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Das Wissen des Weltwissens
ОглавлениеKinder sind nicht belehrbar. Sie können nur selbst lernen, hieß es anfangs.
Wird die Haltung unseres Weltwissen-Panoramas dieser Einsicht gerecht? Oder ist sie invasiv? Wird das Kind von den Erwachsenen bedrängt mit pädagogischem Überangebot, einem Überfluss von »Welten«? Muss man überhaupt die Welt noch einmal verdichten, immer noch eins draufsetzen, als wäre sie nicht ohnehin intensiv genug?
Die mittelalterlichen Madonnenmaler wussten es: Der Jesusknabe ist in heiterer Laune und lässt sich freudig füttern, wenn er seinen eigenen Löffel in der Hand hält.
Verfolgen wir das Kind mit dem Löffel? Wenn es den Kopf abwendet: taucht da um die Ecke seines neuen Blickausschnitts schon wieder ein Breilöffel auf?
Wenn wir vom »eigenaktiven« Kind sprechen, welches Bild von Aktivität liegt dem zugrunde?
Die psychosoziale Entwicklung des Kindes wurde vor allem in der Psychoanalyse lange Zeit in Kategorien des Dramas beschrieben: Spannungen, Kämpfe, brodelnde Affekte, heftige Konflikte. Heute beginnt man sich in der Entwicklungspsychologie stärker für die »niedrigen Spannungszustände« zu interessieren, für die »Zwischenräume«. In den Phasen von low-tension – das Baby ist gefüttert und gewickelt, die markanten Empfindungen wie Hunger und Sättigung treten zurück –, da geschieht, von außen betrachtet auf undramatische Weise, entscheidendes Lernen, Individualisierung. Was wir »Zwischenraum« nennen, ist möglicherweise eine vorzügliche Lernzeit, Individualisierungszeit: »Nichts zu suchen war mein Sinn«.
Die Erwachsenen müssen sich auch üben in ihrem Nicht-Verstehen. Die Aktivität des Kindes grundsätzlich erkennen und verstehen zu wollen, diese Absicht allein kann invasiv sein. Die Gegenwehr von Kindern gegen die dominante Anteilnahme der Erwachsenen heißt heute, Mitte 2000, Pokémon und ist ein Millionengeschäft. Hier sind Kinder mit ihrem für sie konstruierten Weltwissen unter sich. Interessant ist, wie fasziniert manche Erwachsene heute davon sind, diese Welt der Siebenjährigen nicht verstehen zu können.
Die Welt des sogenannten Billigspielzeugs war immer schon eine andere, subversive. Was man ohne großen Lustaufschub in den Mund schob, was unter der Hand zerbrach, was ästhetischen Ansprüchen an gutes Material nicht genügte, was sie sich selbst kaufen konnten, das mochten die Kinder gern. Das sogenannte Schundspielzeug, gewissermaßen die Unterschicht allen Spielzeugs, war den Kindern immer näher als alles didaktische Material oder auch als das ästhetisch anspruchsvolle »gute Spielzeug«. Das Billigspielzeug wurde von Erwachsenen eher ignoriert, oder in der Schule als Schundspielzeug diskriminiert zur Unter-der-Bank-Beschäftigung, wie anderes Beliebtes auch. (In vielen Schulen musste es vor dem Unterricht abgegeben werden und landete bis zum Unterrichtsende in einem Karton.) Zum ersten Mal beschäftigt nun das für die Erwachsenen nicht zugängliche Geheimwissen der Siebenjährigen die Kommentatoren der Feuilletons. Die Erwachsenen sind fasziniert von dieser Kinder-Expertise in der komplizierten Welt der Pokémons.
Was ist das Wissen des Weltwissens?
Es ist mehr als Fakten, und mehr als Informationen. Wissen, das sind ebenso Erinnerungsspuren des Kindes, Routinen, Zweifel, offene Fragen, intelligentes Raten. Auch entscheiden zu können: das interessiert mich jetzt nicht. Wissen heißt nicht, über etwas viel reden, sondern etwas tun können.
Wenn Kinder, diese hochtourigen Lerner, in den Kindergarten kommen, wissen sie bereits, dass Bäume nicht im Wohnzimmer wachsen, dass Kinder nie älter sein können als ihre Eltern, dass die Kasse am Ausgang vom Supermarkt steht, dass die Mutter, wenn sie am Telefon laut schreit, mit der Urgroßmutter telefoniert, dass es Schuhe für den linken und rechten Fuß gibt. Im Kindergartenalter wissen sie, dass das kleinere Kind auf der Wippe weiter nach hinten rutschen muss, dass manche Kinder zu ihrer Mutter Ane sagen, was ein anderes Wort für »Mutter« ist. Spaghetti, wenn man sie zu lang kocht, schmecken matschig. Manche Erwachsene schließen die Augen beim Musikhören. Der Freund hat den Turm nicht aus Versehen, sondern mit Absicht zum Einsturz gebracht.
In der Liste, in beiden Listen, geht einiges durcheinander: was die meisten Kinder nach sieben Lebensjahren schon wissen, beiläufig gelernt haben, was man voraussetzen kann und was ihnen zu wünschen wäre. Ziel und Ergebnis, Fähigkeiten und die Anlässe, bei denen sie sich voraussichtlich bilden könnten – formelles und informelles Lernen vermischt zu sehen, ist für systematische Pädagogen schwer auszuhalten. Aber Bildungserfahrungen sind nicht an bestimmte Orte und Zeiten gebunden. Vor allem nicht in der Kindheit. Das macht das Lernen in der Schule manchmal so unerträglich. Eine Achtjährige:
»Wir haben über Brot geredet. Langweilig.«
»Wieso? Das kann doch interessant sein: Brot?«
»Das war schon interessant. Aber das Reden darüber war total langweilig.«
»Das haben wir durchgesprochen«, erklärte eine Grundschullehrerin nach dreißig Jahren Unterrichtspraxis zu fast jedem Punkt auf der Weltwissen-Liste. Und zur nächsten Anregung: »Das haben wir auch durchgesprochen«.
Wissen ist mehr als Speicherung von Information, ist nicht der Kurzschluss zwischen Internet und Gehirn. Information ist nicht nur etwas anderes als Wissen, es ist in gewisser Weise das Gegenteil. Information ist alles, was die Welt unserer Wahrnehmung aufzwingt. Wie wird aus solchem »trägen Wissen« (Weinert) »intelligentes Wissen«?
Wissen entsteht nur in einem ganzkörperlichen Austausch mit der Welt. Mit ihrem ganzen Körper müssen die Kinder auf die Wissensanlässe zugehen. Ausgerechnet eine Wissenschaftsdisziplin betont das heute, von der man sich die Überwindung solch weichen Denkens erwartet hätte: die Hirnforschung. Wenn die Hirnforschung heute sagt: the mind is not in the head, stützt sie diese Hypothese auf neurophysiologische Untersuchungen, bei Unfallpatienten z.B., bei denen nach Unfällen an Gliedmaßen Veränderungen im Gehirn beobachtet werden.
»Erkläre mir, und ich vergesse. Zeige mir, und ich erinnere. Lass es mich tun und ich verstehe.« Diese konfuzianische Maxime wird bestätigt durch neuere Ergebnisse der Hirnforschung. Synapsen bilden sich im Gehirn des Kleinkinds vor allem dann, wenn es »selbstwirksam« ist, »selbstbildend«, aktiv beteiligt. Das Kind muss die Welt nicht als etwas Vorgefundenes erfahren, es muss sie neu erfinden.
Die Jahre vor der Schule sind eine ideale Zeit für die Aneignung solchen Weltwissens. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass das Menschenkind viel Zeit braucht für die Ausbildung seiner Weitläufigkeit. Und sie hat es gut eingerichtet, dass das Kind für die Erwachsenen unbequem ist in seiner Unfertigkeit. Im eigenen Interesse strengen wir uns als Erwachsene an, das Entwicklungspotenzial im Kind zu heben: damit das Leben auch für uns wieder einfacher wird. Im Idealfall helfen Kinder und Erwachsene, sich aus gegenseitiger Abhängigkeit zu befreien. Der Neuankömmling verfügt über gute Strategien, sich Stoff für seine Entwicklung heranzuholen – auch unter grob kinderfeindlichen Bedingungen gelingt das immer wieder, wie die resilience-Forschung, die Forschung über die erstaunliche »Unverwundbarkeit« vieler Kinder in bedrückten Verhältnissen, gezeigt hat.
Für die frühen Jahre ist der Kindergarten ein ideales Bildungsmilieu: Hier werden Kinder aller Schichten unter einem Dach versammelt, hier werden noch keine Noten vergeben. Es gibt an den langen Tagen immer wieder pädagogisch unstrukturierte Zeiten, für Irrtümer, für Wiederholungen. Und man kann noch anders sein, ohne Nachteil. (Die Kategorie »Ausländerkind« macht für Kinder in diesem Alter noch keinen Sinn.) Im Kindergarten kann wie von selbst in »Projekten« gelernt werden. Chemie, Mathematik, Physik in der Küche: das Hebelgesetz beim Nüsseknacken, elementare Mengenlehre beim Salzen. Kunst und Mathematik sind noch nicht auseinanderdefinierte Schulfächer.
Die Zukunft lernt im Kindergarten.