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Anstieg

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Irgendwie hatte der Mann es geschafft, dass ihr Glas stets mehr als halbvoll war. Der Überblick, wie viel sie getrunken hatte, war ihr dabei völlig entglitten. Beschwipst kletterte Greta auf ihr Rad und trat in die Pedale. Die körperliche Anstrengung kollidierte sofort mit den alkoholgeschwängerten Körperzellen und führte zu einem Gefühl bleierner Müdigkeit, das sich mit einer Weigerung paarte, genau dieses Gefühl zu akzeptieren.

Also trat sie kräftig los und Nachtluft und Fahrtwind sorgten dafür, dass ihre Zellen sich umstellten und freudig die Energie verbrauchten, die sie mit dem Weißwein getankt hatte.

Der Typ gefiel ihr. Sie wusste nur nicht, ob sie ihn überführen wollte, oder lieber benutzen.

Seine Aussagen waren durchgängig zwielichtig: Nur per Anhalter mitgefahren, liegengeblieben draußen vor der Stadt, erinnert sich an das Auto, nicht an den Fahrer. Er hatte es glaubwürdig erzählt ohne Zweifel, aber ob es auch glaubwürdig war, daran hatte sie schon Zweifel. Zu den angeätzten Bremsschläuchen hatte sie geschwiegen.

Er kannte Anton Vogel, das war schon einmal was, und dass der mit Sprit panschte und schwarz reparierte, war immerhin eine Aussage. Wenn auch nicht spektakulär und schon gar nicht ein wirklicher Grund für einen Mord. Da war mehr dahinter. Mächtige Gedanken wuchteten sich durch ihr Gehirn, als sie leichtfüßig die sommerlichen Straßen entlangflog. Das zutiefst organische des Verbrechens und der Jagd danach drang durch alle Poren und dünstete mit dem Wein aus. Als sie zur Steigung kam, wurde sie langsam nüchtern. In schweren Tritten zog sie zügig den Hügel hoch und die Gedanken kanalisierten sich, bis sie ganz verschwanden.

Körperlich erhitzt, aber ernüchtert schloss sie die Türe auf. Es war still. Sie ging durch die dunklen Räume, Leere drückte sich ihr entgegen, doch da war ein Luftzug. Linda war nicht da, ein gutes Zeichen, fand Greta, die sich Sorgen machte, dass ihr Kind zu wenige Freunde hatte. Auf der Terrasse saß Thomas in der Hollywoodschaukel, eine halbleere Flasche Wein neben sich, und schaute auf den Fluss weit unten im Tal. Sie setzte sich daneben, kuschelte sich an ihn, er nahm sie in den Arm. Hier oben war ihr Nest, wie sie es nannten. Ihr Rückzugsort, in dem sie für sich waren und von dem aus sie heruntersahen auf die Welt. Im Besonderen auf Fall an der Donau, die sich am Fuße des Bayerischen Waldes entlangwand, den sie selbst lieber Böhmerwald nannten. Der frühere Name klang weltoffener und sie beide waren zwar schon lange da, aber nicht hier geboren, wohl aber Linda, ihre Tochter.

Thomas fühlte sich gut an, roch nach Wein, sie bestimmt auch. Die Sterne funkelten, der Mond schien dazu, Grillen zirpten und sie spürte ihren Mann. Vertraute Bewegungen, vertraute Haut, vertrautes Brummen aus den Tiefen des Körpers. Er stockte kurz mit der Hand an ihrem Rücken, als er bemerkte, dass dort ein Kleidungsstück fehlte. Sie drückte sich an ihn und freute sich.

Sie schwiegen mehr, als sie sprachen und bald zerrten sie an der vorhandenen Kleidung und liebten sie sich auf der Hollywoodschaukel. Es war ruhig und vertraut und bei allem Schaukeln ein Beweis ihrer Fähigkeit, einander zu stützen. Sie fand es wunderschön.

Schließlich froren sie doch und verzogen sich ins Bett unter ein Laken. Unter der Decke strahlte sein Körper wieder Wärme aus und sie kugelte sich vor ihm ein und bald dämmerte sie selig davon.

Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, als sie aufwachte und aufs Klo musste. Sie suchte ihr Nachthemd und tapste durch die mondbeschienene Dunkelheit in Richtung Toilette. Lindas Türe war angelehnt. Vorsichtig sah sie auf dem Rückweg hinein. Die leisen Atemzüge eines jungen Mädchens füllten den Raum - ihre Tochter lag friedlich schlafend im Bett.

Erleichtert fiel Greta wieder auf ihre Matratze und schlief wie ein Stein bis zum Morgen.

Beim Frühstück erzählte sie Thomas ihren neuen Fall.

„Mit modernen Autos geht so etwas gar nicht mehr“, meinte der trocken, während er seinen Kaffee schlürfte. „Das Auto hätte lange vor der Kurve gemerkt, dass der Bremsdruck zurückgeht und hätte blockiert. Außerdem kannst du anhand der Fahrtaufzeichnungen genau nachvollziehen, wer wann wo gefahren ist.“

„Dazu musst du aber wissen, wer überhaupt in Frage kommt, oder?“, sie sah ihn durch den Dampf ihres Tees an.

„Nicht unbedingt, wir können inzwischen auch nach Fahrprofilen suchen. Du musst einen Fahrer nur einmal gespeichert haben, egal mit welchem Fahrzeug, das ist wie ein Fingerabdruck.“

„Das ist ja gruselig.“ Greta schüttelte sich.

„Ja, aber es erleichtert Deinen Job ungemein“, stellte Thomas gefühllos fest.

Greta schwieg in sich hinein. Sie war anderer Ansicht. Aufklärung mit technischen Mitteln war nichts anderes als ein Wettrüsten. Das Verbrechen verlagert sich und sucht immer neue Möglichkeiten. Die eigentliche Kunst war immer noch, sich in Verbrecher hinein zu versetzen und sie auf diese Weise zu verstehen. Angesichts immer umfassender Technik waren die Verbrecher mit die letzten Kreativen, wie sie fand. Doch diese Diskussion führte sie mit Thomas vergeblich, also hielt sie ihren Mund und beschmierte sich stattdessen noch einen Kanten Brot mit Marmelade.

Thomas küsste sie auf den Hals, räumte seinen Teil ab und verabschiedete sich, da kam Linda an den Tisch. Mit müdem Gesicht riss sie sich einen Joghurt auf, löffelte gierig und trank einen Tee hinterher. Sie war durchtrainiert und ihr junger Frauenkörper war nahezu perfekt, dennoch, fand Greta, sah sie angestrengt aus. Sie darauf anzusprechen nützte nichts, also beobachtete Greta sie nur. Linda war vollvernetzt. Sie trug nicht nur ein Fitnessarmband, sie trug ein zweites am Knöchel. Greta musterte ihre Tochter weiter. Die Ohrringe kannte sie nicht, ebenso den Ring und die Perle, die ihren BH in der Mitte zierte, er musste natürlich herausblitzen, passte auch nicht zu ihr.

„Wo kaufst Du eigentlich inzwischen Deine Sachen?“ fragte sie schließlich vorsichtig. „Wir waren schon ewig nicht mehr zusammen einkaufen.“ Trotz ihrer Neugierde sprach Greta nicht weiter, sie wusste, sie musste Geduld haben. Schließlich wurde sie mit einem betont uninteressierten „wieso?“ belohnt.

„Nun ja, ich wüsste gar nicht, wo man diese Sachen bekommt, die Du so trägst, den Schmuck, diese funktionellen Sachen wie den BH.“

Es war diese Eltern-Kind Spannung, die alles überlagerte und wie ein Fallbeil über ihnen hing, während sie wieder einmal damit rangen, die Grenze zwischen Mutter und Tochter neu auszuloten. Doch diesmal ging alles gut. Ein kleines stolzes Blitzen ging durch Lindas Augen und sie setzte sich in Pose. „Die sind auch ziemlich teuer“ rückte sie raus. „Aber ich bekomm sie billiger, auf den MessPartys. Ich bin ein Trendsetter, weißt Du?“

„MessPartys?“

„Die sind ziemlich lustig. Da vergleichen wir, was wir können. Du kannst alles messen inzwischen: Sport, Puls, Kreislauf, Ausdauer. Andere Leute vergleichen das online, aber auf den Partys ist es lustiger.“

„Warst Du gestern auf so einer Party?“

„Ist das jetzt die Polizistin oder die Mama, die fragt?“ zum ersten Mal grinste ihre Tochter.

„Die Mama.“ Greta stand auf und legte liebevoll ihren Arm um Linda. Die drückte sich kurz an ihre Mutter, stand dann aber selbst auf: „ich muss los.“

Tatsächlich, Linda musste sich beeilen zur Schule, rüber nach Deggendorf. Ganz glückliche Mutter verzichtete Greta großzügig auf die Ermahnung, ihr Frühstück abzuräumen und ließ sie ziehen. Dann räumte sie schnell alles weg und machte sich ebenfalls auf den Weg.

In der Wache saß Drang und starrte in ihren Computer. Sie erschrak, als Greta sie ansprach, doch dann lächelte sie ihre Chefin an, als hätte sie eben ein Ei gelegt: „Wissen Sie, dass wir das Streifenpaar in der Region sind, das am meisten Straftaten pro Kilometer aufdeckt? Wir schlagen sogar Passau, mehr gibt es nur in der Großstadt.“ Stolz wies sie auf eine Balkengrafik in der Storm und Drang als Minifiguren vom höchsten Balken ganz links winkten.

„Na gratuliere.“ Verwirrt musterte Greta das Diagramm und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. „Und woher wisst Ihr das?“ rutschte es ihr mehr aus Verlegenheit heraus.

Mit einen verächtlichem Blick auf Greta legte Drang los: „Das ist unsere Arbeitsgruppe Messen und Analysieren“, sprudelt es aus ihr heraus. „Wir haben unsere Protokolldaten mit den Sporttrackern hier verknüpft“, sie zog den Ärmel hoch und zeigte ihr ein Fitness Armband. „So können wir genau sehen, wann wir wo waren – und wenn wir die Daten verknüpfen, wissen wir wo wir Straftaten aufgeklärt haben und wo nicht.“ Sie wies stolz auf eine Karte auf dem Bildschirm. „Aus den Daten lernen wir über unseren Einsatz, was Sinn macht und wo wir ganz umsonst rumlaufen.“



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