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Weltwissen: Die Recherche

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Was sollte heute ein Kind in den ersten sieben Lebensjahren wissen, können, erfahren haben? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein?

Drei Jahre lang, zwischen 1996 und 1999, haben wir das Menschen allen Alters, aller Schichten und Bildungshintergründe gefragt. Eltern, Großeltern, Erzieher, Jugendliche. Hirnforscher, Entwicklungspsychologen, Medizinsoziologen und Grundschuldidaktiker. Den Direktor eines Altenheims, einen Erzbischof, Mütter in der Müttergenesungskur, arbeitslose Väter, Unternehmer, den General der Schweizer Armee, den Verkäufer im Bahnhofskiosk, die Verkäuferin im Media-Markt, eine türkische Analphabetin, die Studentin der Betriebswirtschaft – welche Wünsche haben sie, Fachleute aller Art, an das Weltwissen der heute Siebenjährigen?

(Warum Siebenjährige? Eine magische Zahl. Ein erster Lebensabschnitt in vielen Kulturen. In Deutschland markiert er eine Schwelle vom beiläufigen zum formalisierten Lernen; dieser Lebensabschnitt mündet ins erste Schuljahr.)

Eine solche Recherche muss vielstimmig sein. Alle hatten dazu etwas zu sagen, und alle waren sie Autorität. (Nur ein einziger Experte hat das Gespräch verweigert, ein Zukunftsforscher. Ob er als Vater von drei Kindern oder als Zukunftsforscher befragt werden sollte? Beides zugleich, wie vorgeschlagen, war für ihn undenkbar. Er blieb bei seiner Ablehnung.)

In über hundertfünfzig Gesprächen wurde der Horizont der Siebenjährigen umwandert. Gespräche über Weltwissen, das man den Nachkommen wünscht, sind, wie alle Erziehungsgespräche, immer auch Selbstgespräche. Die Frage war prismatisch, sie hat ein Spektrum von Lebenserfahrungen und Berufserfahrungen aufgebrochen.

In Kindern begegnen Erwachsene sich selbst. Sie interessieren sich für sie mit den Fragen, die ihnen ihr Erwachsenenleben gerade aufgibt. Schillers Thema (Über naive und sentimentalische Dichtung) ist die »Freiwilligkeit« von Existenz, und fasziniert sieht er sie verkörpert in Kindern. Dass wir Kindern, sagt er, ähnlich wie Mineralien, Tieren und Landschaften, »eine Art von Liebe und rührender Achtung« entgegenbringen, sei die glückliche Empfindung bei der Anschauung eines »freiwilligen Daseins«. Für Schiller sind die Kinder Boten einer Existenz nicht »von Gnaden«. Sie verheißen Existenz nach eigenen Gesetzen, »das Bestehen der Dinge durch sich selbst«: Einheit mit sich selbst, bürgerliche Selbstgewissheit, »Menschenwürde«. Er sagt auch: Es ist nicht die Kindheit, sondern »es ist die durch sie dargestellte Idee«, die wir lieben.4

Das Kind als Erlöser – das ist kein neues Motiv. Kindermund tut im Sprichwort Wahrheit kund, und dass Kinder dem Himmelreich nahe stehen, war ein Topos durch die Jahrhunderte. Aber Kindheit als Modell für die Emanzipation des Menschen, das war bei Schiller ein historisch neues Konzept, das das 20. Jahrhundert, als das »Jahrhundert des Kindes«, noch in vielen Variationen beschäftigen sollte. Vorläufig zum letzten Mal in den 70er Jahren, als eine neue Variante leidenschaftlicher Subjektivierung anstand, die Emanzipation aus beengenden Familienstrukturen. Nun nahm man Kinder wahr wie Liebhaber in der italienischen Oper, ihre leidenschaftliche Eifersucht, ihren Trennungsschmerz. Sexualität, Beziehungen, ambivalente Affekte – für die Dramatik der Beziehungen zwischen den Generationen ist der alltägliche Blick der Erwachsenen auf die Kinder seitdem sensibel geworden. Wie wird aus einem egozentrischen Triebbündel ein soziales Wesen?

Heute scheint Thema der Erwachsenen vor allem das unablässige Neuanfangen, Umlernen-müssen zu sein, ihre ständige kognitive Anspannung in einer innovationsbeschleunigten Umwelt, und so interessiert man sich neuerdings für Kinder vor allem als Erkenntniswesen, für ihre Lernstrategien, für ihre kognitiven Leistungen. Autodidakt sein, »Selbstbildungsprozesse in Gang setzen«, sein eigener Lehrer werden, »Problemlösen« – wie geht das, wie machen es uns die Anfänger auf dieser Welt vor?

Kinder zeigen uns die Dinge, als seien sie gerade erst entstanden und die Empfindungen frisch vom Erzeuger. In Japan, einer Gesellschaft, die die spontanen Lebensäußerungen der Erwachsenen in das Korsett einer rigiden sozialen Grammatik spannt, genießt man die Kinder im vorschulischen Alter ganz besonders. Man ist nicht nur entzückt von ihrer Anmut, man verehrt nachgerade die elementaren Wutausbrüche von Kindern: Taifune, Erdbeben… toben so nicht manchmal die Götter?

Die Natur belohnt uns für die Mühen des Kinderaufziehens. Noch einmal dürfen wir es mit den Neuankömmlingen erleben: Herzklopfen angesichts ihrer ersten durch Zeichen vermittelten Botschaft. Die Beklommenheit beim Anblick des zitternden Spinnenbeins, der erhabenen Bewegungen des Tiefseefisches, der rätselhaften Kräfte eines Magnetfelds…

Wie geheimnislos ist uns erwachsenen Altlesern das Lesenkönnen geworden, manchmal zu einem geradezu lästigen Reflex. Dagegen der Triumph des ersten Lesens: aus Zeichen, zu einem Text zusammengesetzt, steigt die Welt auf! Nicht nur wir zeigen. Auch die Kinder zeigen uns die Dinge frisch. Die Dinge und unseren menschlichen Blick auf Dinge und Phänomene. »Wenn ich ans Erfinden gehe, bin ich wieder ein Kind«, soll der Erfinder Otto Wankel gesagt haben.

Unsere Gesprächspartner sind gern auf die einfache Frage nach dem »Weltwissen« angesprungen. Auch ihnen hat das Umwandern der elementaren Bildungserlebnisse wieder eine Welt eröffnet. Die Überlegungen zum wissenswerten Weltwissen sind raumbildend und raumerweiternd zugleich. Die Komplexität der auf das Kind andrängenden Reize und Informationen zu vereinfachen, probehalber, das ist immer zugleich auch Selbstfürsorge, Selbstvergewisserung. Ein Projekt »in bester Absicht« verband die Gesprächspartner. Vortasten in eine gute Zukunft als stillschweigendes Versprechen: Das Allerbeste wollen wir euch ins Gepäck stecken!

Die Gespräche wurden meist in Gang gesetzt mit einem ersten Blick in ein Panorama des Weltwissens von Siebenjährigen. Ich hatte versuchshalber einige Beispiele für »Weltwissen« – lebenspraktisches, soziales, motorisches, kognitives, ästhetisches – zusammengestellt, meine eigene erste Wunschliste.

Weltwissen: eine erste Liste (1996)

… Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt ausführen können (etwa: Treppe kehren, Bett beziehen, Wäsche aufhängen, Handtuch bügeln). Es sollte ein Geschenk verpacken können. Zwei Kochrezepte umsetzen können, für sich und für einen Freund, für sich selbst und für drei Freunde. Es sollte einmal ein Baby gewickelt oder dabei geholfen haben. Es sollte gefragt haben können, wie Leben entsteht. Es sollte eine Vorstellung davon haben, was bei einer Erkältung in seinem Körper vorgeht, und eine Wunde versorgen können. Das Kind sollte wissen, wie man drei verschiedene Tiere füttert, und Blumen gießen können. Ein siebenjähriges Kind sollte schon einmal auf einem Friedhof gewesen sein. Es sollte wissen, was Blindenschrift ist, und vielleicht drei Wörter in Blindenschrift (oder Gehörlosensprache) verstehen. Es sollte zwei Zaubertricks beherrschen. Drei Lieder singen können, davon eines in einer anderen Sprache. Es sollte einmal ein Musikinstrument gebaut haben. Es sollte den langsamen Satz einer Sinfonie vom Recorder dirigiert haben und erlebt haben, dass die Pause ein Teil von Musik ist. Es sollte drei Fremdsprachen oder Dialekte am Klang erkennen. Drei Rätsel, drei Witze erzählen können. Einen Zungenbrecher aufsagen können. Es sollte drei Gestalten oder Phänomene in Pantomime darstellen können und Formen der Begrüßung in zwei Kulturen. Ein Gebet kennen. Reimen können, in zwei Sprachen. Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben. Eine Sonnenuhr gesehen haben. Eine Nachtwanderung gemacht haben. Durch ein Teleskop geschaut haben, zwei Sternbilder erkennen. Wissen, was Grundwasser ist. Was ein Wörterbuch ist, eine Wasserwaage, eine Lupe, ein Katalysator, ein Stadtplan, ein Architekturmodell. In einer Bücherei gewesen sein, in einer Kirche (Moschee, Synagoge…), in einem Museum. Einmal auf einer Bühne gestanden haben und einem Publikum mit anderen etwas Vorbereitetes vorgetragen haben.

Ein siebenjähriges Kind sollte einige Ereignisse aus der Familiengeschichte kennen, aus dem Leben oder der Kindheit der Eltern oder Urgroßeltern. Und etwas aus der eigenen Lebensgeschichte: zwei Anekdoten über sich selbst als Kleinkind erzählen können. Wissen, zu welcher Zeit – der Eltern, der Großeltern – das Haus gebaut ist, in dem man wohnt.

Einen Streit aus zwei Positionen erzählen können. Ein Beispiel für Ungerechtigkeit beschreiben.

Konzepte kennen: Was ist ein Geheimnis, was ist Gastfreundschaft, was ist eine innere Stimme, was ist Eifersucht, Heimweh, was ist ein Missverständnis. Ein Beispiel kennen für den Unterschied zwischen dem Sachwert und dem Gefühlswert von Dingen…

Empörung löste diese Liste zunächst oft aus. Übersteigerte Ansprüche! Wörter in Blindenschrift lesen, ein chinesisches Zeichen schreiben – das kann ich ja selbst nicht. »Das hat jemand geschrieben, der keine Kinder hat.« Eine Sinfonie vom Recorder dirigieren – bildungsbürgerlich! Zwei Zungenbrecher aufsagen, drei Lieder kennen – warum nicht sechs, oder gleich fünfzehn? »Grundwasser – den Kindern die Schlechtigkeit der Welt aufladen. Welche Ökonudel hat sich das ausgedacht.« Allein die Form, eine Liste – wie pedantisch! »Ein Theoriefurz.« Sollen damit künftig alle Kinder durchgecheckt werden?

Den Gesprächen gab der Ärger Energie. Und muss man sich nicht wehren gegen die Zumutung, gegen diese prometheische Anmaßung? Wird man bei der Konstruktion einer optimalen Kindheit nicht immer zugleich das Negative, das Defizit definieren? Erzeugt man beim Ausphantasieren des Guten nicht zugleich das Schlechte, die depravierte, die ungebildete Kindheit? Wendet sich das Ideal nicht immer gegen den konkreten Menschen, das konkrete Kind? Kann eine ideale Kindheit besser sein als die reale, die erlebte? Ist nicht der wirkliche Mensch der höhere Wert als der wünschbare Mensch? Ist der optimale Siebenjährige ein totalitäres Konstrukt?

Ein Missverständnis! haben wir entgegnet. Das ist keine Checkliste der bei den Kindern abzuprüfenden Fertigkeiten und Erfahrungen. Eher schon ist es eine Checkliste der Pflichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpflichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schulden wir den Siebenjährigen? Ein Versprechen: dafür zu sorgen nehmen wir uns vor, wir Eltern, Erzieher, Nachbarn. Angeboten soll es den Kindern werden. In den Horizont der Erwachsenen sollten diese Möglichkeiten in den ersten sieben Lebensjahren ihrer Kinder irgendwann einmal getreten sein…

Fülle spricht von der Macht des Möglichen. Nicht alle Beispiele für Bildungs-Anlässe können in ein einziges Kinderleben gepresst werden, »bulimisch«, wie ein Vater befürchtete. Das überstimulierte Kind, bis zum Anschlag gefördert, belagert, pädagogisch umkreist, überfordert … Nein, als Generation sind die Siebenjährigen gemeint! Und doch: Keine dieser Gelegenheiten sollte in einem Kinderleben grundsätzlich von vorneherein ausgeschlossen sein.

Nur so kann ein Bildungskanon für die frühen Jahre heute aussehen. Die Überlegenheit des Möglichen über das Wirkliche muss immer spürbar bleiben. Das Wirkliche darf das Mögliche nicht so reduzieren, dass sich der Horizont schließt.

Diese Beschränkung ist im »Situationsansatz« angelegt, der bei westdeutschen Kindergartenerziehern seit den 70er Jahren beliebt ist. Bequem vereinfacht hört sich das pädagogische Konzept so an: »Die Kinder interessiert nur, was sie selbst fragen. Wir greifen nur das auf, was ihrer Lebenssituation entspricht…« Das legt Kinder fest auf den Zufall ihrer Geburt, ihrer Schicht. Wir kommen nicht umhin, selbst gegenüber den Kindern Schicksal zu spielen. Beeren vom Busch pflücken, Orgelspiel in einem Dom hören, ein Stück Mauer bauen, eine Nachtwanderung – das sind elementare Bildungserlebnisse, die die aktuelle »Lebenssituation« vieler Kinder nicht spontan hergibt.

Die erste Liste – aber auch die zweite, nach hundertfünfzig Gesprächen erweiterte Liste, die nun gleich vorgestellt wird – endet, wie Robert Musil den Mann ohne Eigenschaften enden lassen wollte: »mit einem Komma«. Open end. Ein Kanon der den Kindern geschuldeten Bildungserfahrungen kann heute kein geschlossener Kreis sein, kein »orbis« wie zu Zeiten von Comenius. Das konzentrische Kreisen um das Nest der Vierjährigen, der Sechsjährigen ist eine fortlaufende Bewegung. Die Erwachsenen üben dabei diese Bewegung des Umkreisens, des Abtastens, der ausschweifenden Vorsorge. Diese Horizontumkreisung ist auch ein nie zu Ende gespieltes Spiel. Mit der Welt-Einwohnung ist es ähnlich wie mit dem Wohnen. Das ist noch nicht fertig, sagen Erwachsene entschuldigend, wenn sie durch ihr neues Heim führen. Fertige Wohnungen, heißt es in einer »Bildungsminiatur« in diesem Buch, sind eine Kampfansage an Kinder. Das Umrunden des Horizonts wird nie beim Anfang landen, der Kreis wird sich nie ganz schließen, weil man auf der Reise immer ein wenig die Richtung gewechselt hat. Es kann einen vollständigen Kanon ebensowenig geben wie ein vollständiges Weltbild. Emergent curriculum nennt die amerikanische Pädagogik diese spiralförmige pädagogische Bewegung.

Aber das beliebig Mögliche darf die Wirklichkeit auch nicht überwältigen. Das »Allmögliche« löst die Qualität ebenso auf wie das Unmögliche.

Die Recherche hat übertrieben. (Auch Kinder übertreiben gern. Dieses Recht haben wir von ihnen ausgeborgt.) Wird nun die Liste durch jede zusätzliche Anregung immer länger? Wie jemals vom Konditional zum Indikativ umschalten, mit welchem Maß?

Die meisten unserer Gesprächspartner haben das pragmatisch für sich selbst gelöst. In vielem konnten sie sich bestätigt fühlen. »Etwas spenden, das machen wir sowieso. Handtücher werden bei uns nicht gebügelt. Wo kämen wir da hin. Aber Schuhe putzen, das hat meine Tochter schon mit fünf Jahren gern gemacht. Vieles davon gab es bei uns auch.« – »Einen Friedhof besuchen. Warum nicht.« – »Ein Baumhaus bauen, das fehlt noch auf Ihrer Liste.« – »Chinesisches Zeichen schreiben – Unsinn. Aber Blindenschrift … darüber kann man nachdenken«.

Menschen haben das vor sich, was sie vorhaben. Prophezeiungen, einmal ausgesprochen, haben die Tendenz, sich zu bewahrheiten. Die Enttäuschung über ihre Nichterfüllung wäre anstrengender als die Mühe, sie zu verwirklichen. Von der Weltwissen-Liste ging eine tonisierende Wirkung aus, der Ansporn der »operativen Illusionen«, wie Sloterdijk es nennt.5 Man kann Qualität in gewissem Sinn auch herbeireden. Auf dem Weg des Redens leben wir uns in ferne Horizonte ein. Wer sich nichts mehr vormacht, hat nichts mehr vor sich.

Expectations matter, sagte die berühmte amerikanische Bildungsforscherin Diane Ravitch.6 Auf die Erwartungen kommt es an. Zwar setzen politische Erwartungen an Bildung in Deutschland nach wie vor zuallererst an der Universität an, um dann abwärts auf immer kleinerer Flamme herunterdefiniert zu werden übers Gymnasium bis allenfalls zur Grundschule. Für die frühen Jahre bleibt nichts mehr übrig. Als das Bildungsministerium in der Delphi-Studie (1996–1998), einer mehrstufigen Befragung von über tausend Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die Einschätzungen zur Zukunft des Wissens und den vermuteten Rückwirkungen auf das Bildungssystem abfragte, war im Entwurf des Fragebogens unter achtzig Fragen nicht eine einzige auf die vorschulische Zeit gerichtet. Keine einzige Frage sprach die Grundlegung von Neugier und Interesse in der frühesten Bildungsphase an. Im letzten Moment wurden noch zwei Fragen zu Bildungserfahrungen in vorschulischer Zeit aufgenommen. Dann allerdings war in diesem Punkt das Plädoyer der Experten einhellig: für gesteigerte Erwartungen an Bildung in frühen Jahren.7

Mittlerweile haben sich – gemessen an der Betreuungspädagogik und der fun morality der 80er Jahre – die Erwartungen an die Vorschulzeit als eine elementare Bildungszeit deutlich erhöht. Problemlösungsbereitschaft, Kooperationsfähigkeit, Lernen zu lernen – dass die Voraussetzungen dafür bis in die frühe Kindheit zurückreichen, daran zweifelt eigentlich niemand mehr. Basic skills zu vermitteln, Schlüsselqualifikationen – jeder ahnt, was mit diesen Begriffen gemeint sein könnte, und niemand hat etwas dagegen. Nur: bei welchen Gelegenheiten, und wie baut man solche Fähigkeiten auf? Da braucht es konkrete Anregungen für spontane und geplante Bildungsgelegenheiten, Bilder, Beispiele, die das Mögliche als das Realisierbare vorstellen.

Für solche Beispiele und Anregungen danken wir den Gesprächspartnern. Und noch etwas haben sie beigesteuert: überraschende Wendungen. Da wünscht sich eine Vierzehnjährige, dass jedes Kind Verantwortung für ein Tier übernehmen kann: »Weil man lernt vom Tier zum Menschen«. Eine Großmutter: »Die Kinder, wenn sie heute so lange vor dem Fernseher sitzen, dann verpassen sie so viel Zeit für sich selbst«. Ein Betriebswirtschaftsstudent sagt es ähnlich wie Goethe: »Je mehr man von der Welt weiß, um so interessanter wird sie«. Und eine Urgroßmutter: »Uber meine Urenkelin Rebecca wollen Sie mit mir sprechen? Die ist nun schonfünf Jahre sehr klug.«

Nach hundertfünfzig Gesprächen (1996-1999) haben wir die erste Liste erweitert:

Weltwissen: ein Panorama nach 150 Gesprächen

Was Siebenjährige können/erfahren haben sollten.

Bildungsgelegenheiten – Anregungen – Erfahrungen – Ahnungen – Fragen

 die eigene Anwesenheit als positiven Beitrag erlebt haben. »Wenn du nicht wärst…«. »Da hast du uns gefehlt…«

 gewinnen wollen und verlieren können

 wissen, was »schlecht drauf sein« bedeutet. (Theory of mind) Hunger nicht mit Ärger verwechseln, Müdigkeit nicht mit Traurigkeit. Elementare psychosomatische Zusammenhänge ahnen: Bettnässen z.B. hat mit Gemütsbewegung zu tun

 einem Erwachsenen eine ungerechte Strafe verziehen haben

 Bilder für seelische Bewegung kennen. »Wie wenn ein Luftballon platzt…«, »ein Fass überläuft«

 eine Erinnerung daran haben, dass ein eigener Lernfortschritt in anderen Behagen auslöste

 dem Vater beim Rasieren zugeschaut haben

 mit dem Vater gekocht, geputzt, Betten bezogen, gewerkelt, ganze Tage verbracht haben. Von ihm während einer Krankheit gepflegt worden sein

 die Erfahrung machen können, dass Wasser den Körper trägt

 schaukeln können: Was tut mein Körper mit der Schaukel, was tut die Schaukel mit meinem Körper

 eine Kissenschlacht gemacht haben

 einen Schneemann gebaut haben. Eine Sandburg. Einen Damm im Bach. Ein Feuer im Freien anzünden und löschen können. Windlicht, Windrad erproben

 Butter machen. Sahne schlagen. (Elementare Küchenchemie, Küchenphysik kennen: Schimmel, schädlicher und pikanter. Rühren, schnipseln, schälen, kneten, durchs Sieb passieren. Knusprig/angebrannt! Roh/gekocht! Versalzen: »eine Prise«)

 Reise: die Familie, die Eltern in einer anderen Umgebung wahrnehmen. Den Gegensatz Komfort/Robinson erleben. Zuhause/unterwegs, on the road. Erste Konzepte von Heimweh, Migration, »Herberge«, Obdachlosigkeit

 in einer anderen Familie übernachten. Mit anderen Familienkulturen, Codes in Berührung kommen. Einen Familienbrauch kennen, der nur in der eigenen Familie gilt

 wer gehört zur »weiteren Familie«: unterschiedliche Verwandtschaftsbeziehungen kennen … Onkel, Vetter, Patin …

 spenden. Dem Bettler in den Hut, in den Geigenkasten. In eine Sammelbüchse

 die Erfahrung, dass ein eigener Verbesserungsvorschlag in die Tat umgesetzt wurde. Eine Erinnerung: Ich als die Weltverbesserin, der Weltverbesserer

 elementare Krankenpflege: hochlagern, Eis oder Wärme? Atmen, »Schmerz annehmen«. Ruhe oder Bewegung? Handberührung tut gut, wo? (in der Ellenbeuge, am Haaransatz?) Erste Massage-Handgriffe. Sich ausruhen können. Was gut tut: meinen Augen. Den Ohren. Der Haut. Den Füßen. Was ist Gänsehaut? Stolz auf überwundene Krankheiten und: »Krankheit gehört zum Leben«

 das Märchen vom Holzlöffel kennen und andere elementare Stoffe/Gleichnisse von Aussetzung und Geborgenheit

 Wunderkammer Museum: die Botschaft der Dinge. Ihre Aura, ihr Altern, ihr Fortbestehen nach unserem Tod. Eine Burg kennen. Ein Gefühl haben dafür, dass sich die Welt verändert. Dass die Großmutter anders aufgewachsen ist. Ein Ding aussondern zum Behalten und Weitergeben, an die eigenen Kinder

 eine Sammlung angelegt haben (wollen)

 eine Ahnung von Weiträumigkeit, von anderen Kontinenten haben

 den Unterschied zwischen Essen und Mahl wahrnehmen. Bewegung und Gebärde. Geruch und Duft. Geräusch und Klang. Sehen, blicken, schauen. Gehen, schreiten…

 Notfalltelefonnummer kennen. Hilfssysteme, Wächtersysteme. Es gibt ein Kindernotruftelefon

 ein Geheimnis für sich behalten können. »Nur du und ich«, »es bleibt unter uns«, diesen Wunsch kennen

 die Erinnerung an ein gehaltenes Versprechen

 die Erfahrung, dass eigene Interessen delegiert, durch andere geregelt, vertreten werden können

 eine Methode des Konservierens gegen Verfall kennen. Etwas repariert haben, und die Frage beim Kaufen wichtig finden: Kann man das reparieren?

 den Unterschied zwischen Markt und Supermarkt kennen

 seinem Alter voraus gewesen sein (z.B. auf der Bastelanleitung). Einem Erwachsenen etwas erklärt haben

 mit einem Erwachsenen eine ungelöste Frage geteilt haben (»das weiß niemand«)

 auf einen Baum geklettert sein

 in einen Bach gefallen sein

 gesät und geerntet haben

 einen Reißverschluss, einen Klettverschluss untersucht haben. Mit Riegeln, Schlüsseln umgehen können. Sich nicht aus Versehen einschließen.

 Geräte anschließen und umstecken können (Recorder…)

 typisches Jungen- und Mädchenspielzeug kennen. Nach der eigenen Meinung dazu gefragt worden sein

 sich selbst schön machen wollen, Stilgefühl, »dieser Pullover steht mir nicht«

 eine Botschaft geschrieben haben, von einer schriftlichen Botschaft getröstet, erwartungsvoll geworden sein. Eine e-mail empfangen oder gesendet haben

 wie sieht der eigene Name in Sand geschrieben aus? Im Schnee, auf dem Waldboden, an der beschlagenen Fensterscheibe?

 die Spannung und Vorfreude empfunden haben, die von einem unbeschriebenen, unbemalten Blatt ausgehen kann

 ein Buch von Deckel zu Deckel »kennen«, wie auch immer der blaue Schatten – auf einem Gemälde, in der Winterlandschaft …

 heute habe ich geträumt…

 in einem Streit vermittelt haben. Einem Streit aus dem Weg gegangen sein

 Ich, ein Ankunftswesen: die Monate und Wochen vor der Geburt – phantasiert, »erinnert« eine Frucht bewusst geschält, »freigelegt«, einen Kern gespalten haben

 die Adern des Blattes und die Adern der eigenen Hand studieren

 Obstsorten, und wie sie sich im Duft unterscheiden. Drei Lieblingsdüfte

 die eigene Singstimme finden. Den eigenen Namen gesungen haben. Vogelstimmen, Tierstimmen imitieren können. Kanon singen – Verwirrspiel und Ordnungserlebnis. Einen Dialog auf Instrumenten (Duett) inszenieren, ein Echo hören, auslösen. Diesen Rhythmus spüre ich in den Füßen, und bei dieser Lautstärke ist meine Schmerzgrenze erreicht! die eigene Kraft dosieren können (beim Trommeln, beim Massieren)

 Flüche, Schimpfwörter kennen (in zwei Sprachen). Eine Ahnung von Stilebenen, Sprachkonventionen haben, wo sagt man was

 einen Nagel einschlagen, eine Schraube eindrehen, eine Batterie auswechseln können

 eine Nachricht am Telefon aufnehmen, behalten und ausrichten können

 sich bücken, wenn einem anderen etwas runtergefallen ist

 ausreden lassen. Wissen, was das ist. Warten können: die Warteschlange

 wissen, dass nicht alle Wünsche gleich in Erfüllung gehen

 gewandert sein: den Unterschied zwischen laufen, gehen und wandern kennen. Die Erfahrung der Strecke, der Durststrecke. Ein »Ziel vor Augen«

 einige Blattformen kennen, wissen, was man in der Natur essen kann und was nicht

 die Natur als Freund und als Feind erlebt haben. Als empfindlich, beschützenswürdig. Und als stärker, gefährlich

 über Regeln verhandelt haben. Eine Regel verändert haben. Mit dem Begriff »Ausnahme« etwas verbinden

 Mengen in Maßeinheiten erlebt haben. Z.B. drei Liter = drei Milchflaschen voll… Einen Raum mit dem eigenen Körper ausgemessen haben

 Reflexion: was kann ich, was kann der Computer? Erste Konzepte von Intelligenz, menschliche, künstliche »Intelligenzen«

 Schein-und-Sein-Experimente. Hinter dem »Nichts« im Glas verbirgt sich etwas

 Erfahrungen mit einem Experiment (geregelte Versuchsanordnung) und mit Üben (systematisches Wiederholen von Abläufen)

 die Farbe der eigenen Augen kennen, ein Selbstportrait gemalt haben

 den eigenen Pulsschlag gefühlt haben, und den von Freund und Tier

 einem Meister, einer Expertin, einem Könner begegnet sein. Neben ihm oder ihr gearbeitet haben (»Mentor«)

 Stolz empfunden haben, »ein Kind« zu sein. Nur Kind.

Weltwissen der Siebenjährigen

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