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Montag, 19. November 2012, 06:45

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Auch Gwens Wecker zeigte 06:45 Uhr, als der Alarm in voller Lautstärke im Schlafzimmer startete. Vom Wecker nebenan geweckt, wankte Phil schlaftrunken aus seinem Zimmer und verschwand im Schlafzimmer seiner Mutter. Er stellte den Wecker aus und realisierte nun erst das leere Bett. Wahrscheinlich war sie wieder im Wohnzimmer vor dem Fernseher eingeschlafen, wie so oft. Phil schlich ins Wohnzimmer im Erdgeschoss und sah seine Mutter auf der Couch liegen.

»Mama! Der Wecker hat geklingelt!«, zu mehr war Phil am frühen Morgen noch nicht in der Lage. Er wankte zurück ins Obergeschoss und ins Bad.

Gwen war furchtbar müde. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie hatte vom Krankenhaus geträumt und davon, dass Paul gestorben war. War alles nur ein böser Traum gewesen? Sie kam zu sich und es traf sie mit aller Härte der Realität. Sie war Witwe, alleinerziehende Mutter eines pubertierenden Jugendlichen. Warum hatte es das Schicksal so ernst mit ihr gemeint?

»Mama, Du musst auch aufstehen!«, rief Phil aus dem Obergeschoss, der mittlerweile im Bad fertig war und wieder in seinem Zimmer verschwand.

»Ja, mein Schatz, ich bin wach. Danke Dir.«

Nachdem Gwen sich auch im Bad frisch gemacht hatte, bereitete sie in der Küche das Frühstück für sie beide vor. Die Einbauküche hatten sie sich zu ihrem zwanzigjährigen Hochzeitstag gegönnt. Paul wünschte sich damals ein Kochfeld, um welches man herumgehen konnte. Da ihre Küche eine entsprechende Größe hatte, war dies ohne Probleme möglich gewesen. An der einen Seite war eine Art Tresen angebracht, den sie oft nutzten, um im Stehen oder auf den Bistrohockern sitzend zu frühstücken. So mussten sie nicht immer alle Frühstücksutensilien in das nebenan liegende Esszimmer bringen.

»Phil, wo bleibst Du? Das Frühstück ist fertig und wir müssen gleich los!«

Paul hatte immer sehr gerne gekocht, was eine riesige Erleichterung für Gwen darstellte. Wenn er abends nach Hause kam, hatte er oftmals noch spontan kleine Leckereien eingekauft und köchelte ein Mahl für die Familie. Nichts Aufwendiges, aber immer wieder spannend, lecker und ausgefallen. Gwen war nie eine große Köchin gewesen und machte auch nie einen Hehl daraus. Dafür war sie eine begnadete Bäckerin. Sie liebte es, Kuchen, Torten und Plätzchen zu backen. In der Weihnachtszeit lief sie immer zu Höchstformen auf, aber dieses Jahr würde alles anders werden. Die Adventszeit stand kurz bevor und es hatte alles so besinnlich werden sollen. Nun musste Gwen sich erst einmal auf andere Aufgaben konzentrieren.

»Phil! Hallo? Verdammt, wir kommen noch zu spät!« Phil trottete die Treppe hinunter, seine Schultasche schlurfte am langen Arm hinter ihm her.

»Hier, Dein Brot für die Pause. Wir haben jetzt keine Zeit mehr. Tu mir den Gefallen und iss das eine Brot noch vor Beginn der Schulstunde. Du brauchst etwas im Magen!« Hektisch verließ Gwen das Haus und schob ihren trägen Sohn vor sich her zum Auto, welches in der Auffahrt parkte. Sie drehte den Zündschlüssel im Schloss und hörte – nichts! Nochmal. Nochmal. »So eine Scheiße!«, entglitt es ihr. Ihr, die sich sonst immer so unter Kontrolle hatte. »Das darf doch wohl nicht wahr sein. Als wenn sich heute alles gegen uns verschworen hätte.«

»Mama, ich muss zur Schule«, merkte Phil zaghaft an.

»Herrgott, ich mach ja alles möglich, aber zaubern kann ich leider auch nicht. Die Karre springt nicht an! Das merkst Du doch auch, oder?« Dies war allerdings mehr eine rhetorische Frage, auf die Gwen nicht wirklich eine Antwort erwartete und auch nicht erhoffte. Sie war schon aufgebracht genug.

Sie schnappte sich ihr Handy und startete seine Kurzwahl. Nach zwei Mal klingeln nahm er ab.

»Guten Morgen Gwen, hier ist Stefan, was gibt es denn um diese Zeit?«

»Hallo Stefan, gut, dass ich Dich erreiche. Es hat sich alles gegen uns verschworen. Phil muss dringend zur Schule, wir sind spät dran, ich komme zu spät zur Arbeit und nun springt auch noch diese verflixte Karre nicht an.« Gwen atmete durch und ergänzte den Tränen nahe: »… und Paul ist nicht mehr da, um uns zu helfen.«

»Nun beruhige Dich erst einmal. Ich komme gleich vorbei und helfe euch. Vielleicht ist es nur eine Kleinigkeit.«

»Das ist ganz toll von Dir. Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Geht am besten nochmal ins Haus. In einer Viertelstunde bin ich bei euch. Trink noch einen Kaffee und beruhige Dich, Gwen. Alles wird gut. Bis gleich.« Dann wurde aufgelegt.

»Komm Phil, wir gehen nochmal ins Haus. Ich rufe Deine Lehrerin an, dass Du später kommst.« Lustlos packte Phil seine Sachen und trottete hinter seiner Mutter her ins Haus.

Etwa zwanzig Minuten später hörte Gwen ein Auto in die Kieseinfahrt einfahren. Es war Stefan. Der verrückte Kerl war mit Barbarix, ihrem Dienstfahrzeug, gekommen.

»Phil? Kommst Du? Stefan ist da. Wir fahren Dich zur Schule und er nimmt mich mit zur Arbeit.« Schlurfend kam Phil die Treppe herunter. Wie in jeder seiner freien Minuten, hatte es ihn gleich wieder an den Computer gezogen. Er war nur sehr schwer davon zu trennen. An der Haustür nahm Stefan die beiden in Empfang. Phil bekam große Augen, als er den Polizeiwagen sah.

»Fahren wir mit Blaulicht?«, fragte er grinsend.

»Nur, wenn Du schnell in die Schule kommen willst, junger Mann?«, gab Stefan zu bedenken, wobei die Betonung auf ›schnell‹ lag.

Phil überlegte kurz und konterte: »Mama muss dringend zur Arbeit, das ist wichtiger!« Er grinste Stefan an.

»Dann müssen wir uns beeilen, sonst entkommt die Arbeit Deiner Mutter noch. Rein mit euch!« Das Blaulicht flackerte gespenstisch im Frühnebel dieses kalten und dunklen Novembertages. Der Tag hatte so trist begonnen, wie Gwen sich fühlte. Als das Martinshorn die morgendliche Stille auf dem Land zerriss, erblickte Gwen durch den Rückspiegel ein Lächeln auf Phils Gesicht. Das erste Mal seit der Geburtstagsfeier vor zwei Tagen, dachte Gwen und freute sich. Die Reifen von Barbarix griffen nicht sofort auf dem Schotterbett, aber dann entfaltete sich die Kraft des Motors und drückte die drei Insassen in die Sitze – auf dem Weg zum Einsatzort Schule.

♦♦♦

Fünfundzwanzig Minuten später erreichten sie das Landeskriminalamt, nachdem sie Phil beim Gymnasium Kronshagen abgesetzt hatten. Stefan konnte nicht die ganze Zeit mit eingeschaltetem Martinshorn fahren, ohne nicht eine Rüge seines Vorgesetzten zu kassieren, falls er es erfahren hätte. Aber das Lächeln des Jungen war es wert gewesen. Der Stadtverkehr nahm um diese Zeit schon zu, aber die Schleichwege von Phils Schule zum Landeskriminalamt waren noch wenig frequentiert.

»Das haben wir doch noch gut hinbekommen, oder?«, fragte Stefan und ergänzte, »… weder Phil noch Du bist der Arbeit entkommen.« Er sah sie mit einem zwinkernden Auge an und lächelte. Dabei spürte er wieder die wohlige Wärme in seinem Bauch aufsteigen. Dieses Gefühl hatte er schon oft genossen, wenn er gemeinsam mit Gwen im Einsatz war. Sie war eine attraktive Frau und genau sein Typ, aber sie war verheiratet. An dieser Stelle war es für Stefan bisher immer klar gewesen, nicht weiter um ihre Gunst zu buhlen. Dafür respektierte er sie viel zu sehr. Aber nun hatte sich das Blatt gewendet. Entsetzt über seinen eigenen Gedankengang brach Stefan alle Überlegungen sofort ab. Wie kam er nur dazu so zu denken? Seine Kollegin war gerade einmal zweiunddreißig Stunden Witwe und hatte ihren geliebten Mann verloren. Nun hatte sie ganz bestimmt andere Sorgen, als sich um einen neuen Partner zu bemühen. Er würde seine Gefühle für sich behalten und das professionelle Verhältnis, welches sie seit Jahren hatten, nicht aufs Spiel setzen.

»In der Tat! Vielen Dank für Deine schnelle Hilfe, Stefan. Ich möchte ja gar nicht fragen, aber es wäre Klasse, wenn Du mich heute Abend noch nach Hause bringen könntest. Ich werde dann den Automobilclub anrufen. Hoffentlich ist es nur eine Kleinigkeit.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Was hätte ich ohne Dich gestern und heute bloß gemacht?«

»Ich habe Dir gerne geholfen, Gwen. Kein Problem. Ich fahre Dich auch gerne heute Abend nach Hause. Wir bekommen das schon hin. Sag mir einfach, wo ich Dir helfen kann. Dafür sind Partner doch da.«

»Du hast uns gestern Nacht schon so viel geholfen. Dass Du einfach nur da warst. Das war so wichtig für mich. Ich weiß, dass ich mich auf Dich verlassen kann, aber ich möchte es auch nicht strapazieren.«

»Mach Dir bitte keine Sorgen. Ich sage Dir schon Bescheid, wenn es mir zu viel wird«, entgegnete ihr Stefan. Innerlich dachte er, dass es ihm wohl nie zu viel werden wird. Im Gegenteil, er wollte mehr von ihr.

Gwen riss Stefan aus seinen Gedanken.

»Ich rufe mal den Automobilclub an und mache einen Termin für heute Abend. Auch muss ich mich nun erst einmal um meine Mutter und Phil kümmern. Sie holt ihn sicherlich wieder von der Schule ab und bringt ihn dann nach Hause. Ich werde sie bitten, heute Nachmittag bei ihm zu bleiben, bis wir nach Hause kommen.«

»Sag ihr einen schönen Gruß von mir und ich denke um sechs Uhr können wir da sein. Nun müssen wir aber auch mal was schaffen. Ich muss noch rüber ins Dezernat 23, wegen der Falschgeldgeschichte bei der Tankstelle. Vielleicht haben sie ja schon etwas herausbekommen.« Stefan wollte nicht, dass seine Gefühle für Gwen in diesem Moment weiter zunehmen, daher machte er kehrt und ließ sie im Korridor vor ihrem Büro stehen.

Mord im ersten Leben

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