Читать книгу Weltwissen der Siebenjährigen - Donata Elschenbroich - Страница 10
Kanon-Bildung
ОглавлениеMit der zweiten Liste, nach dreijähriger Recherche, sind wir mitten im Problem: Was wäre heute ein Kanon für Bildungserfahrungen in den frühen Jahren? Brauchen wir einen solchen Kanon?
Die erste Liste war eine Geste mit leichter Hand, unfertig, ein Anstoß. Exemplarisch, eine Skizze, sagten wir den Gesprächspartnern. Stehen wir mit der zweiten Liste nun mit einem Fuß auf dem Terrain empirischer Sozialforschung? Das Netz wurde weit ausgeworfen. Hier spricht nun nicht mehr eine kleine Gruppe von Eltern, ein kleine Gruppe von Erziehern auf einem Workshop. Jetzt ist die Zahl der Beteiligten angewachsen auf die Besetzung eines mittleren Vortragssaals. Hat die zweite, die erweiterte Liste deshalb mehr Gewicht für einen Kanon unverzichtbarer Bildungsgelegenheiten? Hätte sie es umso mehr, wenn immer weitere Gesprächspartner in die Recherche einbezogen würden? Gegen Ende unserer Recherche kam gelegentlich von unseren Gesprächspartnern der Vorschlag, die Liste ins Internet zu stellen. Noch weiter zu sammeln … weltweit…
Ich neige stattdessen dazu, die Frage immer wieder zurückzuholen, im Gespräch immer wieder neu anzusetzen, mit nur wenigen Beispielen für Weltwissen, und dann dem Lauf zu folgen, den die Gesprächspartner einschlagen. Das eigenaktive, das seine Erkenntnis selbst konstruierende Kind ist das neue Leitbild für Lernprozesse in frühen Jahren – aber Erwachsene sind darin nicht anders als Kinder: Wir wollen selbst denken, selbst die Leerstellen füllen, selbst den Kanon der frühen Bildungsjahre neu erfinden können. Lernen ist im weitesten Sinn ästhetisches Lernen – von Filmen erinnert man vor allem die Bilder, die man selbst gemacht hat. Interessant sind für uns vor allem die Gedanken und die Absichten, die wir selbst entwickeln.
Die zweite, die erweiterte Liste, ist in diesem Sinn nicht »vollständiger« als die erste, und eine durch Tausende von Internet-Rückmeldungen weiter verlängerte Zusammenstellung von Bildungsbeispielen wäre keine »zuverlässigere« Grundlage für einen Kanon.
Wie kann ein Kanon für die frühen Jahre aussehen?
Wir verlassen kurz die Bildungsdiskussion im Übergang zur Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Wir schauen uns einen klassischen Kanon an, entstanden im 17. Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg, ein bis weit ins folgende Jahrhundert, bis in die Goethezeit beliebtes Bilderbuch und Schulbuch für den systematischen Aufbau von Weltbildern und Lebenskenntnis in den Kindern der lesenden Stände: der Orbis Sensualium Pictus von Johann Amos Comenius.