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3.6.5 Zusammenfassung und kritische Würdigung

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Ausgangspunkt, Mitte und Ziel des Gemeindeaufbaus ist für Christian Möller «Gottes Dienst», der allem menschlichen Planen und Tun vorausliegt. Möller hat damit die von der reformatorischen Theologie wiederentdeckte Praevenienz der Gnade zum oikodomischen Prinzip erhoben und den Gemeindeaufbau den Allmachtsphantasien des Menschen entzogen. Dem Erfolgsstreben des Strategen hält er die Verborgenheit von Gottes Wirken entgegen, dem ruhelosen Aktionismus des Pragmatikers das aufatmende Warten auf Gottes Geist, dem am vorfindlichen Zustand der Kirche Verzweifelnden das befreiende Vertrauen auf Gottes Verheißung. Die paulinische Charismenlehre erweist ihre oikodomische Relevanz gerade darin, dass sie das Zuvorkommen der Gnade konkretisiert. In ihrem Licht kann der Reichtum der Gemeinde erglaubt, erbeten, erhofft und ersehen werden. Zugleich weist die Charismenlehre den Weg zwischen einem geistlosen Pragmatismus, der sich in die Alltäglichkeiten des Lebens verstrickt, und einem weltenthobenen Enthusiasmus, der nicht mehr in die Niederungen des Alltags vordringt. Charisma ist «Begeisterung für das Alltägliche», es weist den Weg von der Höhe des Geistes in die Tiefe des Lebens, so dass selbst Schwachheit und Leiden unter charismatischer Möglichkeit erscheinen.

Diese grundsätzlichen Impulse sind in ihrem Wert kaum zu überschätzen und werden sich als kritisches Korrektiv an jede Konzeption von Gemeindeaufbau legen lassen. Sie können weiter präzisiert, müssen dabei aber auch kritisch bedacht werden:[864]

1. Die Charismenlehre verweist Möller auf die pneumatische Dimension des Gemeindeaufbaus. Der Geschenkcharakter der Charismen macht deutlich, dass es im Gemeindeaufbau nicht in erster Linie um ein Tun des Menschen, sondern um «Gottes Dienst» in der Kraft seines Geistes geht. Gemeindeaufbau als ein charismatisches Geschehen zu verstehen, heißt deshalb, dass in jede Gemeindeaufbaukonzeption eine «Bruchlinie» kommen muss, «die dafür sorgt, dass der Heilige Geist einbrechen und sämtliche Management-Regeln und Erfolgskonzepte noch einmal durcheinander bringen kann».[865] Es ist nun allerdings zu fragen, ob diese berechtigte pneumatologische Relativierung von Programmen und Strategien bei Möller nicht gelegentlich zu einer prinzipiellen Ablehnung jeder Planung und Organisation im Gemeindeaufbau führt. Wie soll und kann dann aber der «unvermeidliche Schritt in die Sichtbarkeit» (Barth) getan werden?[866] Ebenso gefährlich wie eine Identifikation von Charisma und Methode ist doch ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen beidem, den Möller im Übrigen für die Seelsorge ablehnt. Könnte dann nicht auch den oikodomischen Strategien und Programmen ein relatives Recht eingeräumt werden, wenn durch Ernstnehmen der charismatischen Dimension gewährleistet bleibt, dass in poimenischer und oikodomischer Hinsicht gleichermaßen gilt: «Alle Methoden [können] noch einmal aufbrechen, ja durchbrochen werden»?[867] Müsste in diesem Zusammenhang nicht auch bedacht werden, dass Paulus die «Leitungskunst» (κυβέρνησις) in 1Kor 12,28 zu den Charismen zählt?[868]

2. Der Begriff «Charisma» wird von Möller stets gegen das enthusiastische Missverständnis abgegrenzt, das sich bereits in der korinthischen Begeisterung für die Pneumatika zeigte und durch Max Webers Definition als «außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit»[869] nicht nur den allgemeinen Sprachgebrauch, sondern auch die theologische Verwendung des Begriffs geprägt hat (→ 2.2.4.2). Die «Spitze» des paulinischen Charismabegriffs weist nach Möller gerade «in die Niederungen des Alltäglichen und Unscheinbaren».[870] Charisma müsse nicht in außergewöhnlichen Phänomenen erstrebt und erzwungen, sondern könne im täglichen Leben entdeckt werden. Dem entspricht, dass die von Möller genannten Beispiele vor allem dem beruflichen Lebensbereich entstammen, während die in den neutestamentlichen Charismenlisten erwähnten Charismen kaum Erwähnung finden: Der Jurist und der Lehrer bringen ihre beruflichen Kompetenzen ein;[871] die Friseurin, der Kneipenwirt und der Taxifahrer verwirklichen im Zuhören-Können das Charisma der Seelsorge in alltäglicher Gestalt.[872]

Möller nimmt damit die Intention Käsemanns auf, nach der nicht nur die individuellen Fähigkeiten, sondern auch der soziale und berufliche Stand und somit die «gesamte Wirklichkeit des Lebens» zum Charisma werden kann.[873] Gegen diese Ausweitung des Charismabegriffs ins Ethische und Soziale ist in der modernen Exegese berechtigter Widerspruch erhoben worden. So urteilt Ulrich Brockhaus, dass Käsemann «weit über die von Paulus gebahnten Pfade und gezogenen Grenzen hinaus geht» und damit die paulinische Charismenlehre «sprengt»:[874]

«Für Paulus kann eben nicht alles zum Charisma werden, sondern nur das, was in der Gemeinde erkennbar als Gabe des Geistes wirksam ist. Paulus ist dabei keineswegs eng; seine Tendenz geht auf eine Erweiterung der Charismenliste, aber er erweitert sie um Tätigkeiten, Begabungen, Funktionen, nicht um sexuelle, soziale oder religiöse Gegebenheiten.»[875]

Möller hat der «Ethisierung des Charismas» selbst widersprochen und die pneumatische Dimension betont. Charismen sind eben «ihrem Wesen nach […] nicht einfach natürliche Begabungen», sondern Gaben des «Geistes von oben», der «als eine Macht […] senkrecht von oben einbricht».[876] Deshalb betont er stets die Notwendigkeit der Verwandlung von Fähigkeiten in Gaben. Erst wenn in der Kraft des Geistes die natürlichen Begabungen in den Dienst Gottes und des Nächsten gestellt werden, können sie zu Gaben werden. Dieser vom Geist bewirkte Verwandlungsprozess wird von Möller nicht weiter theologisch erläutert. Es scheint so, als ob sich das Geistwirken auf die Bewusstseinsänderung beschränkt. Rechnet aber Paulus nicht auch damit, dass der Geist neue Gaben schenkt, ohne auf die Vorgaben einer natürlichen Basis festgelegt zu sein? So sehr Möllers «Leidenschaft für den Alltag» zu würdigen ist, muss doch kritisch geprüft werden, ob sein Charismakonzept der bleibenden Wirkursprünglichkeit des Geistes genügend Rechnung trägt. Damit ist eine wichtige Frage für die biblisch-theologische Rekonstruktion der Charismenlehre aufgeworfen: Wie kann die natürliche Begabung, die berufliche Kompetenz und der soziale Stand so in Beziehung zum Charisma gesetzt werden, dass der Geist derjenige bleibt, der nach 1Kor 12,11 «alles wirkt […] und einem jeden zuteilt, wie er will» (→ 5.4)?

Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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