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3.7 Resümee: Die oikodomische Rezeption der Charismenlehre – Folgerungen für die weitere Untersuchung

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Die Rezeption der Charismenlehre in der Oikodomik lässt sich (1.) in konzeptionsgeschichtlicher Hinsicht zusammenfassen und (2.) in Bezug auf die wichtigsten inhaltlichen Schwerpunkte und offenen Fragen der Diskussion darstellen. Dabei wird nicht nur die oikodomische Relevanz der Charismenlehre deutlich, sondern auch der Problemhorizont für die biblisch-theologische Rekonstruktion der Charismenlehre nachgezeichnet.

1. Alle in diesem Kapitel dargestellten Konzeptionen des Gemeindeaufbaus rezipieren die Charismenlehre, bringen sie aber in je unterschiedlicher Akzentuierung und Funktion in den oikodomischen Begründungszusammenhang ein:

a. Im missionarisch-ökumenischen Ansatz wird die Charismenlehre in einer amtskritischen Zuspitzung gegen die «Betreuungsstruktur» der Volkskirche gewandt und zur Begründung des weltverantwortlichen Dienstes der Laien herangezogen. Darüber hinaus kann vor allem Werner Krusche durch die Orientierung am paulinischen Leitbild ein relatives Eigenrecht der Sammlung und gegenseitigen Erbauung für die Gemeinde zurückgewinnen und in seiner theologischen Legitimität behaupten.

b. Der volkskirchlich-konziliare Ansatz betont das demokratische und partizipatorische Moment der Charismenlehre und sieht im paulinischen Verständnis der charismatischen Gemeinde ein Paradigma kommunikativer Gemeindepraxis, in der sich der herrschaftsfreie Diskurs potentiell aller Gemeindemitglieder präfiguriert (Christof Bäumler), bzw. ein Modell von Koinonia als heilender Partizipation am Leib Christi (Ralph Kunz) gegeben ist.

c. Im missionarisch-evangelistischen Ansatz konzentriert sich die oikodomische Funktion der Charismenlehre auf die theologische Qualifizierung des Dienstes der Mitarbeitenden. Alle Aufgaben und Arbeitsbereiche der Gemeinde werden an ein befähigendes Wirken des Geistes gebunden. Gemeindeaufbau und Charismatik koinzidieren (Fritz und Christian A. Schwarz). Zugleich wird – wie in der missionarisch-ökumenischen Konzeption – die Charismenlehre in Beziehung zum Missionsbefehl gebracht. Der Fokus liegt aber nicht auf dem Laiendienst für Frieden und Gerechtigkeit, sondern auf Gemeindewachstum durch Evangelisation und Integration in die Gemeinde. «Gabenorientierung» wird zum «vital sign» (C. Peter Wagner) bzw. «Qualitätsmerkmal» (Christian A. Schwarz) wachsender Gemeinden.

d. Bei Christian Möllers Versuch der Überwindung falscher oikodomischer Alternativen ist die paulinische Charismenlehre ein inspirierendes Beispiel für eine von der Agape bestimmte, im Gemeindeaufbau anzustrebende Grundeinstellung. Sie lenkt den Blick von den Defiziten und von den zur Behebung der Defizite entworfenen Programmen auf den verheißenen und bereits geschenkten Reichtum an Gaben.

2. a. In der oikodomischen Diskussion hat sich bisher kein theologisch geklärter und konsensfähiger Charismabegriff etablieren können. Werner Krusche und Christof Bäumler verwenden «Charisma» weitgehend synonym mit «Begabung» oder «Gabe» und verzichten dabei auf eine begriffliche oder inhaltliche Präzisierung. Ralph Kunz entwickelt vor allem im Anschluss an Max Webers Charismakonzept sein Verständnis von Gemeindeaufbau als einer charismatischen Revitalisierungsbewegung, während der theologische Charismabegriff kaum Beachtung findet. Demgegenüber bieten C. Peter Wagner und Christian A. Schwarz Definitionen, die den göttlichen Ursprung ebenso einbeziehen wie die Ausrichtung auf den Aufbau der Gemeinde. Charisma ist nach Schwarz «eine besondere Fähigkeit, die Gott – nach seiner Gnade – jedem Glied am Leib Christi gibt und die zum Aufbau der Gemeinde eingesetzt werden muss»[877]. Christian Möller hält mit seinem Verständnis von Charisma als «Begeisterung für das Alltägliche» am «Geist aus der Höhe als Quelle aller Charismen» fest, weist ihnen aber über den Kontext der Gemeinde hinaus einen Bezugspunkt im Alltag zu.[878] Er konstatiert ein unumkehrbares Gefälle, das «von der Höhe der Gnade in die Tiefe alltäglicher Existenz» reicht.[879] Die unterschiedlichen Akzentsetzungen können einander ergänzen, lassen aber nach einer sie integrierenden theologischen Basis fragen. Diese ist bisher nur unzureichend ausgearbeitet worden und muss als wichtige Aufgabe einer weiterführenden Reflexion markiert werden.[880]

b. Weiterhin bestehen erhebliche Differenzen in der Bestimmung der Kriterien zur Identifikation von Charismen. C. Peter Wagner und Christian A. Schwarz entwerfen in einem additiven Verfahren einen umfangreichen Katalog von 27 bzw. 30 inhaltlich exakt definierbaren Gaben. Sie integrieren diakonische und kerygmatische Gaben, bringen die paulinische Weite des Charismenverständnisses zur Geltung und überwinden dadurch die Fokussierung auf wunderhafte Gaben, wie sie zum Teil im pfingstlerisch-charismatischen Christentum gegeben ist. Allerdings werden sie damit kaum dem exemplarischen Charakter der Charismenlisten gerecht und stehen in der Gefahr, ihr eigenes Verständnis einzelner Gaben in anachronistischer Weise in die neutestamentlichen Belege zu projizieren. Christian Möller weitet den Begriff des Charismas so weit aus, dass er «Gaben» wie Kirchenraum oder Kirchenjahr umfasst. Gleichzeitig betont er, dass jede natürliche Fähigkeit in ein Charisma verwandelt werden kann. Ein vordefinierbarer Katalog von Charismen ist daher nicht zu erstellen, die Charismen sind in ihrer jeweils konkret gegebenen Gestalt zu entdecken. Dabei verbindet sich allerdings das Charisma so eng mit dem sozialen Stand, dass die Wirkursprünglichkeit des Geistes nur noch schwer zu denken ist und für eine über die geschöpfliche Basis hinausführende Befähigung nur wenig Raum zu bleiben scheint. So unterschiedlich die Ansätze sind, weder bei C. Peter Wagner und Christian A. Schwarz noch bei Christian Möller wird das implizite Zurücktreten der dynamisch-aktualen Qualität des Charismas problematisiert. In beiden Fällen zeigt sich die Tendenz zu einem habituellen Charismenverständnis. Charisma wird zu einer Begabung, die dem Menschen einmalig verliehen wurde – sei es als Gabe des Geistes bei der Wiedergeburt (Wagner, Schwarz), sei es durch einen Prozess der Umwandlung natürlicher Begabung (Möller) – und nun als jederzeit aktualisierbares Potential in seiner Verfügung steht. Das Geistwirken wird auf einen initialen Akt der Begabung beschränkt.

c. Trotz der genannten Unterschiede zeigt sich eine fundamentale Gemeinsamkeit in allen dargestellten Entwürfen: Die Entdeckung und Förderung der Charismen wird als eine wesentliche Aufgabe des Gemeindeaufbaus bestimmt. Ansatzpunkt sind bei Werner Krusche ebenso wie bei Fritz und Christian A. Schwarz die überschaubaren Zellen geistlichen Lebens: vor allem die Mitarbeiter-, Dienst- und Hauskreise. In diesen «kleinen Gemeinschaften kommunikativen Lebens» (Krusche)[881] realisiert sich das allgemeine Priestertum in gegenseitiger Erbauung und Zurüstung. Die «ganzheitlichen christlichen Gemeinschaften» sind der «Übungsplatz für geistliche Gaben»[882] (Schwarz). Christian A. Schwarz hat im Anschluss an C. Peter Wagner den Prozess der Entdeckung der Charismen methodisch zu standardisieren versucht. Durch Fragebogen und detaillierte Aktionspläne soll jedes engagierte Gemeindeglied seine empfangenen Gaben entdecken, inhaltlich bestimmen und einem entsprechenden Dienst zuordnen können. Demgegenüber plädiert Christian Möller, um jeder Unterscheidung zwischen Kerngemeinde und Fernstehenden im Ansatz zu wehren, für eine Entdeckung der charismatischen Möglichkeiten der ganzen Ortsgemeinde. Nicht nur die engagierten Mitarbeiter sind im Blick, sondern die sonntäglichen Kirchgänger ebenso wie «anonyme Christen». Die entscheidenden Schritte bestehen im erglaubenden Entdecken der verheißenen und bereits verborgen vorhandenen Gaben. Damit gewinnt Möller die promissionale Dimension der Charismenlehre zurück. Wie Johann Christoph Blumhardt rückt er das Charisma ins Licht der Verheißung. Diese bezieht sich aber nicht auf ein noch ausstehendes Wirken des Pfingstgeistes und seiner Gaben, sondern auf die bereits verborgen gegenwärtige Wirklichkeit, die nicht durch einen methodisch standardisierten Prozess in die Sichtbarkeit gedrängt werden kann.

d. In nahezu allen dargestellten Entwürfen wird der Gemeindeaufbau im «Spannungsfeld von Charisma und Institution» (Krusche) verortet. Das Spannungsfeld konkretisiert sich in der Unterscheidung und kritischen Zuordnung von tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen (Bäumler), von «charismatischer Revitalisierung» und «Veralltäglichung des Charismas» (Kunz), von Ekklesia und Kirche bzw. von Ereignis und Institution (Schwarz). Stehen in der «Theologie des Gemeindeaufbaus» sich die beiden Pole prinzipiell antagonistisch gegenüber, so versucht Christian A. Schwarz in seinen späteren Veröffentlichungen eine kritisch komplementäre Zuordnung. Charisma und Institution sind keine apriorischen Gegensätze, sondern bilden eine spannungsreiche, stets gefährdete und dennoch auf gegenseitige Ergänzung angewiesene Dualität. Damit kommen sich trotz erheblicher Unterschiede in theologischer Ausrichtung, Argumentationsweg und Terminologie Schwarz, Krusche und Kunz in ihren Intentionen nahe. Denn wie nach Schwarz die Verabsolutierung des institutionellen Pols gegenüber dem ereignishaften zu einem erstarrten «institutionalistischem Objektivismus» führt, so bewahrt der Gemeindeaufbau als charismatische Revitalisierungsbewegung nach Kunz die Kirche vor der Veralltäglichung und Versachlichung des Charismas. In ähnlicher Weise ist das Charisma nach Krusche die notwendige Gegenbewegung gegen eine institutionelle Verfestigung der Kirche in Selbstzwecklichkeit und Unbeweglichkeit. Und wie umgekehrt die Verabsolutierung des ereignishaften Pols gegenüber dem institutionellen bei Schwarz zu einem «schwärmerischen Subjektivismus» führt, so bewahrt nach Kunz die Institution die charismatischen Revitalisierungsbewegungen vor Separation und Rückzug aus der Welt. In ähnlicher Weise braucht nach Krusche das Charisma um der Kontinuität und des gemeinschaftlichen Lebens willen institutionelle Ordnungen, damit es sich nicht in Selbstüberhebung verliert. Gemeindeaufbau im Horizont der Charismenlehre impliziert demnach weder die theologische Abwertung der Institution zugunsten des Charismas, noch zielt er auf den Aufbau einer charismatischen Gemeinschaft in kritischer Abgrenzung gegenüber der Kirche. Es geht vielmehr in theoretischer wie in praktischer Hinsicht um die Wiederherstellung bzw. Wahrung der «Charisma-Institution-Balance» (Kunz)[883].

Insgesamt lässt sich feststellen: Alle dargestellten oikodomischen Entwürfe versuchen in jeweils unterschiedlicher Weise, die Charismenlehre aus der pastoralen Usurpation zu befreien und ihre ekklesiologische bzw. oikodomische Bedeutung wiederzugewinnen. Zugleich überwinden sie das enthusiastische Verständnis der Charismen und ihre Einengung auf wunderhafte Phänomene wie Krankenheilung, Prophetie und Glossolalie. Dies geschieht durch die Aufnahme von Käsemanns Ausweitung des Charismabegriffs ins Ethische und Soziale hinein (Möller, Bäumler), durch Abgrenzung vom korinthischen Enthusiasmus, in dessen Linie sowohl das Weber’sche Charismakonzept als auch zum Teil das Charismenverständnis der pfingstlerisch-charismatischen Frömmigkeit gesehen wird (Kunz, Bäumler, Möller, Krusche) oder durch eine an den neutestamentlichen Charismenlisten orientierte Rekonstruktion einer Vielzahl von Gaben, die neben den außergewöhnlichen auch eher unscheinbare Charismen wie die «Gabe der Barmherzigkeit» oder die «Gabe der Seelsorge» beinhaltet (Wagner, Schwarz). Damit ist die sich seit Irenäus anbahnende (→ 2.1.1) und durch Tobias Pfanner definitorisch fixierte Entwicklung zu einem Verständnis der Charismen als «dona miraculosa antiquae ecclesiae» (→ 2.1.6) eingeholt und revidiert. Der «Rauhreif», der nach Urs von Balthasar seit der montanistischen Krise «auf die christliche Charismatik» gefallen war,[884] hat im Licht einer exegetischen Rückbesinnung auf die paulinische Charismenlehre zu weichen begonnen und die Bahn für die Wiedergewinnung ihrer aktuellen theologischen Relevanz geebnet.

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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