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3.6.2 Die Entdeckung der Ortsgemeinde als charismatische Gemeinde

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Christian Möller geht von der Beobachtung aus, dass im gegenwärtigen Sprachgebrauch bei dem Begriff «Charisma» in der Regel «an ein seltenes Talent, an eine außerordentliche Begabung, an eine erstaunliche Fähigkeit» gedacht wird.[823] Damit werde aber die entscheidende Pointe der paulinischen Charismenlehre verfehlt und charismatische Gemeinde mit einer enthusiastisch-pneumatischen Gemeinschaft im gnostischen Sinn verwechselt. Dies habe bis in den Alltag der Gemeindearbeit hinein erhebliche Konsequenzen, denn die Sehnsucht nach dem Außeralltäglichen verstelle den «Blick für die ganz normalen, alltäglichen, unscheinbaren Möglichkeiten und Fähigkeiten, die eine Ortsgemeinde hat»[824]. Demgegenüber hätten die exegetischen Arbeiten, die Ernst Käsemann und Georg Eichholz Anfang der 60er Jahre zur paulinischen Charismenlehre vorlegten, ihren kritischen Grundzug gerade in der «Ernüchterung» gesehen, mit der der Apostel das «Charisma» des außerordentlichen, ekstatischen und auffälligen Charakters entkleidet.[825] Zeichen dieser Ernüchterung und zugleich Kritik am korinthischen Enthusiasmus sei unter anderem die Relativierung der Glossolalie, sowie die «revolutionäre Variationsbreite an Charismen»[826], die auch gänzlich unauffällige Gaben wie brüderliche Hilfe und das fürsorgliche Bemühen umfasse. Mit Eichholz fragt Möller: «Läuft das nicht darauf hinaus, daß das ganze Leben der Gemeinde charismatisch ist?»[827]

«Charismatische Gemeinde» sei daher nicht mit sehnsüchtigem Blick auf südamerikanische Pfingstgemeinden gesetzlich-aktivistisch zu fordern. Vielmehr gelte es, die Ortsgemeinde im Licht der ihr gegebenen Verheißung zu sehen und das heißt für Möller, «die Ortsgemeinde als charismatische Gemeinde zu entdecken»[828]. Diese Entdeckung sei kein abschließbarer Prozess, sondern ein schöpferischer Vorgang, den Möller in kreativer Anknüpfung an die Predigtlehre Rudolf Bohrens entwickelt. Wie der Predigthörer «in seiner Möglichkeit, im Potential seiner Zukunft»[829], so ist auch die Gemeinde in ihrem Potential als «von Gott unendlich geliebte Gemeinde» und im Licht der ihr gegebenen Verheißung zu erkennen und das heißt zu «erfinden».[830]

«Die charismatische Gemeinde zu entdecken, mag dann heißen, über den vorfindlichen Zustand der Gemeinde hinauszugehen und die mit der Verheißung der Agape Christi begabte Gemeinde zu sehen […]. Dabei kommt es nicht auf eine besonders pessimistische oder optimistische Perspektive an, sondern auf die Liebe, die die Gemeinde im Licht der ihr zukommenden Verheißung des Geistes und der Kraft ansieht.»[831]

An drei Personengruppen veranschaulicht Möller, wie das Entdecken der Ortsgemeinde als charismatische Gemeinde geschehen könnte: Der Pfarrer solle (1.) den regelmäßigen Gottesdienstbesucher nicht nur als einen Hörer erfinden, der auf eine hilfreiche Predigt und persönlich formulierte Gebete warte, sondern auch als einen, der sich mit seinen Gaben in den Verkündigungsprozess einbringen kann. Durch die «Konfrontation von Laieninformation und Predigt des Pfarrers» könne ein «nahezu unerschöpfliches Reservoir an Begabungen» entdeckt werden.[832] So könne etwa ein Lehrer ein Referat über das Scheitern an schulischen Leistungsanforderungen halten, bevor der Pfarrer die Predigt über das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg hält. Doch nicht nur die Kirchgänger, sondern auch (2.) die «anonymen Christen», die «heimlich ihr Ohr an die Kirchenwand halten» (Bohren)[833] seien im Licht der Verheißung zu «erfinden». Dann können sie nicht mehr nur unter der Perspektive der Rückgewinnung betrachtet werden, sondern seien als Menschen zu entdecken, durch die Gott der Gemeinde neue Begabungen zuführen möchte. Schließlich könne man, wenn man die Ortsgemeinde als charismatische Gemeinde «erfinde», (3.) die Alten nicht geringschätzen. Ihnen sei im Gemeindeleben die Chance zu geben, «sich mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen zu artikulieren»[834].

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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