Читать книгу Die Toten von Haywood Grove - Dominic Spinner - Страница 9
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Tag eins seit dem Leichenfund war vorüber. Ein neuer Morgen brach an und ich wusste instinktiv, dass ab heute in Haywood Grove die Uhren anders ticken würden. Denn an den meisten Frühstückstischen, zwischen Kaffeetassen, Orangensaftgläsern und zu füllenden Brotboxen für die Schule, würde der Haywood Daily liegen. Und egal, was er titeln würde, auf Seite eins würde es um Ronda Watkins gehen.
Jeder wusste Bescheid. Punkt.
Bevor ich runter ans Frühstück ging, checkte ich an meinem Smartphone schnell die Internetseite des Daily. „Leichenfund im Oakhill Forest“, titelten sie. Ich überflog schnell den Artikel, fand aber außer dem üblichen Bla Bla nichts weiter vor. Aus ermittlungstaktischen Gründen könne man keine weiteren Informationen geben, die Bürger werden gebeten, die Augen offen zu halten, die Polizei arbeitet auf Hochtouren. Mein Gott, wenn so jeder Bericht über einen Mord aussah, dann las jemand in New York oder Los Angeles das jeden verdammten Tag.
Erfreulicher war immerhin, dass ich die Auftragsbestätigung der Druckerei, die die Haywood Post druckte, in meinen Mails hatte. Die Sonderausgabe würde also heute morgen, sobald ich in der Schule war, vor dem Zimmer der Schülerzeitung bereit liegen und gleichzeitig an Carters Book Store und andere Läden in der Stadt geliefert werden. Ich merkte, dass ich bei dem Gedanken tatsächlich etwas nervös wurde. So eine krasse Information hatte die Post bestimmt noch nie veröffentlicht.
Ich traf mich auf dem Weg in die Schule mit Matt und Nick. Die beiden warteten schon vor Matts Haus. Ich war noch bestimmt zehn Meter entfernt, als Nick mir schon zurief: „Matt weiß schon alles, wir können uns also ganz auf seine News von gestern Abend konzentrieren.“
„Hey Nick, ich habe euch nichts zu erzählen“, konterte Matt und boxte ihn leicht gegen den Oberarm.
„Okay Matt, ich glaube dir vieles“, sagte ich, „aber das ist eine glatte Lüge. Raus mit der Sprache, wie war’s mit Summer?“
Die beiden schlossen sich mir direkt an und wir liefen die Straße entlang. Fünf Minuten waren es zu Fuß von Matt bis zur Haywood High, da lohnte es sich nicht einmal, das Fahrrad aufzuschließen. Ich sah im Augenwinkel, wie Matt lächelte. „Okay, es war toll.“
„Glaub ja nicht, du kommst damit davon. Ich will alles wissen. Habt ihr euch geküsst?“ Nick feuerte seine Fragen wie ein Maschinengewehr ab und ich kam Matt zur Hilfe, indem ich das ganze Gespräch etwas beruhigte.
„Lass ihn doch mal erzählen. Was habt ihr eigentlich gemacht?“
„Wir haben uns auf einen Kaffee getroffen und sind später noch ins Kino gegangen. Klassiker.“
„Alter, hättet ihr euch dann nicht einen Tag aussuchen können, an dem ich arbeite?“, fragte ich empört.
„Das hättest du wohl gern. Nein, nein, wir haben lieber unsere Ruhe.“
„Und was kam am Ende dabei raus?“ Nick ließ nicht locker. „Händchen halten? Ein Kuss? Noch mehr?“
„Du spinnst doch, Nick.“ Matt musste lachen. „Im Ernst, Summer ist wirklich toll. Wir haben uns lange unterhalten und ich glaube, da könnte echt etwas draus werden.“ Er schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen neben uns her und sah auf den Boden. „Und vielleicht haben wir im Kino noch ein bisschen Händchen gehalten.“
Nick ballte die Faust, als würde er jubeln. „Ja Mann, das ist doch mal ein Anfang.“
„Freut mich für dich, bleib dran“, ermunterte ich Matt.
„So Freunde, und jetzt zu euch. Ich will nachher nicht der einzige mit einer Freundin sein. Barry, was läuft jetzt mit Dakota?“
Okay, an dieser Stelle muss ich mal kurz einhaken. Denn das ist jetzt etwas erklärungsbedürftig. Und ja, ich gebe es zu: Dakota war mein Schwarm. Sie war ein Jahr jünger als wir und demnach auch eine Klasse unter uns auf der Haywood High. Ich schätze mal, dass wir uns normalerweise gar nicht kennen würden, weil ich mich a) nicht getraut hätte, sie anzusprechen und b) das ganze einfach saumäßig kompliziert gewesen wäre. Aber hey, das Schicksal wollte es so, dass Dakota vor einem Jahr ebenfalls angefangen hatte, neben der Schule zu arbeiten. Und zwar im Red Oak Cinema, wo ich auch arbeitete. Ich hatte vom ersten Moment an, als ich sie gesehen hatte, gefühlt, dass da mehr war. Aber Matts Frage kam nicht von ungefähr, denn auf mehr als ein paar Flirts bei der Arbeit war es noch nicht hinausgelaufen. Ich traute mich einfach nicht und auch wenn wir uns super verstanden, hatte ich irgendwie Angst vor einer Zurückweisung. So, das sollte als kurze Erklärung dienen. Fortsetzung folgt.
„Naja, es läuft… ganz gut…“, stotterte ich, etwas überrascht über den schnellen Perspektivenwechsel.
„Also ist nichts passiert.“ Nick schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Könntest du sie nicht einfach mal auf ein Date einladen, ist das denn so schwer?“
„Muss ich mir das jetzt echt aus seinem Mund anhören?“, fragte ich an Matt gewandt.
„Schätze schon. Das ist übrigens der Typ, der seit dem Maskenball letztes Jahr an Halloween hinter der ‚Weißen Lady‘ her trauert.“ Matt malte mit seinen Fingern Anführungszeichen in die Luft. Wir beide grinsten uns an.
„Wir haben uns geküsst!“ Nick blieb stehen und deutete mit dem Zeigefinger auf uns beide. „Und das ist mehr, als ihr geschafft habt!“
„Ja, das ist richtig. Aber du weißt weder ihren Namen, noch, wie sie unter der Maske aussieht und hast das in fast einem ganzen Jahr nicht geschafft, zu ändern.“
„Ich bin noch auf Recherche“, gab er kleinlaut zurück.
„Na dann.“ Matt und ich gingen weiter.
Nick rannte uns hinterher. „Außerdem werde ich sie bestimmt auf der Halloween Party in acht Tagen wiedersehen. Ich bin mir ganz sicher.“
„Du meinst das vollkommen ernst, oder?“, fragte ich.
Er nickte.
„Nick, hast du vielleicht schon einmal daran gedacht, dass sie sich dir bestimmt schon gezeigt hätte, wenn sie das gewollt hätte?“ Ich versuchte, ihn langsam auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen, aber ich wusste aus Erfahrung, dass es verlorene Liebesmühe war.
„Unsere Zeit wird kommen, da bin ich mir sicher. Ich werde auf sie warten.“
Matt prustete los. „Deine Geduld hätte ich gerne. Der Kuss muss ganz schön gut gewesen sein, wenn du so lange warten willst.“
Die beiden warfen sich noch ein paar Sprüche über Küsse, Händchen halten und verpasste Chancen an den Kopf, dann hatten wir auch schon das Schulgebäude erreicht. Auf der Treppe wartete Brianna auf uns und kam mit hochrotem Kopf und einer offensichtlich miesen Laune auf uns zu gestapft.
„Ist das dein scheiß Ernst?!“, geiferte sie und schlug mir eine Zeitung gegen die Brust. Adrenalin schoss in meinen Körper und ich versuchte erst einmal, mich mit beiden Händen vor ihrem Angriff zu schützen. Matt und Nick standen mit offenen Mündern daneben, scheinbar unfähig, mir zur Hilfe zu eilen. Irgendwo in meinem Hinterkopf vermerkte ich den Gedanken, mich später bei den beiden zu bedanken.
„Hey, was ist denn los?“, brüllte ich.
Ich wusste nicht, was mich mehr überraschte: dass Brianna scheinbar nur auf uns gewartet hatte, dass sie tatsächlich schon ein Exemplar der Haywood Post in den Händen hielt oder allgemein die Tatsache, dass sie mir in den zehn Sekunden mehr Aufmerksamkeit zuteil werden lies, als in den ganzen Schuljahren davor zusammen.
„Dir ist auch gar nichts heilig, oder?“ Brianna war vollkommen außer sich. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
Ich spürte die Blicke der anderen Schüler im Rücken, die nun ebenfalls zur Schule kamen. Mir war die Situation definitiv unangenehm und ich wusste immer noch nicht, was denn los war.
„Brianna, stop!“, schrie ich. Sie hielt tatsächlich inne, sah mich aber aus funkelnden Augen an wie ein angeknockter Boxer, der zum Schlag ausholen wollte. „Was – ist – los?!“
Sie hielt mir die Haywood Post vor die Augen und ich sah meinen Artikel über Ronda Watkins. „Das ist los!“ Dann schlug sie mir die Zeitung ein zweites Mal gegen die Brust.
„Hey, Brianna, lass gut sein.“ Nun mischte sich tatsächlich Matt ein und versuchte, die tobende Blondine am Arm zu greifen, doch sie wand sich heraus. „Fass mich nicht an“, zischte sie in seine Richtung.
Unser großes Glück war, dass Cheyenne soeben die Treppe heraufkam. Sie beschleunigte ihren Schritt, als sie Brianna erblickte. „Was ist hier los?“, fragte sie, mehr an uns gewandt als an ihre beste Freundin.
„Wenn wir das wüssten“, gab ich trocken zurück.
Cheyenne zog Brianna von uns fort und nahm sie in ihre Arme. „Komm, lass uns reingehen. Dann erzählst du mir, was hier vorgefallen ist, ok?“
Völlig entgeistert blickten wir den beiden Mädchen hinterher. Ich sah Brianna nicken und hörte sogar ein Schluchzen, scheinbar musste sie zu heulen angefangen haben. Auf dem Weg durch die Tür hinein in die Schule warf Cheyenne uns noch einen bösen Blick zu und wir verstanden die Welt nicht mehr.
Die Haywood Post lag zerknickt und zerfleddert auf dem Boden. Ich hob sie auf. Nick riss sie mir sofort aus der Hand. „Die Tote von Haywood Grove“, las er laut vor. „Hast du das gestern noch geschrieben?“
Ich nickte.
„Krass Mann, das wird die Runde machen. Der Artikel in der Daily war ja völlig lahm.“ Er überflog die Zeilen, während Matt ihm über die Schulter blickte. „Die wird sich mega verkaufen, das kannst du mir glauben! Ich bin nur gespannt, was Holfield dazu sagt, wenn er das liest.“
„Ach, der ist mir egal. Es steht ja nichts drin, was nicht öffentlich zugänglich wäre.“
„Aber was hat Brianna damit zu tun?“, fragte Matt. „Könnt ihr euch erklären, was sie so aufgebracht hat?“
„Nein, keine Ahnung.“
Ich hatte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass dieser Freitagmorgen so desaströs beginnen würde. Ziemlich perplex von Briannas Auftritt war ich geistig nicht wirklich anwesend im Unterricht. Ich war zuvor noch ins Zimmer der Schülerzeitung gegangen, wo ein Stapel der neuesten Ausgaben der Post vor der Tür auf mich gewartet hatte. Scheinbar musste Brianna die Zeitung dort hergehabt haben.
Immerhin – die ignorierte nicht nur mich, sondern auch Matt und Nick den gesamten Schultag über, als wären wir Luft. Das war für uns ja nichts Ungewöhnliches, denn wir gehörten sicherlich nicht zu der High Class unserer Schulklasse, mit der sich Brianna für gewöhnlich umgab. Dennoch spürte ich den ganzen Tag, dass irgendetwas in der Luft lag und die Atmosphäre schien wie vergiftet zu sein.
Das änderte sich auch nicht, als ich in der großen Pause auf Mr Layton im Zimmer der Schülerzeitung traf, der dort mit einem Bein auf einem Schreibtisch saß, während das andere lose in der Luft baumelte. Er war unser Lehrer für Englisch und Literatur und hatte den Vorsitz für die Schülerzeitung. Mit seinen achtunddreißig Jahren gehörte er noch zu den jüngeren Lehrern unserer Schule. Für mich war er zu einer Art Mentor geworden. Er ließ mir viel Freiraum, was die Schülerzeitung anging, und unterstützte mich und die anderen dennoch so gut es ging.
Nur war es nun genau dieser Freiraum, den er wohl an diesem Morgen bereute.
Er strich sich über seine kurzen Haare und hob sofort ein Exemplar der Post an, so als hätte er diese dramatische Geste vorher geübt. Er hielt sie mir hin und ich schloss die Tür hinter mir. „Was hast du dir dabei gedacht, Barry?“, fragte er vorwurfsvoll.
„Was meinen Sie, Mr Layton?“ Ich wusste in diesem Moment wirklich nicht, was das Problem war.
Er seufzte. „Barry, die Post ist eine Schülerzeitung. Solche Themen gehören nicht hier rein.“
„Sie sagen doch immer, dass wir einen journalistischen Anspruch haben.“ Mein Herz pochte ziemlich schnell. Irgendwie wollte ich es nicht wahrhaben, dass ich jetzt bereits den zweiten Anschiss wegen dieses Artikels kassieren würde.
„Und das meine ich auch so. Aber du kannst nicht einfach einen polizeirelevanten Artikel veröffentlichen, ohne das mit mir abzusprechen. Du hast den Namen der Toten erwähnt und ihre Hintergrundgeschichte veröffentlicht!“
„… und bin damit der Daily meterweit voraus“, versuchte ich die Situation in ein positives Licht zu rücken.
Wieder seufzte Layton. „Hör zu Barry, aus journalistischer Sicht ist dein Beitrag klasse. Top recherchiert, gut geschrieben, ein toller Aufmacher. Aber es geht hier nun mal um einen Mordfall. Was, wenn dein Artikel dafür sorgt, dass die Ermittlungen der Polizei behindert werden? Der Mörder könnte vorgewarnt sein – es liegt ja nahe, dass alles, was du herausgefunden hast, sicherlich auch die Polizei weiß. Und was noch viel wichtiger ist als die Ermittlungen der Polizei… verdammt, dein Name steht da drüber! Was, wenn der Mörder dich nun ins Visier nimmt, weil er sich durch deinen Artikel in Gefahr sieht?“
Okay, darüber hatte ich mir wirklich noch keine Gedanken gemacht. Wo er recht hatte, hatte er recht. Aber hey, das ist das Berufsrisiko eines Journalisten, oder nicht? Und vielleicht trug ich ja mit diesem Bericht zur Lösung des Falls bei? Ich entschied mich für die diplomatische Lösung und warf Layton das Häppchen hin, das ihn hoffentlich beruhigen würde.
„Tut mir leid, Mr Layton, aber ich war gestern so fokussiert auf dieses Thema und diesen Bericht, dass ich die Gefahr darin nicht ganz eingeschätzt habe.“ Ich hätte Politiker werden sollen.
„Die nächsten Berichte kriege ich alle zu sehen, haben wir uns verstanden?“ Sein Ton war zwar noch hart, sein Blick hatte aber schon wieder weiche Züge angenommen. „Und versprich mir, dass du dich aus diesem Fall raushältst?“
„Ich schicke Ihnen die Beiträge dann ab jetzt per Mail zu, verstanden.“ Ich ging bewusst nicht auf seine zweite Frage ein. Glücklicherweise wechselte er von selbst das Thema.
„Dennoch muss ich neidlos anerkennen, dass die Haywood Post ein Kassenschlager an diesem Tag ist.“
Und das war tatsächlich so: die Haywood Post verkaufte sich so gut wie noch nie. Zwar berichtete der Daily auch darüber, aber wir hatten mehr Fakten und Infos zusammengetragen. Sogar Carters Book Store bestellte untertags noch einmal 100 Exemplare nach, wie ich später erfuhr. Layton stimmte das aber nur halbwegs gnädig. Er ermahnte mich noch einmal eindringlich. Statt mich wie üblich beim Verkauf und der Logistik der Zeitungen zu unterstützen, heilt Layton sich an diesem Tag fern von allem, was mit der Schülerzeitung zu tun hatte.
Die Schule an diesem Freitag kostete mich die Zeit, die ich eigentlich nicht hatte. Denn natürlich wollte ich weiter ermitteln, das hatte ich mir geschworen und davon würde mich auch Mr Layton nicht abbringen. Noch dazu, weil ich nicht erwartete, dass die Polizei in nächster Zeit zu einem Ergebnis kommen würde. Als ich aber am späten Nachmittag nach Hause kam, erfuhr ich, dass die Polizei tatsächlich bereits einen Verdächtigen verhaftet hatte. Ich war überrascht über die Geschwindigkeit der Ermittlungen, denn mir kam der Fall komplexer vor und ich hatte insbesondere Holfield so etwas nicht zugetraut.
Nick hatte mir die Info per WhatsApp geschickt, denn Travis war recht früh zuhause gewesen, um seine Familie zu unterrichten, dass sie wohl einen Ermittlungserfolg hatten. Matt, Nick und ich verabredeten uns also zu einem Treffen in Lous Diner, denn die beiden liebten die Milkshakes dort. Auch wenn ich Lou nicht unterstützen wollte, war mir der Fall nun wichtiger als meine Prinzipien, also stimmte ich ein.
Ich versprach meiner Mutter noch, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause zu sein. Was ich übrigens ohnehin musste, denn ich hatte heute Abend noch Schicht im Kino. Meine Mum machte sich Sorgen, wie so viele Menschen in diesen Tagen in Haywood Grove, dass der Mörder ein zweites Mal zuschlagen könnte. Und solange nicht geklärt war, was das Motiv für diesen Mord war, konnte jeder das nächste Opfer sein. Denn was durch meine Recherchen definitiv herausgekommen war, war die Tatsache, dass man sich bei Ronda Watkins schwer vorstellen konnte, dass sie ausgemachte Feinde gehabt haben könnte, die ihr nach dem Leben getrachtet hätten.
Matt und Nick waren schon im Lous und schlürften aus ihren Milkshakes. Ich bestellte mir eine heiße Schokolade an der Theke und setzte mich dann zu den zweien in die Sitznische. Es war nicht sonderlich viel los im Diner, was für diese Uhrzeit an einem Freitag ungewöhnlich war. Waren das schon die Auswirkungen des Mordes?
Aktuelle Charthits trällerten aus den Musikboxen und übertönten das leise Gemurmel der Gäste. Ich verzichtete auf eine Begrüßung meiner beiden besten Freunde, sondern fiel direkt mit der Tür ins Haus. „Also, was gibt es Neues?“ Ich sah Nick voller Spannung an. Der genoss mal wieder den Moment, im Mittelpunkt zu stehen.
„Können wir vorher noch eins klarstellen?“, fragte Matt und drehte sich zu Nick. „Kein Drama mehr, wenn du Infos von der Polizei hast, ok? Es wird nicht das letzte Mal sein, dass du etwas bei Travis aufschnappst und ich kann das nicht mehr ertragen.“
Nick grinste und stimmte zu. Matt atmete übertrieben laut aus, um seine Erleichterung zur Schau zu stellen. Wir lachten alle, dann begann Nick zu erzählen.
„Also, sie haben tatsächlich jemanden gefasst. Scheinbar ging heute alles ganz schnell, als sie das Ergebnis der Spurensicherung erhalten haben. Die Fingerabdrücke waren eindeutig und wiesen auf einen stadtbekannten Kleinkriminellen hin. Da Ronda bei der Bank arbeitete und sowohl Schlüssel als auch Geldbeutel fehlten, zählten Holfield und Travis eins und eins zusammen.“
„Klingt tatsächlich schlüssig“, meinte ich.
„Etwas zu einfach, wenn ihr mich fragt.“ Matt fuhr sich durch seinen leichten Bart am Kinn.
„Das ist auch meine Meinung“, fuhr Nick fort. „Aber Holfield ist sich ziemlich sicher, den Fall bereits geklärt zu haben. Er hat wohl sogar schon ein Interview mit der Daily gegeben, um sich ja ins Rampenlicht zu stellen.“
„Wie heißt der Verdächtige?“
„Deshawn Jones, vielleicht habt ihr den Namen schon gehört. Laut Travis verdient er sich sein tägliches Brot mit Taschendiebstahl und kleinen Betrügereien. Der Polizei ist er bekannt, bislang konnten sie ihm aber wenig nachweisen. Klingt wie der ideale Verdächtige.“
„Okay, nochmal zum Mitschreiben. Deshawn Jones soll also Ronda Watkins im Wald stranguliert haben, um an ihre Schlüssel für die Bank zu kommen. Er wartet eine Weile, bis Gras über die Sache wächst und will dann dort einbrechen. Geht das überhaupt so einfach? Die Alarmanlage ist doch sicherlich mit einem Code geschützt.“
„Vielleicht hat sie ihm den Code ja genannt?“, wandte Matt ein.
„Nummer eins, was ich nicht glaube.“ Ich trank einen Schluck meiner heißen Schokolade. „Nummer zwei“, ich hob zwei Finger hoch, „Warum sollte Jones dann noch über die Leiche fahren, um Spuren zu hinterlassen. Und Nummer drei: wieso hat er die Leiche dann nicht verschwinden lassen? Vergraben, in den See werfen, was weiß ich? Das ergibt doch alles keinen Sinn.“
„Drei zu null für dich, Barry.“ Nick grinste. „Travis ist sich auch noch nicht sicher, Holfield hingegen schon. Die Öffentlichkeit wird froh sein, dass jemand hinter Gittern sitzt und alle wieder ihrem Alltag nachgehen können. Friede, Freude, Eierkuchen – was danach passiert, ist irrelevant.“
„Nur mal angenommen: was ist, wenn Jones wirklich noch über die Leiche gefahren ist, um die Polizei in die Irre zu führen?“ Matt sponn Holfields Theorie weiter.
„…und dann hinterlässt er seine Fingerabdrücke an der Leiche, obwohl er genau weiß, dass er bei der Polizei registriert ist? So schlau und so dumm kann doch niemand gleichzeitig sein.“
„Vielleicht wurde er erwischt und musste schnell fliehen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Erinner‘ dich dran, dass Nick die Leiche an die Polizei gemeldet hat. Niemand vorher.“
Matt seufzte. „Also irgendwas ist faul an der Sache.“
„Hundert Prozent!“ Nick grübelte. „Wir müssen mit Travis reden. Vielleicht haben die ja noch Informationen, die wir nicht haben.“
Wir sprachen noch eine Weile über den Fall und rätselten über Briannas Reaktion von heute morgen. Aber keiner von uns konnte sich einen Reim darauf machen, warum sie wegen des Artikels so ausgetickt war. Ich erzählte den beiden noch von meinem Gespräch mit Mr Layton. Beide fanden, dass er eigentlich ganz gut reagiert hatte. Letztendlich war das kein richtiger Anschiss gewesen, eher etwas, was er eben machen musste. Ich glaubte sogar, dass er insgeheim auf meiner Seite stand, weil sich der Reporter in mir durchgesetzt hatte.
Als es langsam dämmerte, machten wir uns auf den Heimweg. Wir alle hatten die klare Ansage unserer Eltern bekommen, vor der Dunkelheit zuhause zu sein. Und auch wenn jetzt jemand gefasst worden war – was sicherlich unsere Eltern beruhigen würde – so war es für mich weiterhin unklar, wer der wirkliche Mörder war.
Wir machten einen kleinen Umweg und liefen an der Police Station vorbei. Nick meinte, das wäre ungefähr Travis‘ Uhrzeit, um Feierabend zu machen. Und so war es auch. Er kam gerade aus dem Gebäude raus, als wir noch etwa zweihundert Meter entfernt waren. Wir liefen schneller, um ihn noch zu erwischen. Als wir die Hälfte des Weges hinter uns hatten, rief Nick laut seinen Namen.
Travis blieb stehen und wartete auf uns. „Was macht ihr denn hier? Mit dir“, er zeigte auf mich, „habe ich eh noch ein Hühnchen zu rupfen.“
„Hat er gestanden?“ Nick platzte wie immer ohne große Vorreden ins Gespräch.
„Wer?“
„Deshawn Jones. Du hast doch vorhin zuhause angerufen.“
„Okay, zuallererst: das ist nichts, was ich morgen in irgendeiner Schülerzeitung lesen will, hört ihr?“ Das ging ganz klar an mich. Ich hatte verstanden, hätte das aber wahrscheinlich sowieso nicht abgedruckt, weil ich an Jones‘ Schuld zweifelte. „Und nein, er hat nicht gestanden. Schweigt vor sich hin. Aber wir haben die Schlüssel bei ihm gefunden. Er muss es also gewesen sein.“
„Seid ihr euch da so sicher?“ Meine Frage war vielleicht etwas vorschnell, aber sie hatte ihren gewünschten Effekt. Travis wurde redseliger.
„Jones ist ein bekannter Kleinkrimineller. Dass er irgendwann austicken würde, war doch nur eine Frage der Zeit. Wir haben seine Fingerabdrücke, die Schlüssel des Opfers bei ihm gefunden und er hat zur Tatzeit kein Alibi. Was wollt ihr mehr?“
„…, dass ihr logisch denkt“, murmelte ich provokant. Travis verstand es zum Glück nicht. Etwas lauter sagte ich dann: „Ich will nur, dass ihr das gründlich untersucht, Travis. Du kennst das doch aus den Krimis: der leichte Weg ist oftmals der falsche. Und die einfache Lösung ist selten das Ende des Films.“
„Genau, Barry. Das sind Krimis. Nicht das echte Leben. Denn das haben wir hier. Sei froh, dass wir so schnell gearbeitet haben. Die Nächte in Haywood Grove sind nun wieder sicher.“
Ich sah im Augenwinkel, wie Matt mit den Augen rollte. Es war, als würde Travis seinen Chef Chester Holfield Satz für Satz zitieren. Er wollte das wohl einfach glauben. Aber für die Tatsache, dass er gerade mutmaßlich einen Fall gelöst hatte, war er zu schlecht gelaunt. Ich glaubte zu dem Zeitpunkt nicht nur an die Unschuld Jones‘, ich glaubte auch, dass Travis insgeheim ebenfalls nicht überzeugt war, dass Jones der Mörder war.
Travis wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber wieder um. „Eins noch, Barry. Ich will morgen wirklich nichts in der Post lesen, hast du verstanden? Holfield war nicht gerade glücklich heute morgen. Ich konnte mich gerade so rauswinden, ohne suspendiert zu werden! Wie habt ihr verdammt nochmal herausgefunden, wer die Tote ist?!“
Wir schwiegen alle, was Travis nur noch wütender machte. Mit einem genervten „Argh“ drehte er sich um.
Nick packte ihn an der Schulter. „Hey, warte doch mal. Wieso schiebt Holfield dir das in die Schuhe?“
Travis rollte mit den Augen. „Weil mein kleiner Bruder vielleicht diese Leiche im Wald gefunden hat? So dumm ist nicht mal Holfield, als dass er hier nicht eins und eins zusammenzählen könnte.“
„Keine Sorge, Travis“, schritt ich beschwichtigend ein. „Diese Finger werden sich zurückhalten“ Und das meinte ich auch so. Ich wollte Travis wirklich nicht in Schwierigkeiten bringen. Was aber nicht hieß, dass damit unsere Ermittlungen beendet wären.
Travis verabschiedete sich. Wir drei blieben zurück und sahen uns an.
„Denkt ihr auch, was ich denke?“, fragte Matt grinsend in die Runde.
„Was meinst du?“, fragte Nick.
Ich nickte stattdessen. „Ich weiß, was er meint. Wir sind hier noch lange nicht fertig.“