Читать книгу Die Toten von Haywood Grove - Dominic Spinner - Страница 8

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Als Kind habe ich den Herbst geliebt. Die Welt wurde auf einmal bunter und irgendwie war das für meine Familie immer eine Zeit gewesen, in der wir enger zusammengewachsen waren. Gemeinsame Touren durch den Wald, Kürbisse schnitzen oder Drachen steigen lassen sind nur einige der tollen Erinnerungen, die ich an den Herbst aus meiner Kindheit habe. Und so fühlte ich mich in alte Zeiten zurückversetzt, als ich mit Nick durch den Wald lief, um den Fundort der Leiche zu begutachten.

Die orange, weinrot und senfgelb gefärbten Blätter unter uns raschelten unentwegt. Das abendliche Sonnenlicht strahlte uns durch das dünner werdende Dickicht der Baumkronen ins Gesicht und die Kühle des herannahenden Abends drang langsam durch meinen Hoodie. Okay, an mir ist wirklich ein Lyriker verloren gegangen und ich will auch gar nicht weiter darauf eingehen, wie schön der Oakhill Forest uns nach der Schule empfing. Denn das wäre alles wirklich schön und idyllisch gewesen, wenn nicht die riesige Fläche platt gedrückter Blätter und abgerissener Äste uns wieder in die Realität zurückgeholt hätte. Denn hier war die Leiche gefunden worden.

Wir hatten den Rest des Schultages damit verbracht, halbwegs dem Unterricht zu lauschen und in der anderen Hälfte wildeste Theorien aufzustellen, die eine ganze Romanserie für die Drei ??? bedeuten würden. Nick hatte kurzerhand die Fotos, die er am Morgen von der Leiche gemacht hatte, über die WLAN-Funktion seiner Kamera auf sein Smartphone übertragen. Dann waren wir in den Computerraum gegangen, um einige der Fotos groß auf Papier auszudrucken.

Eines dieser Fotos hielt ich nun in meiner Hand und glich es mit der Stelle im Wald ab, die Nick mir gezeigt hatte. Wenn ich nicht gewusst hätte, was – beziehungsweise wer - sich da heute morgen noch befunden hatte, ich wäre ohne zu zucken daran vorbeigelaufen. Aber jetzt, da es mir klar wurde, sah ich die Spuren der morgendlichen Entdeckung noch ganz deutlich.

Die Leiche hatte wohl über Nacht dort gelegen, denn ihre Umrisse waren im Blättermeer noch recht deutlich erkennbar, wenn man wusste, worauf man zu achten hatte. Drum herum war alles platt getreten. Ich ging davon aus, dass Travis und Holfield nicht die einzigen Polizisten waren, die den Fundort der Leiche besucht hatten, konnte es aber mit Sicherheit auch nicht sagen.

Matt war übrigens nicht mitgekommen, weil er – Trommelwirbel – noch ein Date hatte. Er war eindeutig der Draufgänger in unserer kleinen Gruppe, anders konnte man das nicht beschreiben. Wobei er auch ernsthaft überlegt hatte, mit uns mitzukommen. Eine Leiche gab es in Haywood Grove – wie ich jetzt schon oft genug erwähnt habe – nun mal nicht alle Tage. Aber er tat gut daran, sein Date von heute Abend nicht warten zu lassen. Denn ich war mir sicher, dass aus ihm und Summer wirklich etwas werden konnte. Summer war eines der Mädchen aus unserer Klasse. Sie war klug, witzig und ganz und gar nicht arrogant – der feine Unterschied zu Brianna und Cheyenne. Das Gesamtpaket, wie man so schön sagt, stimmte einfach bei ihr und es wunderte mich doch etwas, dass sie nicht mit den älteren Jungs unterwegs war. Für Matt freute es mich wirklich. Nick und ich waren jedenfalls gespannt, ob er das heute Abend meistern würde – für meinen Geldbeutel wäre es gut, denn Nick hatte einen Zehner dagegen gesetzt.

Aber zurück zu unserer Leiche, beziehungsweise dem Ort, an dem sie gefunden worden war.

„Und hier lag sie also?“, fragte ich, denn ich sah, wie es Nick auf den Lippen brannte, dass er endlich erzählen konnte.

Und prompt legte er los. Er zeigte mir, wo er hergekommen war, machte sogar seinen kleinen Stolperer nach, als er fast über eines ihrer Beine gefallen war und redete wie ein Wasserfall über Dinge, die er heute schon mehrmals ausführlich geschildert hatte. Ich ließ ihn gewähren und blickte stattdessen noch einmal auf das ausgedruckte Foto in meiner Hand.

Obwohl ich mir das Foto schon einige Male angesehen hatte, war es doch nicht so, dass ich jedes Detail überblickt hätte. Ich nahm mir die kurze Zeit, während Nick weiterplauderte, ohne mir Beachtung zu schenken. Ich schätzte das Alter der Frau auf etwa um die fünfzig. Ihr schwarzes Haar schien gepflegt zu sein, ihr Körper war sportlich. Sie trug eine graue Jacke und eine Skinny Jeans, darunter weiße Sneaker – modisch gekleidet war sie also auch. Irgendwie erinnerte ich mich an ihr Gesicht, aber ich konnte nicht genau sagen, woher. Klar, Haywood Grove war ein kleines Städtchen, da bin ich im Lauf der Jahre sicherlich jedem der fünfzehntausend Einwohner schon einmal über den Weg gelaufen.

„…eins hat mich aber schon heute Morgen stutzig gemacht“, endete Nick seinen Monolog und ich bekam es zum Glück mit.

Ich sah auf. „Was denn?“

„Zeig mal das Bild her.“ Er kam zu mir und riss mir das Blatt Papier aus der Hand. Dann deutete er auf den Bauch der Leiche. „Die Reifenspuren. Es ist ja offensichtlich, dass sie überfahren wurde, oder?“

Ich nickte nur. „Und?“

„Sieh dich doch hier mal um. Die Straße ist fast hundert Meter entfernt von hier. Die Bäume stehen hier dicht an dicht. Da müsste man schon Slalom fahren, um hier her zu gelangen. Und hätte das Auto dann noch eine Geschwindigkeit, um eine Frau zu Tode zu fahren?“

Ich grübelte. Verdammt, Nick hatte recht. Da stimmte doch irgendetwas nicht. „Vielleicht sollte die Leiche hier vergraben werden. Vielleicht war es ja auch ein Unfall?!“

„Glaubst du, ich habe den Mörder heute Morgen erwischt und er ist geflohen?“ Nick sah etwas verängstigt aus und blickte sich in alle Richtungen um.

„Nein, das macht keinen Sinn. Sie muss schon länger hier gelegen haben, mindestens die halbe Nacht…“ Ich hatte eine Theorie, war mir aber auch nicht ganz sicher darüber: „Vielleicht sollte sie ja so gefunden werden.“

Nicks Gesichtsausdruck verriet mir seinen Unglauben. „Hier? Barry, ich weiß nicht… wenn ich nicht hier entlanggelaufen wäre, hätte die in drei Wochen noch niemand gefunden.“

„Okay, aber Fakt ist: sie wurde gefunden.“

„Ja, Barry, weil ich Idiot hier durch den Wald gelaufen bin, um Fotos zu machen.“ Nick zerrte leicht an meiner Schulter, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. „Interpretierst du nicht etwas zu viel da rein? Die Story wird gut, auch so. Eine Leiche in Haywood Grove, Alter!“

Hatte Nick recht? Wollte ich gleich die ganze Palette aus Verschwörung, Katz-und-Maus-Spiel und Serienkiller hier unterbringen? Reichte das, was da heute Morgen gelegen hatte, nicht schon aus für eine riesige Schlagzeile in der Haywood Post?

Ich kam nicht dazu, zu antworten, denn wir hörten ein Auto auf der Straße langsamer werden. Es war sehr still im Wald, von daher hörten wir jedes Geräusch auch aus den hundert Metern Entfernung, die wir zur Straße hatten. Ich blickte hinüber und sah ein Polizeiauto am Straßenrand anhalten.

„Sollten wir nicht verschwinden?“, fragte ich Nick. „Holfield wird nicht erfreut sein, dich schon wieder hier zu sehen?“

Nick schüttelte nur den Kopf. „Es ist Travis“, stellte er fest. Und tatsächlich stieg Nicks großer Bruder aus dem Polizeiauto und stapfte durch das Meer der bunten Blätter zu uns hinüber. Er hielt sein Smartphone ans linke Ohr und sah zu Boden, während er sprach. Ich konnte nur einige Fetzen verstehen, weil das Rascheln der Blätter so laut war.

„…gut, alles klar… ja, ich weiß… nein, das ist erledigt, ich war gerade in der Ole North Bank, um… was denken Sie denn, wie die reagiert haben? Ja, alles klar, bis morgen.“

Er legte mit einem genervten Gesichtsausdruck auf. Ein großes Fragezeichen erschien in seinem Gesicht, als er Nick und mich am Fundort der Leiche stehen sah. „Was macht ihr denn hier?“

„Ich wollte Barry zeigen, wo ich sie heute morgen gefunden habe“, erklärte Nick ganz unverfänglich. „Und du?“

„Ich wollte mir auf dem Heimweg nur noch einmal den Ort hier ansehen. Soll ich dich nachher mitnehmen?“

„Nein, wir sind mit den Fahrrädern da“, gab Nick zurück und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem Baum, an dem wir unsere Räder abgestellt hatten.

Es wurde etwas stiller, während Travis in die Hocke ging und den Boden langsam absuchte. „Habt ihr schon etwas herausgefunden?“, fragte Nick.

„Polizeiarbeit, kleiner Bruder. Das darf ich dir nicht sagen.“

„Ach komm schon. Es sind doch nur Barry und ich.“

„Hey Nick, ich komme in Teufelsküche! Wenn Holfield mich hier mit euch sieht, ist schon die Hölle los!“

Nick setzte sich neben Travis in die Hocke und beobachtete, wie er mit den Fingern durch das Laub fuhr. „Wir wollen ja nicht viel wissen… aber das ist einfach unheimlich spannend.“

Travis seufzte. „Mein Gott, du kannst ja richtig nervig sein.“

„Du bist mit mir aufgewachsen, das solltest du kennen.“

„Das scheine ich verdrängt zu haben.“ Travis stand auf. „Also gut. Ihr werdet das eh morgen alles in der Zeitung lesen, von dem her… was ist schon dabei.“

Beim Wort Zeitung klingelten in meinem Kopf alle Alarmglocken. Verdammt, Travis hatte recht. Wenn ich wirklich einen guten Artikel in der Post veröffentlichen wollte, dann musste der morgen raus sein! Zum Glück musste ich heute Abend nicht im Kino arbeiten, sondern erst morgen. Das gab mir die Zeit, mich nachher noch an einen Artikel zu setzen. Ich linste auf die Uhr. Sechzehn Uhr dreiundvierzig zeigte sie aktuell an. Ich schreibe schnell, das ist nicht das Problem. Aber der Artikel brauchte Futter. Ich hoffte, etwas davon von Travis zu erhalten.

Da kam mir ein Gedanke. Ich zog schnell mein Smartphone aus der Hosentasche und tat so, als würde ich darauf herumtippen, stattdessen aktivierte ich die Sprachaufzeichnung und hoffte, dass man Travis‘ Worte gut genug verstehen würde, wenn das Smartphone wieder in meiner Hosentasche war. Vorsichtig steckte ich es zurück, dann begann Travis bereits zu erzählen.

„Um ehrlich zu sein: wir wissen, wer die Tote ist, wo sie wohnt und wo sie arbeitet. So weit sind wir schon mal. Aber Jungs, glaubt mir, ich darf euch nichts davon erzählen. Dafür ist mir mein Job zu wichtig.“

Das war nicht wirklich viel. Die Sprachaufnahme konnte ich nachher gleich löschen, wenn nicht noch mehr käme. Aber was hatte ich auch erwartet? Die Leiche war am Morgen gefunden worden, es war noch nicht einmal ein ganzer Tag seither vergangen. Da gab es doch bestimmt erst einmal Spuren zu sichern, die Leiche zu identifizieren, Angehörige zu informieren… Angehörige… bei dem Gedanken stockte ich kurz. Was hatte Travis vorhin am Telefon erwähnt? Ole North Bank… was, wenn die Frau dort gearbeitet hatte? Das könnte ein erstes Indiz sein, an das ich mich klammern konnte.

„Und weiter?“ Nick versuchte, noch etwas aus Travis herauszupressen, doch der gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass das alles war.

„Habt ihr nicht noch mehr herausgefunden?“, fragte ich.

Travis sah mich direkt an. „Ich wünschte, wir wären schon weiter. Aber Jungs, das ist unser erster Mordfall. Selbst Holfield mit seinen über dreißig Jahren bei der Polizei hatte noch keinen Mordfall. Wir müssen uns da auch erst einmal reinfinden.“

Das war für mich irgendwie das Stichwort, bei dem sich der Schalter in meinem Kopf umlegte. Die Polizei würde jedenfalls nicht schnell vorankommen. Es bestand also durchaus die Chance, dass Matt, Nick und ich alleine ermitteln konnten und so vielleicht zur Lösung des Falls beitragen konnten. Was so etwas wie das ultimative Real Life Erlebnis für uns als Fans von den Drei ??? oder Detective Conan war!

„Glaubst du, sie wurde wirklich überfahren?“ Nick ließ nicht locker.

Langsam schien Travis genervt zu sein. „Woher weißt du…ach, du hast sie ja gefunden. Das habe ich für einen Moment vergessen.“ Er machte eine kurze Pause und überlegte. „Okay, ihr zwei, aber das bleibt unter uns, hört ihr? Ich habe vor einigen Minuten einen Anruf von der Autopsie in Sainsville erhalten. Wie es aussieht, wurde sie zwar überfahren, jedoch führte das nicht zu ihrem Tod.“ Nick und ich schauten uns an. Treffer! Travis fuhr fort: „Die Jungs dort meinen, sie sei eindeutig stranguliert worden. Sie glauben sogar, dass die Male am Hals älter sind als die Reifenspuren auf ihrer Jacke.“

Puh, das war jetzt wirklich mal eine Erkenntnis. Eine Frage geklärt, fünfzehn neue Fragen dadurch kreiert. Krass! Das musste ich erst einmal sacken lassen und darüber nachdenken, was das nun für diesen Mordfall bedeutete. Ein Fakt war aber auf jeden Fall klar: wir hatten es also wirklich mit einem Mord zu tun. Das war kein Unfall mit Fahrerflucht oder ein dummer Zufall auf der nächtlichen Landstraße. Mord, eindeutig.

Nick wollte gerade ansetzen, Travis weiter zu löchern, doch Travis schnürte ihm sofort mit einer Handbewegung die Worte ab. „Keine weiteren Fragen, Nick. Ich habe euch eh schon zu viel gesagt. Hört zu, wenn Holfield davon mitbekommt…“ Er zog symbolisch einen Finger an seinem Hals entlang, um zu zeigen, dass sein Chef ihn einen Kopf kürzer machen würde.

„Ist schon gut, danke für all die Informationen“, sprach ich für uns beide. „Komm Nick, wir gehen.“

„Aber…“ Nick wollte protestieren, aber ich zog ihn an seiner Jacke hinter mir her, bis wir außer Hörweite von Travis waren. Dann ließ ich ihn los. „Was soll denn das?“, echauffierte er sich. „Ich hätte noch einiges mehr aus ihm herauskriegen können!“

„Verdammt, Nick, du bringst deinen Bruder wirklich in Teufelsküche! Sei froh über alles, was er uns verraten hat. Das ist mehr, als wir erwarten können.“

Nick brummelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Wir liefen weiter zu unseren Fahrrädern, schlossen sie auf und fuhren schweigend los.

„Okay, du hast recht“, platzte es irgendwann aus Nick heraus. „Vielleicht war ich etwas unbedacht.“

„Na also. Außerdem sollten wir uns Travis noch warmhalten, wie man so schön sagt. Wer weiß, ob wir ihn noch brauchen können.“

In Gedanken war ich schon bei meinem Artikel. Ich hoffte, mehr über die Tote auf der Webseite der Ole North Bank herausfinden zu können – das war zwar nur ein kleiner Strohhalm, aber immerhin etwas, an das ich mich klammern konnte. Irgendwie sollte ich aber auch aufpassen, dass ich Travis nicht in Schwierigkeiten brachte – wenn er wegen mir seinen Job verlieren würde, würde uns das allen nicht wirklich weiterhelfen. Ich mochte Nicks Bruder, das hätte er nicht verdient. Aber darüber würde ich mir dann beim Schreiben später den Kopf zerbrechen.

Der kühle Herbstwind wehte uns um die Ohren, während wir auf der Landstraße langsam näher an Haywood Grove heranfuhren. Die Sonne war beinahe untergegangen, leichter Nebel bildete sich am Straßenrand zwischen den Bäumen. Ich überlegte, wie es hier draußen im Wald sein musste, wenn es jetzt im Herbst Nacht war. Kein Ort, an dem ich in der Dunkelheit alleine spazieren gehen würde. Das brachte mich auf einen Gedanken. Ich hielt unvermindert an und Nick machte vor Schreck eine Vollbremsung, so dass er beinahe auf dem glitschigen Laub unter uns ausrutschte. Er schaffte es gerade noch, sein Hinterrad vor dem Ausbrechen zu bewahren.

„Alter, was ist los?“, brüllte er. „Das war verdammt knapp!“

„Sorry, Nick.“ Ich lief zu ihm. „Alles ok?“

„Ja, alles gut. Warum hast du angehalten?“

„Ich hatte eine Idee. Vielleicht ist es aber auch nur Quatsch.“ Ich sah mich hier um. Die Landstraße war verwaist. Jetzt im Herbst fuhren nur wenige zu so später Stunde in den Oakhill Forest. Am Wochenende an einem sonnigen Tag zum Wandern – ja. Aber heute war Donnerstag. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir gestern Mittwoch hatten.

Ich begann Nick meine Theorie genau so zu schildern, sah aber lange Zeit nur ein fragendes Gesicht vor mir.

„Worauf willst du raus?“

„Okay, Nick, pass auf: stell dir vor, es ist eine Stunde später. Oder von mir aus auch zwei oder drei. Dann ist es stockfinster. Nebel zieht auf. Kein Mensch ist hier, nur das Rascheln der Blätter unter deinen Füßen und du siehst rechts und links von dir die Bäume in die Höhe ragen. Klingt schon ein bisschen nach American Horror Story, oder?“

„Ja, defintiv nichts, auf was ich heute Abend Lust habe. Deshalb sollten wir jetzt weiterfahren, dass wir vor der Dunkelheit in Haywood Grove zurück sind.“

„Oh Mann, du verstehst nicht, Nick!“ Ich musste unvermittelt lachen. Nick grinste zwar, das Fragezeichen in seinem Gesicht wurde aber noch größer.

„Jetzt spuck‘s schon aus!“ Er boxte mich in die Seite.

„Also, meine Theorie ist folgende: Gestern hat es geregnet. Es war schon um halb sechs stockdunkel. Glaubst du, der Oakhill Forest ist dann ein guter Ort für eine Frau, um spazieren zu gehen? Wieso war sie hier? Mal angenommen, sie war irgendwo hier, als sie ermordet wurde. Warum? Was trieb sie hier raus?“

„Vielleicht hat der Mörder sie ja in der Stadt entführt und hier rausgeschleppt?“

„Ja, das ist eine Möglichkeit. Es könnte auch sein, dass sie irgendwo in der Stadt getötet wurde und dann einfach hier draußen abgelegt worden war. Alles richtig. Mal abgesehen davon, dass sie noch post mortem überfahren wurde.“

„Du sprichst schon wie ein richtiger Cop.“ Nick grinste. „Okay, alles nette Theorien. Aber ich sehe dir an, dass du daran nicht glaubst. Was brennt dir auf den Lippen.“

„Naja, ich habe das Gefühl, dass sie tatsächlich hier draußen ermordet wurde. Mich macht nur der Weg hier raus in stockfinsterer Nacht stutzig.“

„Vielleicht wurde sie ja gestern untertags getötet“, wand Nick ein.

„Was hat sie dann hier draußen gemacht?“

„Spazieren gegangen“, schlug er vor.

Ich schüttelte den Kopf. „Bei dem Wetter und mit diesen Schuhen? Unwahrscheinlich.“

„Okay, Meisterdetektiv. Was glaubst du dann?“

„Es ist nur eine Ahnung, aber… naja… ich glaube, dass sie ihren Mörder gekannt hat.“

*

Es war stockdunkel, als ich zuhause ankam. Nick, Matt und ich wohnten nicht weit auseinander. Uns trennten jeweils fünf Minuten Fußweg. Schon allein deshalb war es kein Wunder, dass wir schon als Kinder Freunde geworden waren.

Es war kurz nach achtzehn Uhr, als ich die Tür aufschloss. Meine Mutter wartete quasi schon im Flur auf mich. Typisch. „Wo warst du? Die Schule ist doch schon lange aus.“ Vorwurfsvoll stemmte sie die Hände in ihre Hüften.

„Ich war noch ein bisschen mit Nick im Wald, nichts Wildes.“ Ich warf meinen Rucksack in die Ecke und rannte an ihr vorbei.

„Hey Dad“, sagte ich nur, als ich in die Küche kam, schnappte mir ein Sandwich vom gedeckten Tisch und biss unverzüglich ein großes Stück davon ab.

„Willst du dich nicht zu uns setzen?“, fragte er.

„Keine Zeit, Paps. Ich muss noch dringend einen Artikel für die Post schreiben.“

„Du solltest es nicht übertreiben mit der Schülerzeitung, Barry.“ Mum setzte sich wieder zu Dad an den Tisch. „Die Schule geht vor, das weißt du.“

„Ja ja Mum, alles gut! Wo ist eigentlich Kelly?“

„Arbeiten. Lou hat vorhin angerufen“, erklärte mein Vater. Ich sah im Augenwinkel, wie Mutter die Augen verdrehte. Sie konnte Lou nicht leiden und mir ging es ebenso. Ihm gehörte das Diner im Süden der Stadt, in dem Kelly als Aushilfe arbeitete. Dass Kelly sich nebenbei etwas Geld verdiente, fanden meine Eltern ja grundsätzlich toll. Ich arbeitete ja auch ein paar Abende im Monat im Kino. Aber Lou war ein Ausbeuter und Leuteschinder vor dem Herrn. Kelly hatte regelmäßig schlechte Laune, wenn sie von ihrer Arbeit im Diner zurückkam – und das zurecht. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dort nicht mehr essen zu gehen, um Lou zu boykottieren. Ein alberner Gedanke irgendwie – er würde es ja nicht einmal merken. Aber das Diner war leider für die Jugend der Treffpunkt schlechthin.

„Dass sie auch immer gleich rennen muss, wenn er anruft“, merkte ich nur ironisch an.

„Du weißt ja, dass sie das Geld braucht.“ Mutter seufzte.

„Tja, was soll‘s. War schön mit euch, ich gehe noch eine Runde spazieren, um die Kreativität anzuregen“, beendete ich schnell das Gespräch und kramte meine Kopfhörer aus dem Rucksack.

„Wo willst du denn jetzt noch hin? Es ist schon dunkel!“ Mutter sah mich überrascht an, dabei war es ganz normal, dass ich abends noch eine Runde spazieren ging. Musik in die Ohren, Welt ausschalten und die Füße vertreten – nichts regte meine Kreativität besser an. Danach lief das Schreiben fast von selbst. Das wussten eigentlich meine Eltern mittlerweile auch.

„Ich bin in einer halben Stunde zurück“, gab ich an und verabschiedete mich mit einem Winken aus der Küche, noch ehe meine Mutter etwas erwidern konnte. Nicht falsch verstehen: ich liebe meine Familie über alles, aber manchmal brauche ich einfach diese Zeit für mich. Und das war jetzt so ein Moment. Zum Glück hatte Mum noch nichts von der Toten mitbekommen, sonst hätte sie mich jetzt nicht mehr aus dem Haus gelassen.

Bei dem Gedanken kam mir auch die Idee, dass der Mörder ja noch frei da draußen herumlief. Aber irgendwie war ich in dem Fall tougher, als ich von mir gedacht hätte. Oder dumm, naiv, nennt es, wie immer ihr es wollt. Für mich war der Mord zu weit entfernt – wer sollte mir etwas antun wollen?

Also steckte ich mir die Kopfhörer in die Ohren und suchte auf meinem Smartphone nach meiner liebsten Playlist. „Old but Gold“ hatte ich sie genannt. Ich drückte auf Zufallswiedergabe und die Gitarrenklänge von Every breathe you take von The Police füllten meine Ohren. Es hatte noch einmal ganz schön abgekühlt hier draußen, aber das war gerade richtig so. Die Kälte gab mir ein Gefühl von Freiheit und brachte Klarheit in meinen Kopf.

Meine typische Runde um die Häuser dauerte in der Regel nicht länger als eine halbe Stunde. So war es auch heute. Als ich wieder zuhause ankam, ging ich schnurstracks nach oben in mein Zimmer und schmiss mein MacBook an.

Mein Zimmer war eigentlich nicht groß. Ein Bett unter der Dachschräge, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank, ein Bücherregal und ein Fenster – so in etwa sah es darin aus. Aber mir reichte das. Es war gemütlich und ich hatte alles, was ich brauchte. An den Wänden hingen Poster von All Time Low, Linkin Park und Imagine Dragons, die meine zweite musikalische Leidenschaft abbildeten. Und versucht ihr mal, noch Poster von Roxette, Van Halen oder Foreigner zu ergattern.

Mein Smartphone synchronisierte automatisch mit dem MacBook, so dass ich die Sprachaufnahme von vorhin direkt vorliegen hatte. An die wollte ich mich aber erst nachher machen. Travis hatte zwar ein paar nützliche Informationen gehabt, jedoch war das jetzt nichts gewesen, was ich mir in der Zeit nicht auch im Kopf hatte merken können.

Stattdessen öffnete ich den Internetbrowser und ging auf die Webseite der Ole North Bank. Ich brauchte eine Weile, um die Filiale in Haywood Grove zu finden, die relativ versteckt auf der völlig überladenen Seite war. Aber ich fand mein Ziel. Tatsächlich hatte die Bank eine Liste sämtlicher Ansprechpartner mit Kundenkontakt aufgeführt – und das mit Foto. Mein Puls ging unvermittelt schneller, als die Hoffnung steig, die Leiche vielleicht dadurch identifizieren zu können.

In der Filiale in Haywood Grove arbeiteten wohl nur sechs Menschen im direkten Kundenkontakt. Bei Nummer vier in der Auflistung blieb ich unvermittelt stehen. Es war eine Frau mittleren Alters mit schwarzen Haaren, einem recht markanten, aber freundlichen Gesicht – mit etwas viel Schminke – und schicker Kleidung. Ich bat Nick per WhatsApp, mir das Foto der Leiche zukommen zu lassen. Wenige Sekunden später vibrierte es neben mir und ich verglich die beiden Fotos.

Bingo.

Ronda Watkins. Das war ihr Name. Ich hatte die Frau maximal unbewusst gesehen, wusste mich nicht an irgendein Zusammentreffen zu erinnern. Aber das machte ja nichts. Wenn ich richtig lag, war das ihr Name. Aufgeregt schickte ich meine Erkenntnis samt Beweisfoto von der Webseite der Bank an Nick und Matt.

Das ist sie! Nicks Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ich wusste doch, dass sie mir bekannt vorkam. Barry, 100%! Du verdammtes Genie.

Ich musste grinsen. Ein großer Schritt war getan. Mir war schon bewusst, dass ich mich darauf nicht todsicher verlassen konnte – vielleicht war es ja nur die Zwillingsschwester der Bankangestellten oder so. Aber wie wahrscheinlich war das?

Von der Euphorie gepackt, machte ich mich an die Recherche über Ronda Watkins. Ich tippte ihren Namen bei Google ein, drückte auf Enter und einige Millisekunden später erschienen die Suchergebnisse.

Einige Bilder wurden angezeigt, darunter die normalen Suchergebnisse. Wikipedia spuckte den Artikel über eine Sportlerin aus, die sich aber anders schrieb. Darunter kamen ein paar Facebook-Profile, Instagram-Accounts, LinkedIn, Twitter, das komplette Potpourri an Social Media Accounts. Schon war ich auf Seite zwei der Google-Suche angekommen, von der Matt immer sagte: „Da könntest du eine Leiche verstecken und niemand würde sie finden.“ Etwas makaber in diesem Zusammenhang, aber er hatte recht, denn statt weiter zu klicken, entschloss ich mich, die Suche etwas zu verfeinern.

Ich ergänzte also Ronda Watkins‘ Namen um den Zusatz „Haywood Grove“ und drückte erneut Enter. Und siehe da: ich wurde fündig! Eine Pressemeldung der Ole North Bank mit der Überschrift „Ole North Bank würdigt langjährige Mitarbeiter für ihren Einsatz“ inklusive eines Bildes, das Ronda Watkins mit einem Blumenstrauß in einem schmucken Kostüm neben einigen Männern und Frauen in Business-Outfits zeigte. Sie war es, unverkennbar. Sie sah glücklich aus. Ich blickte auf das Datum. Drei Jahre war der Artikel ungefähr alt. Ich öffnete ihn in einem neuen Tab, beschloss aber, ihn mir später anzusehen, da ich nicht davon ausging, darin einige tiefergehende Informationen vorzufinden.

Viel interessanter war für mich das Suchergebnis darunter: Ronda Watkins‘ Facebook-Profil. Ich klickte auf den Link und das Profilbild zeigte mir sofort, dass ich richtig lag. Ronda Watkins lächelte mich neben einem Mann, der ungefähr ihr Alter hatte, an - vermutlich ihr Ehemann.

„Na dann wollen wir mal“, motivierte ich mich und hoffte darauf, dass ihre Privatsphäre-Einstellungen nicht allzu restriktiv waren.

Ich hatte Glück.

Ronda Watkins hatte sich scheinbar wenig darum gekümmert, was mit ihren Daten im Internet passierte. Ich sah beinahe alles, was sie in ihrem Profil hinterlegt hatte. Und das gab mir ein ziemlich gutes Bild über diesen Menschen.

Ich scrollte erst ein bisschen durch ihr Profil. Der neueste Beitrag war etwa ein halbes Jahr alt und zeigte sie und ihren Mann beim Essen in einem Restaurant. Davor häuften sich die Beiträge in keinem bestimmten Rhythmus, aber ich schätzte, dass sie im Schnitt etwa zwei bis drei Mal im Monat ihre Freunde über Facebook informierte. Fotos von Wanderungen in der Umgebung, Ausflüge nach Seattle, Urlaubsbilder aus Hawaii und Costa Rica. Wie so oft zeigten die sozialen Medien nur die Spitze des Eisbergs namens Leben – sie sah glücklich aus und man konnte sofort neidisch werden.

Aber ich wusste es besser. Denn sie war tot, verdammt! Zu früh aus dem Leben geschieden, weil jemand anderes das entschieden hatte. Es war so grausam und zum ersten Mal fühlte ich so etwas wie Trauer und Mitleid, wenn ich an das Schicksal dieser Frau dachte, die mich gerade von einem Foto vor dem Macchu Picchu anlächelte.

Ich klickte auf „Info“, um mehr über Ronda Watkins zu erfahren. Sie arbeitete als Kundenberaterin bei der Ole North Bank in Haywood Grove, was ich ja bereits in Teilen wusste. Zuvor hatte sie bei einer Firma in Seattle gearbeitet, wo sie auch an der University of Washington studiert hatte. Der Beziehungsstatus stand auf „verheiratet“, jedoch war niemand verlinkt. Das würde ich aber schon noch herausfinden, keine Sorge.

Sie hatte zweihundertachtundsiebzig Freunde, die ich mir nun in Ruhe hätte durchschauen können, jedoch beschloss ich, das auf später zu verschieben – wenn ich wusste, wonach ich zu suchen hatte. Wenn meine Theorie sich bewahrheiten sollte, war die Wahrscheinlichkeit ja nicht gering, dass sich der Mörder in dieser Auflistung befinden könnte.

Darunter zeigte es mir die verschiedenen Seiten an, die sie abonniert hatte. Restaurants in Haywood Grove und der Umgebung, einige Sportclubs, darunter die Seattle Seahawks und die Haywood Greywolves. American Football schien ihr also zu gefallen – das brachte mir zwar nichts für meine Ermittlungen, half mir aber, ein klareres Bild von diesem Menschen zu gewinnen. Musikalisch war sie definitiv im Country-Bereich angesiedelt: Blake Shelton, Carrie Underwood, Miranda Lambert. Sie schien viel zu lesen, verfolgte über Facebook Neuigkeiten von Thriller-Autoren wie Dan Brown, Tess Gerritsen oder Don Winslow.

Und wisst ihr was: sie war mir verdammt sympathisch.

In dem Moment wusste ich, dass ich alles daransetzen wollte, ihren Mörder zu finden. Sollten Holfield und Travis nicht weiterkommen – Matt, Nick und ich wären zur Stelle. Das versprach ich mir in diesem Moment, denn diese Frau hatte es nicht verdient, so zu sterben.

Ich schwenkte im Kopf direkt weiter. Ein dickes, fettes Fragezeichen stand vor meiner Stirn. Wieso? Wieso hatte sie sterben müssen? Was hatte dieses perfekte Leben zwischen ihrer Arbeit in der Bank, Wochenendfreizeit und Country-Musik so aus dem Ruder gebracht, dass wir jetzt an diesem verdammten Punkt waren, wo wir uns Gedanken machen mussten, wie es soweit kommen konnte?

Ich atmete tief durch. Ich musste mich zusammenreisen und vernünftig bleiben. Es half nichts, wenn ich mich jetzt da rein steigerte. Also machte ich zunächst einige Screenshots von Ronda Watkins‘ Facebook-Seite. Nur zur Sicherheit, falls die Seite in den nächsten Tagen vom Netz genommen würde. Dann konzentrierte ich mich noch ein paar Minuten auf die Google-Suche, die mir aber keine weiteren nennenswerten Informationen gab. In weiteren sozialen Netzwerken schien sie nicht aktiv gewesen zu sein. Einige Einträge, die aber schon fast zehn Jahre alt waren, deuteten auf einen ehrenamtlichen Job in einem Riverdance-Club in Sainsville hin, aber mehr war das dann auch nicht.

Also beschloss ich, die zweite Aufgabe anzugehen, die ich mir für heute Abend vorgenommen hatte: einen Artikel für die Haywood Post zu schreiben. Niemand zwang mich dazu, aber ich wollte diesen unbedingt noch heute Abend fertig schreiben. Wenn ich es rechtzeitig schaffte, könnte die Druckerei eine Sonderausgabe für morgen rausbringen. Ich sah auf die Uhr. Vor zweiundzwanzig Uhr sollte der Artikel in der Regel bei denen sein, damit alles klappte. Ich hatte also noch fast zwei Stunden. Das sollte kein Problem sein.

Ich öffnete ein leeres Dokument und begann direkt mit der Überschrift, die ich mir schon vorhin im Oakhill Forest in Gedanken zurechtgelegt hatte: Die Tote von Haywood Grove.

Die Toten von Haywood Grove

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