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d)Die Chancen des Neuanfangs

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Der Zustand der Machtlosigkeit barg für die künftige politische Führung der Bundesrepublik aber auch Vorteile, die erst im Rückblick richtig deutlich wurden. So war die Frage der Kriegsschuld diesmal unstrittig. Das NS-Regime hatte 1939 einen Eroberungskrieg in Europa begonnen und 1941 zum Weltkrieg ausgeweitet, der sich durch nichts rechtfertigen ließ. Im Unterschied zu 1918 erlaubten die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation sowie Hitlers wahnwitzige Weigerung aufzugeben keinen Zweifel am Ausmaß und an der Unausweichlichkeit der Niederlage. Anders als nach dem Waffenstillstand 1918 konnte im Mai 1945 niemand behaupten, die deutsche Armee sei im Felde unbesiegt geblieben und nur einem angeblichen Verrat durch die Heimatfront zum Opfer gefallen. Es gab keine Vorwürfe gegen irgendwelche „Novemberverbrecher“ und keine zweite Dolchstoßlegende. Das Problem einer Neuauflage der „Schmach von Versailles“ stellte sich nicht, weil aufgrund der Uneinigkeit der Sieger und wegen des Kalten Kriegs überhaupt kein Frieden ausgehandelt wurde.

Langfristig noch wichtiger war die Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen, die nach Kriegsende immer deutlicher zutage trat. Die organisierte Ausrottung des größten Teils der europäischen Juden, die systematische Vernichtungspolitik gegen Polen, Russen, Zigeuner, Homosexuelle und andere als rassisch minderwertig Erachtete war derart ungeheuerlich, dass eine unverhüllt positive Bezugnahme auf das „Dritte Reich“ in der deutschen Öffentlichkeit fortan unmöglich war. Zwar mochte das hinter verschlossenen Türen, in Privatgesprächen noch längere Zeit hindurch anders sein (siehe Kap. IV.2.c)). Dennoch konnte es kein deutscher Politiker, der ernst genommen werden wollte, nach 1945 wagen, Hitler und den Nationalsozialismus gegen die bestehende Ordnung auszuspielen, wie das mit Kaiser Wilhelm II. und der Hohenzollernmonarchie in der Weimarer Republik möglich gewesen war. Hinzu kam, dass nach dem Zweiten Weltkrieg anders als nach 1918 die Siegermächte die Aburteilung der Protagonisten des untergegangenen Regimes übernahmen.Weder in den Hauptkriegsverbrecherprozessen in Nürnberg noch in den insgesamt 5035 anderen Prozessen, die bis 1949 unter alliierter Regie stattfanden, spielten Deutsche als Ankläger oder Richter eine herausgehobene Rolle. Auf diese Weise blieb es dem westdeutschen politischen Establishment der Nachkriegszeit erspart, sich gegen Vorwürfe des „Vaterlandsverrats“ zu Wehr setzen zu müssen, wie sie gegen die Protagonisten der Weimarer Republik erhoben worden waren.

Ein weiterer Vorteil der Besatzungsherrschaft bestand darin, dass die schlimmen Jahre des Hungers, der Zerstörung, der rationierten Lebensmittel und Hamsterfahrten zwischen 1945 und 1948 nicht mit der neuen westdeutschen Regierung, sondern mit den Siegermächten assoziiert wurden. Die Alliierten trafen die meisten der harten, häufig unpopulären Entscheidungen, die für den wirtschaftlichen Neuanfang notwendig waren. Die Währungsreform fand auf ihre Initiative und unter ihrer Kontrolle statt ebenso wie im März 1948 die Gründung der „Bank deutscher Länder“, die 1957 in „Bundesbank“ umbenannt wurde. Ein zonenübergreifendes, westdeutsches Parlament existierte bis zum Sommer 1949 nicht. Am nächsten kam der Idee einer repräsentativen Volksvertretung noch der Wirtschaftsrat der Bi-, später der Trizone, der seit Juni 1947 in Frankfurt tagte und dessen Mitglieder von den Landesparlamenten gewählt wurden. Auch wenn die Tätigkeit des Wirtschaftsrats in der Praxis bald von den deutschen Parteien bestimmt wurde, sollte er doch nach dem Willen der Besatzungsmächte bewusst ein unpolitisches, lediglich mit Verwaltungsaufgaben betrautes Gremium sein. So kam es, dass die Westdeutschen die heftigsten Geburtswehen der wirtschaftlichen Erholung hinter sich hatten, als der erste Bundestag zusammentrat. Die Weimarer Parlamente und Regierungen hingegen hatten selbst mit schwierigen Problemen wie der Demobilmachung, einer galoppierenden Inflation sowie allgegenwärtigen Kohle- und Lebensmittelengpässen kämpfen müssen, was die Legitimation der jungen Republik von Anfang an schwer beeinträchtigt hatte.

Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes aus dem lernen konnten, was sie rückblickend als die Fehler Weimars erachteten. Den meisten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates, deren Durchschnittsalter 56 Jahre betrug, war das Scheitern der ersten deutschen Republik aus persönlichem Erleben bekannt. Viele führten den Untergang v. a. auf das Versagen der Verfassung zurück, die es zu verbessern galt, wollte man eine Wiederholung der deutschen Katastrophe verhindern. Ob eine optimierte Verfassung tatsächlich den Mangel an überzeugten Demokraten hätte wettmachen können, an dem Deutschland in der Zwischenkriegszeit litt, erscheint fraglich. Entscheidend ist aber, dass man die Entstehung des Grundgesetzes ohne den Hintergrund der „Lehren von Weimar“ nicht verstehen kann.

Die wichtigste dieser Lehren lautete, dass sich die Demokratie rechtzeitig vor ihren Feinden schützen müsse. Sie müsse „den Mut zur Intoleranz denen gegenüber haben, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen“, wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid (1896–1970), der spätere Vorsitzende des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, am Beginn der Verfassungsberatungen erklärte. Schmid drückte aus, was die meisten dachten. Über den Grundsatz der „streitbaren“ oder „wehrhaften“ Demokratie, der das Grundgesetz von der Weimarer Verfassung unterschied, herrschte weitgehend Einvernehmen. Konkret bedeutete dies dreierlei: Erstens durften die klassischen Grundrechte auch von einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages in ihrem Wesensgehalt nicht verändert werden. Sie wurden dem Grundgesetz vorangestellt und hatten den Status unmittelbar geltenden Rechts – anders als in Weimar, wo sie als bloße „Programmsätze“ vom Reichstag prinzipiell verändert werden konnten. Zweitens sah das Grundgesetz die Möglichkeit vor, politische Parteien zu verbieten, wenn diese nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgingen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden (Art. 21 II). Drittens wurden die Grundsätze wie Demokratie, Gewaltenteilung, Föderalismus, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit für unabänderlich erklärt (Art. 79 III).

Stichwort

Föderalismus

Auch im Hinblick auf die ausgeprägt föderalistische Struktur unterschied sich die Bonner von der Weimarer Republik. Es war nicht ohne Bedeutung, dass die Bildung der Länder durch die Siegermächte der Gründung der Bundesrepublik zeitlich vorausgegangen war. Im Parlamentarischen Rat herrschte Konsens über die – ohnehin von den Alliierten nachdrücklich verlangte – Errichtung eines Bundesstaates. Nicht nur der Zentralstaat, sondern auch die Gliedstaaten sollten legislative, exekutive und judikative Kompetenzen und Institutionen besitzen; Art. 30 des Grundgesetzes bestimmte sogar, dass die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben den Ländern obliegen, soweit keine anderen Regelungen getroffen würden.

Umstritten war im Parlamentarischen Rat die Frage, in welcher Form die Bundesländer an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken sollten. Schließlich setzte sich die von Sozialdemokraten und der CSU befürwortete „Bundesratslösung“ durch. Diese sah eine aus Vertretern der Landesregierungen gebildete Länderkammer vor, während die CDU eine „Senatslösung“ mit einer nach dem Vorbild des US-Senats gewählten Zweiten Kammer favorisiert hatte. Die Sozialdemokraten erhofften sich von dieser Regelung v.a. eine relative Stärkung der Zentralgewalt, weil der Bundesrat über weniger verfassungsmäßige Befugnisse verfügen würde als der amerikanische Senat. Die CSU versprach sich von der Bundesratslösung einen stärkeren Einfluss der Länder auf die Bundespolitik. Der bundesdeutsche Föderalismus profitierte von dem Umstand, dass nach der Auflösung Preußens durch die Alliierten 1947 das Verhältnis der verschiedenen Regionen zueinander ausgeglichener und spannunsgfreier war als im Reich, wo mehr als 60% der Bevölkerung in Preußen gelebt hatten. Zudem erwiesen sich die ‚künstlich‘ neugebildeten Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz als stabil und dauerhaft. Nur einmal wurde von der im Grundgesetz eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, per Volksabstimmung die Ländergrenzen zu verändern. Das war im Dezember 1951, als die Südwestdeutschen dafür votierten, die Länder Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden zum neuen Bundesland Baden-Württemberg zusammenzufassen.

Eine weitere Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik bestand in dem Verzicht auf die plebiszitären Elemente der Weimarer Reichsverfassung. Man fürchtete, dass Volksbegehren und Volksentscheid zu einer Wiederholung jener politischen Radikalisierung führen könnten, an der Weimar zugrunde gegangen war. Das Grundgesetz sah sie lediglich im Falle einer Neugliederung von Bundesländern vor.

Ähnliche Überlegungen lagen der Veränderung der Befugnisse des Staatsoberhauptes zugrunde, die das Grundgesetz vornahm. Zwar wurde das Amt nicht völlig abgeschafft, wie die Sozialdemokraten zeitweise gefordert hatten. Der Bundespräsident büßte aber im Vergleich zum Reichspräsidenten Rechte und Befugnisse ein. Er wurde weitgehend auf Repräsentationsaufgaben beschränkt, war nicht mehr der direkt vom Volk gewählte „Ersatzkaiser“, der in Krisensituationen mit Hilfe von Notverordnungen am Parlament vorbei regieren konnte. Das Staatsoberhaupt erhielt in der Bundesrepublik nur wenige, eingeschränkte und zeitlich befristete Funktionen für Krisenfälle. Es wurde nicht mehr direkt vom Volk gewählt, sondern von der Bundesversammlung (bestehend aus den Abgeordneten des Bundestages und einer gleichen Anzahl von den Länderparlamenten bestimmter Personen). Es verlor überdies den Einfluss auf die Regierungsbildung und die Berufung des Kanzlers, die der Reichspräsident besessen hatte. Damit knüpfte das Grundgesetz bewusst nicht an den Weimarer Dualismus in der Staatsführung an, der auf einer sorgfältig austarierten Balance zwischen Parlament und Präsident beruht und im Notverordnungsparagraphen gleichsam eine „Reserveverfassung“ (Hagen Schulze) vorgesehen hatte.

Im gleichen Maße wie der Parlamentarische Rat das Amt des Präsidenten schwächte, stärkte er dasjenige des Kanzlers. Dieser erhielt das Recht zur Ernennung und Entlassung der Minister. Er bestimmt die „Richtlinien der Politik“ (Art. 65), legt den Zuschnitt der Ministerien fest und hat bei Unstimmigkeiten zwischen den Ressorts die ausschlaggebende Stimme. Anders als der Reichsist der Bundeskanzler vom Präsidenten weitgehend unabhängig, und auch gegenüber dem Parlament befindet er sich in einer günstigeren Position. Der Bundestag wählt ihn zu Beginn jeder vierjährigen Sitzungsperiode auf Vorschlag des Bundespräsidenten, und kann ihn nur dann stürzen, wenn er zugleich einen Nachfolger bestimmt. Die Einrichtung dieses konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 68) soll instabile, kurzlebige Regierungen, wie sie in Weimar üblich waren, verhindern und die Parteien zu Kooperation und Kompromissbereitschaft zwingen.

Hatten in Weimar viele im Reichspräsidenten den „Hüter der Verfassung“ (Carl Schmitt) gesehen, so kam diese Aufgabe in der Bundesrepublik dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu, dessen Mitglieder von Bundesrat und Bundestag bestimmt wurden. Anders als der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik, der v. a. für Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern sowie zwischen einzelnen Ländern zuständig gewesen war, sollte das Verfassungsgericht das Grundgesetz verbindlich auslegen und alle von der Legislative verabschiedeten Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin prüfen. Die Einrichtung einer gerichtlichen Kontrollinstanz über der Politik wurzelt in der Tradition deutscher Rechtsstaatlichkeit. Sie steht aber quer zu dem Grundgedanken einer demokratischen Verfassungsordnung und den Prinzipien souveräner Parlamentsherrschaft, wie sie etwa im britischen Vorbild der Westminsterdemokratie verwirklicht sind.

Am 8. Mai 1949, auf den Tag genau vier Jahre nach der deutschen Kapitulation, nahm der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit großer Mehrheit an. Nur die beiden Delegierten des Zentrums, zwei Abgeordnete der Deutschen Partei, die beiden Kommunisten sowie sechs von acht CSU-Vertretern stimmten dagegen. Den Bayern und der DP ging der Föderalismus nicht weit genug, die Vertreter des katholischen Zentrums waren mit der Regelung des Elternrechts unzufrieden, während die KPD das Unterfangen insgesamt ablehnte. Vier Tage später genehmigten die drei Militärgouverneure das Grundgesetz. Am 18., 20. und 21. Mai billigten es die Landtage von zehn Bundesländern. Lediglich der bayrische Landtag stimmte mit 101 zu 63 dagegen, votierte aber auf Antrag der Landesregierung gleichzeitig dafür, das Grundgesetz für Bayern als rechtsverbindlich anzuerkennen, wenn zwei Drittel der übrigen Länder es annähmen. Am 23. Mai konnte das Grundgesetz in der ersten Nummer des Bundesgesetzblatts veröffentlicht werden. Damit waren die Grundkoordinaten des politischen Systems in Westdeutschland festgelegt.

Auch in der Frage, wo die Bundesregierung ihren Sitz nehmen würde, zeichnete sich eine Vorentscheidung ab. Man hatte keineswegs von Anfang an geplant, Bonn zum Regierungssitz zu machen. Die Stadt war v. a. deshalb als Versammlungsort des Parlamentarischen Rats gewählt worden, weil sie zur britischen Zone gehörte und andere Interzonenkonferenzen zuvor in der amerikanischen bzw. französischen Zone stattgefunden hatten. Hinzu kam, dass Bonn recht bequem mit der Eisenbahn zu erreichen und im Krieg relativ unzerstört geblieben war. Noch im Herbst 1948 jedoch erschien Frankfurt – traditionsreiche Krönungsstadt der deutschen Kaiser, im 19. Jahrhundert Sitz des Deutschen Bundestags und 1848/49 Tagungsort der ersten deutschen Nationalversammlung – als erster Anwärter für den Regierungssitz, nicht zuletzt weil viele Sozialdemokraten die Stadt bevorzugten. Andere SPD-Politiker fürchteten aber, gerade Frankfurts Prestige würde einen späteren Umzug nach Berlin erschweren, sobald die Vereinigung mit der sowjetischen Besatzungszone erreicht war. Die CSU sprach sich ebenfalls gegen die Mainmetropole aus, denn sie fürchtete, eine große Stadt als Sitz der Regierung könne den Föderalismus schwächen. Andere Politiker blickten skeptisch auf die starke Präsenz der USA in Frankfurt, wo die amerikanische Miliäradministration ihren Sitz hatte.

Eine ausschlaggebende Rolle spielte der Präsident des Parlamentarischen Rates, der CDU-Politiker Adenauer. Er hatte sich nicht von Beginn an für Bonn stark gemacht, sondern zunächst ebenfalls Frankfurt favorisiert. Selbst den Parlamentarischen Rat hätte er anfangs lieber in der französischen Zone tagen sehen – etwa in Koblenz oder in Bad Ems. Erst im Verlauf der Grundgesetzberatungen im Herbst 1948 erkannte er, welche Chancen sich für Bonn boten und wie angenehm es für ihn persönlich sein würde, den Regierungssitz in bequemer Nähe zu seinem Haus in Rhöndorf zu wissen. Auch politisch gesehen schien die bürgerlich-katholisch geprägte Universtätsstadt Bonn für die Christdemokraten attraktiver zu sein als die Industriestadt am Main mit ihrer starken Sozialdemokratie. Adenauer setzte sich an die Spitze der Bonn-Lobby, warb geschickt und letztlich erfolgreich für einen Regierungssitz am Rhein. Am 10. Mai 1949 sprach sich der Parlamentarische Rat mit knapper Mehrheit für Bonn aus. Am 1. November bestätigte der neugewählte Bundestag die Entscheidung.

Die Ära Adenauer

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