300.000 Jahren.

Vaterschaftstest für Pharao

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