Читать книгу Die Toten von Haywood Grove - Dominic Spinner - Страница 10

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Die Abende im Kino waren um einiges erträglicher, wenn Dakota mit mir Schicht hatte. Genau wie Kelly hatte ich es eher semi gut erwischt, was meinen Chef anging. Adam Warner war an sich ein netter Kerl, aber sobald er das Kino betrat, hatte er nur noch seine Kasse und die Kundschaft im Kopf.

Auch an diesem Freitagabend war Dakota der Lichtblick, der mich durch die fünf Stunden Arbeit bringen sollte. Als sie vor knapp einem Jahr im Red Oak Cinema zu arbeiten begonnen hatte, hatte ich sie nur vom Sehen aus der Schule gekannt. Sie war ein Jahr jünger als ich und vor etwa zwei Jahren aus Seattle hier raus aufs Land gezogen. Ich glaube, ihr Vater hatte eine wichtige Stelle im alten Stahlwerk draußen in Sainsville bekommen – so genau hatte ich sie das nie gefragt. Denn egal, was der Grund auch war, sie war hier und das zählte.

Dakota war etwas Besonderes, durch und durch. Sie war so ein Mädchen, das eigentlich zu den Coolen gehörte, aber nie das Auge für die Leute in der Schule verlor, die nicht Teil dieses erlauchten Kreises waren. Ihr war es grundsätzlich egal, was die anderen von ihr dachten und daraus machte sie auch keinen Hehl. Sie war lebensfroh, fleißig und hatte einfach immer ein offenes Ohr.

Verdammt, ich war Hals über Kopf in sie verliebt.

Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich das schon am ersten Tag gemerkt. Wie sie da vor mir gestanden hatte, in ihrem schwarzen Nirvana-Shirt, ihren rosa gefärbten Haaren und diesem unwiderstehlichen Lächeln - da war es um mich geschehen gewesen. Sie wechselte mehrmals im Jahr ihre Haarfarbe und Frisur und vielleicht sah ich sie ja durch die rosa Brille, aber ihr stand einfach alles.

Aktuell hatte sie immer noch ihre rosa Haare mit leichten blonden Strähnen. Sie begrüßte mich auf der Arbeit wie immer mit einem Lächeln und einer Umarmung und ich schmolz bereits in diesem Moment dahin. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass ich in ihrer Gegenwart noch gerade Sätze herausbrachte – das war eigentlich eines dieser typischen Talente, die ich mir im Laufe der Jahre angeeignet hatte: in der Nähe interessanter Mädchen machte ich mich gerne mal zum Affen. Aber irgendwie nicht bei Dakota. Vielleicht lag es einfach an ihrer Art, dass ich mich so wohl in ihrer Nähe fühlte und gar keine Chance bekam, zum Idioten zu werden.

„Alles klar?“, fragte sie mich. „Haben sie dich noch rausgelassen heute Abend?“ Sie lachte.

„Du meinst, wegen des Mordes?“

„Klar. Ganz schön spannend, was? Für einen Tag fühlt sich Haywood Grove ja so ein bisschen wie Seattle an. Fehlen nur noch die Cracksüchtigen im Park und das andauernde Geheul von Sirenen – aber hey, daran arbeiten wir noch, oder?“

„Hast du keine Angst?“, fragte ich, während ich die Popcorn-Maschine anschaltete. In einer halben Stunde würde der erste Film laufen, in den nächsten Minuten würden also die ersten Gäste eintreffen. Dakota wischte unterdessen den Tresen ab und bereitete die Kasse vor. Wir würden den ganzen Abend gemeinsam hinter dem Tresen stehen. Walter würde sich höchstens ein oder zwei Mal blicken lassen – und auch dann nur, um das Geld aus der Kasse zu holen und es zu zählen.

Sie hielt inne und sah mich mit einem verschmitzten Grinsen an. „Sie haben ihn ja. Wieso sollte ich Angst haben?“

„Naja, was, wenn er nicht der Mörder ist?“

„Wie kommst du da drauf?“

„Keine Ahnung, ist nur so eine Vermutung.“

„Du schaust zu viele Filme, Barry. Wir sind hier immerhin in Haywood Grove. Das war ein klassischer Raubmord, zu mehr ist diese Stadt doch nicht in der Lage.“

Die Popcorn-Maschine musste nun noch ein paar Sekunden aufheizen, also lief ich zu ihr rüber. Ich konnte ihr fruchtiges Parfüm riechen und musste mich anstrengen, einen klaren Kopf zu bewahren. Ich lehnte mich an den Tresen. „Okay, mal angenommen, er ist schuldig. Dann war er aber nicht gerade clever.“

Sie lehnte sich zu mir, so dass unsere Köpfe nur noch wenige Zentimeter entfernt waren. „Richtig, Sherlock“, flüsterte sie grinsend. „Mörder, die sich fassen lassen, gehören selten zu den Cleversten.“ Sie tippte mir auf die Nase, dann war die Situation vorbei und sie füllte die Kasse mit Wechselgeld.

„Na egal, wie war die Schule heute?“, fragte sie mich und wir wechselten in die eher belangloseren Themen. Ich erzählte ihr von Briannas Wutanfall und der unfassbar guten Auflage der Haywood Post und sie lobte mich für den Beitrag. Wir fanden einfach immer Gesprächsstoff. Mit Dakota kam es nie zu dieser unangenehmen Stille, in der niemand wusste, was er sagen sollte.

Als die ersten Kunden eintrafen, kam auch Walter aus seinem Kämmerchen ins Foyer. Er war bestimmt schon Mitte sechzig und hätte sich längst zur Ruhe setzen können, konnte aber einfach nicht von seinem Baby lassen. Das Red Oak Cinema gehörte ihm seit über vierzig Jahren und das erklärte er einem auch in jedem zweiten Gespräch.

Dakota erzählte mir gerade, während sie einen Kunden abkassierte, von ihrem Tag in der Schule und wir mussten beide bei einer ihrer Geschichten laut lachen. Im Augenwinkel sah ich schon, wie Walter zu uns herüber stampfte und wartete, bis alle Kunden abkassiert waren. „Ihr sollt euch aufs Arbeiten konzentrieren und nicht auf euch gegenseitig, habt ihr das verstanden?“ Er blickte uns grimmig an, während er bereits die ersten Dollarnoten aus der Kasse nestelte und sie zu einem akkurat geformten Bündel ordnete. „Sonst teile ich euch nicht mehr zur gleichen Schicht ein.“

„Ja, ist schon gut“, gab ich eingeschüchtert zurück.

„Ach komm, Walter, da ist doch nichts dabei“, witzelte Dakota. Ich bewunderte, wie gelassen sie auch dann blieb, wenn Walter uns mal wieder blöd kam.

Der entfernte sich mit den Worten „Ich hab euch im Auge“ gleich wieder von uns. Dakota rollte mit den Augen. „Jawohl, Mister Warner, Sir, wir haben keinen Spaß bei der Arbeit, wie ihr wünscht“, spielte sie in übertriebenem Ton.

Natürlich brachte sie mich zum Lachen. „Ich hoffe, er hört dich nie, wenn du so etwas machst.“

„Das hoffe ich auch. Ich will ja nicht meine Schicht mit dir verlieren.“

Bei diesen Worten wurde mir ganz warm ums Herz. Einige Synapsen in meinem Gehirn setzten sofort aus, während die anderen unter Hochtouren beschäftigt waren, mit der Überlegung klarzukommen, ob sie das nur freundschaftlich meinte oder ob da vielleicht mehr dahintersteckte.

An diesem Abend liefen vier Filme im Red Oak. Alle waren recht gut besucht, was bestimmt anders gewesen wäre, wenn die Polizei nicht Deshawn Jones in Gewahrsam genommen hätte und Holfield dies nicht überall brühwarm erzählt hätte. Während unserer Schicht lief sogar ein Interview mit ihm im Radio, wo er die tollen und schnellen Ermittlungsarbeiten seines Teams lobte und ganz wichtigtuerisch „keine Einzelheiten zu einer Mordermittlung herausgeben“ konnte. Ich schätzte, dass er sich diesen Satz etwa die letzten zwanzig Jahre zurechtgelegt hatte, um ihn einmal sagen zu können.

Ich war immer noch überzeugt, dass Jones nicht der wahre Mörder war. Als der letzte Film etwa um dreiundzwanzig Uhr zu Ende war und wir alles aufgeräumt und geputzt hatten, kam mir ein Gedanke. Ich konnte Dakota unmöglich alleine nach Hause laufen lassen, auch wenn sie nur zehn Minuten Fußweg vom Kino bis nach Hause hatte. Denn solange ich nicht überzeugt war, dass der Mörder gefasst war, stellte aus meiner Sicht ihr Nachhauseweg mitten in der Nacht eine Gefahr dar. Mit dem netten Zusatz, dass ich die Frau meiner Träume für zehn weitere Minuten alleine für mich hatte.

„Wir sehen uns morgen wieder“, verabschiedete sie sich lächelnd, während sie sich ihre Jacke und einen Schal anzog.

„Hey, du wirst doch jetzt nicht alleine nach Hause laufen wollen“, versuchte ich, cool zu bleiben.

„Wieso nicht? Das mache ich immer so. Du weißt ja, Großstadtkind und so.“

„Dakota, das kann ich nicht zulassen. Wenn da draußen noch ein Mörder frei rumläuft…“

„Hast du vorhin nicht zugehört? Sie haben ihn doch.“

„Solange er nicht verurteilt ist, ist er nicht schuldig.“ Mann, ich hörte mich an wie mein Vater. „Ich begleite dich bis nach Hause, einverstanden?“ Ich hoffte, dass sie das nicht als unbeholfenen Anmachversuch verstand.

Sie machte so, als würde sie überlegen. „Na dann, ein bisschen Unterhaltung auf dem Heimweg kann doch nicht schaden.“

Auch wenn ich es gut gemeint hatte, fing unwillkürlich mein Herz an zu pochen. Es war albern, ich weiß, aber in so einer Situation fingen die typischen Barry-Symptome an. Reiß dich zusammen, dachte ich mir und versuchte, ruhig zu atmen.

Wir machten alle Lichter aus und schlossen dann das Kino von außen ab. Es war kalt geworden, dichte Wolken versperrten die Sicht auf den Mond und die Sterne. Auf den Straßen war nur noch wenig los, vereinzelt waren ein paar junge Leute unterwegs. Wir liefen ein paar Meter schweigend. „Und in dieser Dunkelheit willst du alleine nach Hause laufen?“

Sie lachte. „Von wollen kann ja gar keine Rede sein. Du hättest mich schon früher mal bis nach Hause begleiten können.“ Sie stupste mich in die Seite. Ich war froh, dass es so dunkel war und sie nicht sah, wie rot ich geworden war. Natürlich, da musste erst ein Mord passieren, um mich auf diese Idee zu bringen, um ihr näher zu kommen. Den Mut, sie um ein Date zu fragen, brachte ich ja genauso wenig zustande. Aber ich wusste eben auch nicht, ob sie zu jedem Kerl so war oder ob das zwischen uns etwas Besonderes war.

„Wo wir gerade beim Gruseln sind. Sehen wir uns nächste Woche bei der Halloween Party?“

„Klar, Matt und Nick wollen da jedes Jahr hin“, antwortete ich. „Nick hofft ja, dieses Jahr die ‚Weiße Lady‘ wieder zu sehen.“

Dakota prustete los. „Ach du Scheiße, das hatte ich ja schon ganz vergessen. Schade, dass ich das im letzten Jahr nicht gesehen habe. Die Geschichte ist schon der Hammer.“

„Ich hoffe, dass nicht du dahintersteckst“, scherzte ich.

„Ich schwöre.“ Sie hielt Zeige- und Mittelfinger hoch und formte ein „V“, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

„Dann bin ich ja beruhigt.“

Die Zeit verging wie im Flug und ehe wir uns versahen, waren wir bei Dakota zuhause angekommen. „Danke für die Begleitung. Das können wir gerne wiederholen.“

„Bis der Mörder hinter Gittern sitzt wirst du mich nicht los“, grinste ich.

Sie lächelte und für einen Moment blickten wir uns direkt in die Augen. Ich glaube, im Film wäre das der Moment, an dem sich unsere Köpfe wie in Zeitlupe näherkämen und wir uns schließlich küssen würden. Aber hey, das hier war die Realität und das hier war immer noch ich. Das traute ich mich dann doch nicht. Noch nicht, haha.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte mich innig. „Mach’s gut, Barry“, sagte sie. „Und schlaf gut.“ Dann drehte sie sich um und ging durch das Gartentor in Richtung Haustür. Ich sah ihr hinterher. Sie drehte sich noch einmal um. „Und hey, schick mir eine Nachricht, wenn du zuhause bist. Nicht, dass du derjenige bist, der heute Nacht in Gefahr ist.“ Sie grinste.

„Versprochen.“ Egal, was das war, aber es brachte mein Herz vollends zum Hüpfen. Sie wollte allen Ernstes, dass ich ihr eine Nachricht schickte, wenn ich zuhause war. Sie machte sich doch wirklich Sorgen um mich!

Ich blickte ihr noch hinterher, wie sie in der Haustür verschwand, dann schwang ich mich auf mein Fahrrad und machte mich auf den Heimweg. Während mir der kalte Wind um die Ohren wehte, verbrachte ich die paar Minuten damit, mir Gedanken zu machen, wie meine Nachricht an Dakota aussehen würde, wenn ich zuhause wäre. Um den Mörder machte ich mir keine Gedanken, ich war vollends gefangen in Dakotas Aura, die mich an diesem Abend gepackt hatte wie noch nie zuvor. War da vielleicht eine Möglichkeit, dass sie und ich…? Ich wischte den Gedanken beiseite. Soweit waren wir noch lange nicht. Und außerdem konnte sie doch bestimmt bessere Typen als mich abkriegen, oder?

Die Nachricht, die letztendlich nach meinem Brainstorming in dieser Herbstnacht herauskam, war ein Quell sprudelnder Kreativität. Bin zuhause. Alles gut. Um einen grinsenden Emoji dahinter auszuwählen, benötigte ich weitere drei Minuten. Mein Gott, mein Hirn hatte endgültig ausgesetzt.

Es dauerte nicht lange und mein Smartphone vibrierte. Gleichzeitig begann mein Herz, etwas schneller zu schlagen, denn ich ahnte instinktiv, dass das nur Dakotas Antwort sein konnte. Natürlich war sie es, wer sonst sollte mir um solch eine Uhrzeit etwas schreiben? Da bin ich ja froh. Die Schicht mit dir heute war klasse, freue mich auf morgen. Schlaf schön. xo.

Ich weiß nicht, wie das bei euch ist, aber Dakota hätte mir auch den Einkaufszettel ihrer Mutter oder den Mittelteil ihres Vokabelhefts schicken können – alles wäre mir in dem Moment recht gewesen. Alles hätte für dieses Kribbeln in meinem Bauch gesorgt, das in dem Moment akut war. Es war einfach die Tatsache, dass sie mir schrieb und vor allem immer noch, dass sie von mir gefordert hatte, ich solle ihr mitteilen, wenn ich sicher zuhause angekommen war.

Ich begrüßte noch kurz meine Eltern, ging dann nach oben in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und las ihre Nachricht noch vierunddreißig Mal. Das war doch ein guter Start ins Wochenende. Und ab morgen war dann wieder mein Mordfall an der Reihe.

Die Toten von Haywood Grove

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