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Welt-Bildung

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Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen. Frühgeboren zu sein ist eines unserer wesentlichen Gattungsmerkmale. Um uns in der Welt schrittweise einquartieren zu können, sind wir darauf angewiesen, dass man sie uns zeigt. Die menschlichen Nachkommen wiederum sind die einzigen jungen Lebewesen, die auf die Dinge zeigen. Eine Aufforderung, eine Bitte, ein schon vor dem Spracherwerb begonnener Dialog: Der Säugling, das noch nicht ich-sagende Subjekt, bittet, fordert: Erklär mir. Antworte! Der Finger, die Hand des Kindes – es kann den Kopf schon heben, drehen –, sie wählt aus. In der Umwelt, in die das Kind hinausgetreten ist, in diesem aktuellen Ausschnitt von Welt überhaupt, wählt es zielgerichtet: den erstaunlichen Gegenstand, da! das Fahrrad, der Föhn: da! Das Kind staunt. Und verwandelt sein Staunen in eine Geste, in ein Fragezeichen: ein geborener Lerner. Das Kind inszeniert den Dialog: Der Blick wandert vom Phänomen zum Erwachsenen, dem weltsicheren älteren Gattungsgenossen. Mit instinktivem Vertrauen in dessen Macht, sein Weltwissen und seine Gutartigkeit, fordert es: Gib ab davon! Teile mit mir. Du bist jetzt dran! Und der Erwachsene, er kann nicht anders. Die Mutter, biologische Mäzenin über neun Monate, setzt ihr Mäzenat als ein elementar pädagogisches fort. Nicht nur die Mutter, wir alle sind geborene Lehrer. Wir können uns nicht verweigern. Intuitiv verfallen wir im Dialog mit Säuglingen in den Singsang einer bis zu einer Oktave angehobenen Kopfstimme, wir dehnen und wiederholen die Silben und bieten dem Säugling damit die bestmögliche Propädeutik für den Spracherwerb. Wir bringen automatisch unser Gesicht im richtigen Winkel und im richtigen Abstand für die Augen der Neugeborenen so in Stellung, dass sie die Botschaften des menschlichen Gesichts entziffern lernen. Und wir springen an auf ihre gestischen Fragen, den deutenden Finger, den zwischen dem fixierten Gegenstand und unseren Augen wandernden Blick. Wir sind dran! Wie die Hirten auf dem Felde machen wir uns auf den Weg, wir Erwachsenen im Umgang mit den Neugeborenen, und tun, wie uns gesagt wurde. Den Einjährigen benennen wir die Dinge, wir kommentieren ihre Hantierungen wie Sportreporter, obwohl es von ihrem Wortschatz her noch keinen Sinn macht. Für das Gespräch mit den Nachkommen sind wir programmiert.1 Nur in Verwöhnungssystemen können wir als Gattung gedeihen.

Den Kopf heben, Aufhorchen – das sind weltbildende Gesten. Das Kind hebt den Kopf und sieht die Welt aufgehen. Das Kind bildet dabei einen Horizont, die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Wirklichen und dem Möglichen. Terrain gewinnen, den Horizont voranschieben, unterwegs zu einem Zuwachs an Welt, unablässig: Das heißt lernen. Der Mensch, sagt Sloterdijk, ist ein »Mehrwelttier« und die Welt-Aneignung eine »Fortsetzung der Geburt mit anderen Mitteln«.2

Die Welt ist der Inbegriff von allem, womit man Erfahrungen macht, wenn man in ihr ist. Dieses progressive Welteinwohnen beschäftigt uns lebenslang, aber in den frühen Stadien des Lebens ist es besonders abenteuerlich, verheißungsvoll, pionierhaft. In den frühen Jahren ist genetisch alles darauf gerichtet, dass das biologisch nicht angepasste menschliche Junge, ausgestattet mit verschwenderisch reichhaltigem Potenzial, die Signale aufnehmen kann, die in Borneo, Boston oder Bremen Sinn machen für seine jeweilige Existenz. In diesen frühen Jahren ist es stärker noch, deutlicher noch als später angewiesen auf den Anderen, den Informations-Bereiter. Für das Entschlüsseln des Gesichtsausdrucks und das Decodieren der Sprache ist viel Gehirnkapazität vorgesehen. Das menschliche Gehirn lernt gern von anderen Menschen. Nicht die biologische Mutter muss es sein, da hat die Natur gut vorgesorgt. Jeder andere Mensch mit einem Vorsprung an Weltwissen kann mitspielen.

Sigmund Freud nannte es die »strahlende Intelligenz« der Kinder im Vorschulalter: ihre großzügige Ausstattung mit Talenten, ihre unerschrockene Erfinderlust, ihre Begeisterung fürs Lernen. Kennen Sie ein Krabbelkind, das null Bock aufs Krabbelnlernen hatte? Ehrliche Lerner. Sie mogeln nicht, sie lassen sich nicht einsagen…

»Wüchsen die Kinder fort wie sie sich andeuten, wir hätten lauter Genies«, bemerkt Goethe in Dichtung und Wahrheit im Hinblick auf das verschwenderische Entwicklungspotenzial von Kindern in frühen Jahren. Der »Horizont« ist durchlässig. Die Fülle des Vorhandenen spricht zum Kind von der Macht des Möglichen. Weltbewusstsein ist immer auch Überschussbewusstsein. Wer angefangen hat, in der Welt zu sein, ist unterwegs zu einem Zuwachs an Welt.

Weltwissen der Siebenjährigen

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