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Freitag, 23. November 2012, 19:05
ОглавлениеFreitagabend – endlich, dachte Mark und setzte sich voller Erwartung an den Rechner. Die letzten Tage waren sehr anstrengend gewesen und er hatte keine Zeit gefunden online zu sein. Er empfand dies aber nicht als schlimm, da er bei seiner Arbeit jeden Tag eine fast unendliche Anzahl von Möglichkeiten hatte, gute Taten zu vollbringen. Dies brachte die notwendige Befriedigung in seinem Leben. Nun aber lag wieder einmal das lange und sehr einsame Wochenende vor ihm. Die Chance, jemandem an diesem Wochenende in der realen Welt einen guten Dienst zu erweisen, war sehr gering, da war das Internet die einzige Hoffnung.
Mark wohnte alleine in seiner kleinen Wohnung. Eine feste Freundin hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Er grübelte oft, woran dies vielleicht liegen konnte, während er im Badezimmer vor den Spiegel stand und sich wusch. Er war schon Anfang dreißig, groß, schlank und gut trainiert. Dies war für seinen Job sehr vorteilhaft. Es war nicht einmal nötig dafür ins Fitnessstudio zu gehen. Seine Muskeln entwickelten sich ganz von selbst, während er nur seiner Arbeit nachging. Er hatte gepflegte, kurze braune Haare und blaue Augen, die ihn im Spiegel musterten. Vielleicht waren es seine Augen, dachte Mark. Es waren eisblaue, kalte Augen, die ihn erbarmungslos anstarrten. Wer ihn nicht kannte und wusste, dass er im Grunde ein herzensguter und hilfsbereiter Mensch war, sah in seinem durchdringenden Blick vielleicht eine Bedrohung. Seine Augen konnten wie zwei Schwerter sein, die sich den Weg mühelos durch ihr Gegenüber bahnten. Es konnte gut sein, dass die Frauen in seinem Umfeld gerade dadurch abgeschreckt wurden. Jedes Mal, wenn er Kontakt zu einer jungen Frau aufgenommen hatte, war sie seinen Blicken ausgewichen, als wenn sie sich fürchtete, er könne sie mit seinen Augen durchbohren. Er war eigentlich nie mit einer festen Freundin zusammen gewesen. Zu mehr als einem Abendessen oder einem Kinobesuch ist es niemals gekommen.
Mark war zu Beginn seiner Ausbildung bei seinen Eltern ausgezogen und lebte seitdem zurückgezogen in seiner Wohnung. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, einen Arbeitsplatz im Pflegebereich zu bekommen. Nach vielen endlosen Bewerbungsrunden hatte er endlich Glück und der Personalleiter beglückwünschte ihn zu seiner Anstellung. Leider wurde seine Anfangseuphorie schnell getrübt, denn die Arbeitsatmosphäre ließ sehr zu wünschen übrig. Seinem Vorgesetzten konnte er es nie recht machen. Immer hatte er etwas an Marks Arbeit auszusetzen. Mark hatte in der Zeit schwer mit seinen Erniedrigungen zu kämpfen und suchte sich schließlich einen Ausgleich, eine Art Ventil, um seine Spannungen abzubauen.
Sein System war mittlerweile startklar und begrüßte ihn nach der Anmeldung mit den Worten:
Willkommen zurück Miss Gore. Ihr letzter Besuch war vor 2 Tagen und 23 Stunden.
[Miss Gore]: Guten Abend Darkwing.
[Darkwing]: Guten Abend Miss Gore. Ich hoffe Sie hatten einen angenehmen Tag.
[Miss Gore]: Danke der Nachfrage, werter Freund. Wo ist unsere gemeinsame Freundin Priscilla?
[Darkwing]: Ich muss Sie enttäuschen, das weiß ich leider nicht. Ich habe sie schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Aber es ist ja nun Wochenende. Vielleicht kann sie es einrichten wieder zu kommen.
[Miss Gore]: Dem wird vielleicht so sein.
[Darkwing]: Lassen Sie es uns hoffen.
Belangloses Geplänkel war nicht Marks Ding, wenn es nicht der Sache diente, also entschied er einen direkten Vorstoß zu wagen.
[Miss Gore]: Warst Du mittlerweile wieder bei einer Deiner Prostituierten oder hast Du Dich für mich aufgespart?
Offensichtlich war Jens-Gerwin verblüfft über diesen schnellen und direkten Themenwechsel. Nachdem er sich gesammelt hatte, tippte er wieder.
[Darkwing]: Ich habe mich für Sie aufgespart, Miss und hoffte, Sie heute hier wieder zu sehen.
Mark lächelte zufrieden, stand auf und holte sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Als er zurückkam war die Antwort noch einmal ergänzt worden.
[Darkwing]: Ich bin so scharf und brauche mal wieder eine Abreibung, Miss.
Mark erinnerte sich, dass Jens in der vergangenen Sitzung von seiner Vorliebe für Prostituierte erzählte, von denen er sich gerne dominieren ließ. Ausgepeitscht zu werden war einer seiner bevorzugten Spielarten.
[Miss Gore]: Ich bin doch nicht eine Deiner Prostituierten, denen Du befehlen kannst, was sie zu tun haben.
[Darkwing]: Nein Miss, entschuldigen Sie bitte. So war das nicht gemeint.
[Miss Gore]: Ich verstehe Dich schon sehr gut, aber bevor ich mich mit Dir weiter beschäftige, verlange ich einen Beweis für Deine Ergebenheit Darkwing!
[Darkwing]: Alles, was Sie wollen Miss.
[Miss Gore]: Sehr gut. Ich werde Dir bald einen Auftrag erteilen, ein Foto zu machen und es mir zu schicken. Bis das Foto hier ist, wirst Du weder zu einer dieser Nutten gehen noch Dich selber anfassen und befriedigen. Ich will, dass Du RICHTIG scharf wirst!!!
[Darkwing]: Ja Miss, verstanden.
Miss Gores energisches Auftreten ließ Jens-Gerwin keine andere Wahl als erst einmal klein beizugeben. Jens hatte so etwas noch nie in dieser virtuellen Welt erlebt und er wünschte sich von ganzem Herzen, dass diese Rollenspiele endlos weitergehen würden. Sehr rational verfolgte Jens diesen Gedankengang. Er würde viel Geld sparen, wenn er nicht mehr zu Prostituierten gehen müsste, um seiner Leidenschaft nachzugehen. Dieses Rollenspiel gefiel ihm immer mehr und es hatte viele weitere Vorteile. Es war hygienisch, kostenlos, anonym und sicher. Was sollte denn schon passieren, dachte Jens. Wer erkennt mich hier schon? Es ist anonym!
♦♦♦
Svens Woche war anstrengend gewesen und er hatte keine Zeit gehabt, um online zu sein. Heute nahm er sich aber die Zeit und hoffte, dass er nun seine Freunde wiedersehen könnte. Er loggte sich ein und materialisierte sich in der virtuellen Welt. Sein Blick schweifte umher und er konnte Darkwing und Miss Gore in einiger Entfernung sehen. Er ging zu ihnen. Die beiden schienen gerade in einem Gespräch vertieft zu sein, als er in Hörweite kam.
[Miss Gore]: … RICHTIG scharf wirst!!!
[Darkwing]: Ja Miss, verstanden.
Die beiden bemerkten ihn und verstummten für einen Augenblick.
[Priscilla]: Guten Abend Herrin. Guten Abend Darkwing.
[Miss Gore]: Sieh an, wen haben wir denn da?
[Darkwing]: Hi Priscilla, schön Dich wieder zu sehen.
[Priscilla] verbeugt sich.
[Miss Gore]: Du bist spät.
[Priscilla]: Ja Miss, Ihr Mädchen hatte in der Woche viel zu tun und hat auch heute leider nur wenig Zeit.
[Miss Gore]: Das ist nicht akzeptabel! Wenn Du zum engeren Kreis meiner Sklaven gehören willst, musst Du sehr viel öfter online sein.
[Priscilla]: 999
›999‹, das war das Zeichen für einen Notfall. Irgendetwas war bei Priscilla geschehen, so dass sie sich zurzeit nicht mehr weiter am Gespräch beteiligen konnte und den Chat unmittelbar verlassen musste. In der virtuellen Welt war dies völlig normal und ein akzeptiertes Verhalten. Schließlich sollten alle ihren Spaß haben. Und das reale Leben ging immer noch vor. ›afk‹ war ein anderes Kürzel, was so viel hieß wie, ›bin kurz von der Tastatur weg‹. Dieses wurde aber, im Gegensatz zum Notfallsignal, vorher angekündigt.
Die Minuten vergingen, dann endlich kam Sven zurück.
[Priscilla]: Entschuldigen Sie bitte Miss Gore, aber meine Frau hat zum Abendessen gerufen und sie war schon sehr böse.
[Miss Gore]: Okay, zisch ab. Wir wollen ja nicht, dass Du noch Ärger bekommst.
Sven meldete sich ab, fuhr den Rechner herunter und ging in die Küche zu seiner Frau, die bereits ungeduldig mit dem Abendessen wartete. Obwohl es nichts Aufwändiges zu essen gab, war Lara die gemeinsame Zeit mit ihrem Mann sehr wichtig, was Sven auch immer wieder zu spüren bekam.
Lara schnauzte ihn missmutig an. »Kaum bist Du zu Hause, schon hängst Du wieder an der blöden Kiste. Was machst Du da eigentlich immer? Was ist denn so wichtig, dass es nicht einmal bis nach dem Abendessen warten kann?«
Sven schluckte und suchte nach einer Antwort, oder besser gesagt, nach einer Ausrede. »Ach Schatz, ich musste die Post nachsehen und noch einmal die Kontoauszüge prüfen. Du willst doch auch nicht, dass irgendwer mal zu viel abbucht, oder?« Sven lächelte seine Lara etwas unbeholfen an und wartete, ob sie die Ausrede wohl akzeptieren würde. Er hielt den Atem an und hoffte, sie würde es nicht bemerken.
»Hast ja Recht. Nun hilf mir den Tisch zu decken.«
Sven atmete aus. Das war knapp und es war eine selten dämliche Ausrede. Er konnte ja unmöglich seiner Frau erklären, dass er sich als Priscilla in einer virtuellen Welt herumtreibt und mit anderen Spielern über seine Fantasien spricht. Manchmal lebte er die im Spiel auch aus, aber das waren ja alles nur Rollenspiele. Außerdem war es seine Tarnung in einem anderen Geschlecht als Priscilla aufzutreten. Wer sollte schon herausfinden, dass er in Wirklichkeit ein Mann war?
Oh nein, verdammt, schrie Sven innerlich auf, als er sich an seine letzten Worte im Gespräch mit Miss Gore erinnerte, bevor er abbrechen musste.
♦♦♦
Es war nur ein kurzes Gastspiel von Priscilla an diesem Abend, aber das kann jedem Mal passieren, dass die Realität ruft, dachte Mark. Nachdem Priscilla ihre Unterhaltung so abrupt verlassen hatte, standen sich Darkwing und Miss Gore nun wieder alleine gegenüber.
Mark übernahm die Gesprächsführung und kam direkt auf seinen bereits geäußerten Wunsch nach einem Foto zurück. Jens, alias Darkwing, hatte nicht die geringste Chance sich seinem Bann zu entziehen. Mark hatte durch seine dominante Art schon vielfach das bekommen, was er wollte. Zumindest hier in der virtuellen Welt funktionierte das sehr gut. In der wirklichen Welt brachte er es niemals zustande einem seiner Kollegen zu widersprechen oder gar seinem Vorgesetzten nicht jeden Wunsch zu erfüllen. Im Job musste er entsprechend agieren, aber hier im Internet im Schutz der Anonymität, konnte er sein anderes ›Ich‹ zeigen. Vielleicht war dies sogar seine wahre Persönlichkeit?
Marks Gedanken, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, wurden jäh unterbrochen, als eine weitere Person der Unterhaltung beitrat. Heute war wirklich viel los hier, dachte Mark. Diese armen Seelen, die am Wochenende nichts Besseres mit sich anfangen konnten, als im Internet den virtuellen Spaß zu finden. Er selbst gehörte nicht zu dieser Gattung Mensch, denn er hatte einen Auftrag zu erfüllen – einen wichtigen Auftrag! Diesen hatte er immer wieder durch seine Eltern eingetrichtert bekommen und es erfüllte ihn mit Ehrgeiz, wenn er wusste, dass seine Eltern stolz auf ihn gewesen wären.
[Miss Gore]: Hey Kleiner, kennen wir uns? Darkwing, hast Du den Neuen schon mal gesehen?
[Darkwing]: Nein Miss, noch nie.
Einige Figuren in dieser Welt waren entweder sehr schüchtern, neu oder auch nur verklemmt. Als nach einer Weile noch immer keine Antwort erschien, hakte Mark energischer nach.
[Miss Gore]: Hat es Dir die Sprache verschlagen oder sprichst Du gar nicht unsere Sprache?
[Hangim Hi]: Hallo!
[Miss Gore]: Ach! Das ist alles? Hat Dir niemand beigebracht Dich vorzustellen, oder sollen wir raten?
[Darkwing]: Vielleicht ist ja sein Name Programm, Miss!
[Miss Gore]: Na klar, Hangim Hi steht entweder für einen Cowboy, aber so siehst Du gar nicht aus, oder es ist Dein eigener Wunsch aufgehängt zu werden?
[Darkwing]: Vielleicht sollten Sie seinem Wunsch mal nachkommen, Miss Gore?
[Hangim Hi]: Ähm, hi, ich bin neu hier.
[Miss Gore]: Also, wer bist Du und was willst Du? Geht es darum unsere Zeit zu verschwenden, oder willst Du gleich am nächsten Baum baumeln?
Mark war aufgebracht. Da stolperte dieser Neue einfach so in seine Unterhaltung mit Darkwing hinein, die noch gar nicht richtig in Schwung gekommen war und brachte dann kein Wort heraus. Mark klickte mit der Maus die neue Figur auf dem Bildschirm an und öffnete ihr Profil. Was er da las war zu schön, um wahr zu sein.
♦♦♦
Der Durst war vergangen und Kay spürte endlich auch keine Schmerzen mehr. Seine Hände waren wie abgestorben und er fühlte eigentlich gar nichts mehr. Sein Hintern auf dem harten, mit Fäkalien bedeckten Boden und seinen Rücken an den kalten Gitterstäben des Käfigs hatte er vor etlichen Stunden das letzte Mal bewusst gespürt. Mittlerweile nahm Kay seine Umwelt nur noch sehr schemenhaft war, aber die Gestalt, die sich ihm näherte, konnte er deutlich erkennen. Es war eine ihm sehr nahestehende Person. Kay versuchte zu sprechen, bekam aber keinen Ton heraus. Seine Kehle war schon seit Tagen eingetrocknet und auch seine verzweifelten Hilferufe, die durch das Klebeband mehr wie ein zaghaftes Grunzen eines verendenden Tieres klangen, blieben unbeachtet. Die Person kam immer näher an seinen Käfig heran und begutachtete das stählerne Gefängnis von allen Seiten. Die Gestalt ließ sich dabei sehr viel Zeit. Vielleicht suchte sie nach einer Möglichkeit ihm zu helfen auszubrechen. Kay konnte sehen, wie ihr Atem in kleinen Wölkchen vor Mund und Nase sichtbar wurde. Dann begann die Gestalt ihren Mund zu öffnen. Kay war irritiert, denn der Mund entblößte keine Zähne, sondern es entstand nur ein schwarzes Loch. Wie hypnotisiert sah Kay in den dunklen Schlund der Figur, die zu sprechen begann.
Die Worte kamen klar und deutlich: »Du wolltest es so, Kay!« Der Mund hatte sich keinen Millimeter bewegt und doch war sich Kay sicher, die Worte genau gehört zu haben. Wie war das möglich? Seine dehydrierten Gehirnwindungen wollten auf diese Frage keine Antwort mehr finden. Seine Ohren vernahmen die letzten Worte der Person: »Lebe wohl!«
Dann löste sich die Gestalt in einer Nebelwolke auf und Kays Augenlider schlossen sich langsam. Sein Körper hatte bisher alle lebensnotwendigen Systeme aufrechterhalten können, aber nun spürte er, wie die Kraft aus seinen Muskeln schwand und er flacher atmete. Dann atmete er gar nicht mehr. Er hatte den Kampf endgültig verloren.