Читать книгу Love is pain - Donom Maska - Страница 10
Ich steh meinen Mann
ОглавлениеAm Mittag schreibt mir meine Schwester Livia. Sie hat einen Termin vereinbart, um einen Grabstein auszusuchen und will wissen, ob ich auch mitkomme. Ich kann nicht, hab an dem Tag schon was vor, ich will mich auch gar nicht darum kümmern, soll sie das doch übernehmen. Ich hab die Schnauze voll, mich immer um alles zu kümmern, organisieren, es geht nicht nur mich was an.
In Gedanken erzähl ich Jack von meinem Vater, er hat mich nie nach meinen Eltern gefragt. Gut, wir kannten uns auch erst einen Monat bevor es zum Bruch kam. Da wurde über vieles nicht geredet. Ich frag mich, wieso ich nicht traurig bin. Ich hab Mitleid, mir tut es leid, wie er gelebt und wie er gestorben ist, aber traurig bin ich nicht. Mir fehlt nichts. Ist der Schmerz irgendwo da und wartet darauf, irgendwann mal auszubrechen? An was erinnere ich mich überhaupt noch im Bezug auf ihren Vater?
Wie er mir das Fahrrad aus XXX brachte und zeigte wie man damit fährt. Wie er, statt meiner Mutter, zum Elternabend ging und meine Eins aus irgendeinem Grund verschwand und ich mich nicht wagte zu fragen, wer sie hat verschwinden lassen. Mein Vater oder doch meine Lehrerin. Ich wollte keine schlafenden Hunde wecken, aber die Frage beschäftigt mich bis heute. Wieso war die Eins verschwunden?
Ich war Klassenbeste und bei einem Test hab ich die ganze Zeit mit meiner Freundin herumgeblödelt, die Lehrerin warnte uns ein paar Mal, aber ich konnte nicht aufhören, dann nahm sie mir einfach den Test weg, knallte eine Eins drauf, schrieb es in ihre Agenda und meinte, du kannst gehen.
Ich hatte Panik. Bei uns hiess Elternabend, alle Eltern setzten sich hin, die Lehrerin öffnet vor versammelter Mannschaft ihre zwei Quadratmeter grosse Agenda, blättert von Name zu Name durch und liest alle Noten und Einträge über das Verhalten des Kindes laut vor. Wenn sie meine Eins vor allen Eltern herausposaunt, wird mich meine Mutter für diese Schande totprügeln. Meine Mutter hat öfters wiederholt und ihren Abschluss, nur weil sie eine Frau ist und die Lehrer dachten, was soll‘s, die brauchen ja gar keine Bildung. Aber ich musste Bestnoten nach Hause bringen, damit sie sich damit brüsten konnte als wär es ihr Verdienst.
Doch zu diesem Elternabend ging mein Vater. Als er nach Hause kam, fragte meine Mutter, wie die Noten sind. Er antwortete nur, alles gut. Ich wagte nicht zu atmen, geschweige denn zu fragen „Und die Eins?“ Mein Zeugnis war dann selbstverständlich das Klassenbeste. Hätte es meine Lehrerin ausgesprochen, hätte es das ganze Dorf gewusst und es meiner Mutter unter die Nase gerieben. Aber nein, die Eins war einfach weg. Wer sie hat verschwinden lassen, weiss ich nicht. Bestechung war ja in dieser Gegend auch nicht unüblich.
Das ist alles, was ich an Erinnerungen an meinen Vater in neun Jahren Orenda habe, sonst war er nur abwesend.
In XXX habe ich mehr, die meisten nicht schön, aber nicht so viele unschöne Erinnerungen an ihn, wie an meine Mutter. War er nüchtern, dann war er ruhig, aber gefährlicher, nervös, unsicher. Betrunken war er lustiger, aber auch schnell mit der Faust. Ich kenne ihn vor allem betrunken. Als ich mein Handgelenk operieren musste, hat er mich nüchtern ins Krankenhaus gefahren, ich hatte Angst mit ihm im Auto, weil er so unsicher fuhr. Wenn er betrunken fuhr, hatte ich keine Angst. In den Ferien hat er mich seinen gelben Merz fahren lassen, ich konnte gar nicht ans Gaspedal reichen, er hat vom Beifahrersitz aus Gas gegeben.
Als ich von zuhause auszog, hab ich ihn nicht vermisst. Ich hab weder seine Nähe noch den Kontakt gesucht, wozu auch? Meinen Eltern etwas über mein Leben erzählen, hab ich nie gelernt und wozu hätte ich ihn sonst aufsuchen sollen? Ich war kein kleines Kind mehr, das noch Hoffnung auf eine Beziehung zu ihren Eltern hatte. Ich war schon alt und reif genug, um die Realität zu akzeptieren.
Hat es mich geprägt? Natürlich. Jedes Kind wünscht sich die Geborgenheit und Liebe der Eltern. Ich hatte das alles durch meinen Grossvater, aber als er starb, da war ich elf und hatte niemand mehr. Da war niemand mehr, der mir das Gefühl der Geborgenheit, Sicherheit, Liebe, Wärme gab. Ich war allein. Seit 28 Jahren bin ich allein.
Ich hab gelernt meinen Mann zu stehen. Ich war der Ersatzvater im Haus als ich ein Kind war und ich bin auch der Ersatzvater im Haus seit ich selber ein Kind habe. Als Kind hab ich um diese Rolle nicht gebeten, man hat sie mir auferlegt als sich meine Eltern trennten. Statt, dass sich die Eltern um die Kinder kümmern, hab ich die Pflicht auferlegt bekommen, für die Familie und all deren Belange zu sorgen. Mir wurde die Verantwortung übertragen. Aus dieser Rolle hab ich nie wieder rausgefunden. Ich trug die Verantwortung für die Mutter, die Schwester, die Tante und deren Familie, Sohn, Mitarbeiter, Exfreunde, die sich nur zu gerne von mir leiten liessen. Komisch, ich hab mir immer vermeintlich starke Männer verliebt, so der erste Eindruck, wohl in der Hoffnung, sie würden sich endlich mal um mich kümmern, stattdessen hab am Ende doch wieder ich die Rolle des starken Mannes gehabt. Hab ich realisiert, dass die starke Schulter doch nur meine eigene ist, wollte ich nicht mehr.
Ich hab die Verantwortung für meinen Sohn getragen, war Mutter und Vater gleichzeitig, hab im Job Leute geführt. Meine Schwester hatte sich bei allem an mich gewandt und auch für meine Tante und ihre Familie war ich erste Anlaufstelle wenn was war.
Vor zwei Jahren hab ich die Führung aufgegeben. Keine Führung im Job, hab mich von der Familie zurückgezogen, ich will mich nicht mehr um ihre Probleme kümmern, ich will ihnen beim ewigen Gejammer nicht mal mehr zuhören. Matteo ist schon erwachsen und ich muss loslassen. Er muss eigene Entscheidungen treffen, er hat auch das Recht, Fehler zu machen und daraus zu lernen.
Wer bin ich nun? Ich weiss gar nicht wie das ist, sich nicht um jemand oder etwas kümmern zu müssen, mir Sorgen machen, aber eigentlich will ich das doch gar nicht mehr. Ich will mal geführt werden, ich will mich leiten lassen, mich anlehnen, umsorgen lassen, sicher und geborgen fühlen und vertrauen haben. Ich muss grad nur für mich selbst die volle Verantwortung tragen und weiss gar nicht, wie das geht. Ich hab so viel Zeit und beschäftige mich nur noch mit mir selbst. Geh mir mächtig auf den Sack.
Ich frag mich, wie wäre mein Leben geworden, wenn mein Grossvater nicht so früh gestorben wäre, wenn er immer noch am Leben wäre oder wenn ich einen richtigen Vater gehabt hätte?
"Einen richtigen Vater" das hört sich grad irgendwie hart an. Kann ich ihm wirklich Vorwürfe machen? Seine Eltern waren ja keinen Deut besser als meine, woher hätte er denn lernen sollen, wie man ein guter Vater wird? Keine Sau hat sich drum gekümmert, ob er in der Schule durchfällt, in der vierten Klasse wie ein Loch säuft, wo er sich rumtreibt. Er selbst hat ja nie Liebe bekommen, auch nicht von meiner Mutter. Zu seiner Verteidigung kann ich nur anbringen, wäre ich mit ihr verheiratet gewesen, hätte ich auch 24 Stunden am Tag gesoffen.
Klar, sie ist das Opfer. Die arme Ehefrau eines Alkoholikers. In Wahrheit war sie schon immer eine neidische, frustrierte, verlogene Kuh. Er war ein Säufer, aber selbst im grössten Suff war sein Charakter besser als ihrer. Er war nie neidisch auf andere, jedenfalls ist das etwas, dass mir bei ihm nie aufgefallen wäre. Er hat auch nie versucht Streit und Unfrieden zwischen anderen zu stiften, er hat nie jemandem das Glück missgönnt. Er hat ja kaum was bewusst wahrgenommen.
Wie es in ihm drinnen aussah, ob das irgendjemand wusste? Er was Hohn und Spott ausgesetzt, er liess alles an sich abprallen, lachte oft selbst darüber. Als Kind denkt man nicht darüber nach, als Erwachsene sieht man das etwas differenzierter. Das alles kann nicht einfach für ihn gewesen sein. Aber auch er hatte niemanden, an den er sich hätte anlehnen können. Ich hab Mitleid mit ihm, hatte ich auch bevor er starb. An meiner Denkweise hat sich durch seinen Tod nichts geändert. Aber alle anderen rennen nun ständig zum Friedhof, zahlen Messen, sagen Sätze wie "och der Arme" statt wie früher "Tztztz, hast du gesehen, wie der aussieht? So ein Säufer" Plötzlich plagt sie das schlechte Gewissen, nicht weil sie ihn wirklich bedauern, sondern weil man mit dem Tod konfrontiert wurde und sich bewusst wird, dass er einem selbst auch über den Weg laufen wird, dann will man doch möglichst gut dastehen.
Ich will ihn nicht entschuldigen, eigentlich kann ich heute gar nicht sagen, wer mein Vater überhaupt war. Ich hab ihn vor 16 Jahren das letzte Mal kurz gesehen und davor hatten wir auch acht Jahre keinen Kontakt. Ich hab keine Ahnung, ob mein Vater ein guter oder ein schlechter Mensch war, ich weiss nichts über ihn und es hat mich auch nicht interessiert. Er war ein Alkoholiker und kein guter Vater als ich ein Kind war. Ich bin ohne ihn aufgewachsen und er hat mir in meinem Leben nie gefehlt. Ein Vater hat mir gefehlt, aber nicht mein Vater. Aber ich hab ihm gegenüber keine Wut.
Als meine Eltern sich trennten, war ich bei der ersten Trennung 10 und bei der zweiten 12 Jahre alt. Ich musste mich rechtfertigen, wenn ich ihn in seiner Stammkneipe besuchte. Meine Mutter meinte immer, dieser Alki wäre mir lieber als sie, was ja auch stimmte, nur war das meiner Mutter ein unglaublicher Dorn im Auge und verschaffte mir zusätzliche Strafen.
Als ich 15 war, kam ich nach Hause, Mutter hatte ihn geholt damit er mich bestraft. Er hat es auch getan, war sehr wütend, sogar meine Mutter war über seine Wut überrascht. Komisch, dass er mich für etwas bestraft hat, worauf er eigentlich weder vorher noch nachher grossen Wert gelegt hatte. Seitdem hab ich ihn einmal gesehen, ich brauchte Unterlagen für meine Ausbildung, aber Livia sagte ihm, sie würde sie brauchen, hätte ich gesagt, sie wären für mich, hätte er sie nicht rausgerückt.
Seit meiner offenen Rebellion mit 16 war ich für meine Eltern der kriminelle Abschaum, der sich mit Kriminellen herumtreibt, klaut und Scheisse baut. Für meine Mutter war ich schon seit meiner Geburt der Abschaum. Sie sah mich als ihre Bestrafung an. Seit ich denken kann, waren Sätze wie „Du bist das Kind des Teufels“ „Der Teufel soll dich holen “. Ihr Lieblingssatz „Hoffentlich wirst du nie im Leben Glück haben“ war an der Tagesordnung. Tja, Wunsch erfüllt, würde ich mal sagen.
Sie scheint schon lange an Alzheimer zu leiden, meine damaligen Freunde hätten mich nie zum Klauen mitgenommen, im Gegenteil. Es war meine Mutter, die mich seit ich vier war, zum Klauen geschickt hat. Zuerst den Grossvater väterlicherseits und später meinen Vater. Ich durfte meinem Grossvater natürlich auf keinen Fall davon erzählen.
Der hat mir nämlich beigebracht, dass man auf gar keinen Fall und unter keinen Umständen stehlen darf. In dieser Hinsicht, bei stehlen und lügen, war er erbarmungslos.
Mein erstes Mal, dass ich für mich geklaut habe, war unabsichtlich. Ich war mit zwei Schulfreundinnen in einer Papeterie, wir haben Schulsachen angeschaut, Radiergummis in allen möglichen Farben und Formen. Als ich dann zu Hause war und meine Taschen leerte, fand ich einen Radiergummi in meiner Hose. Ich bin so erschrocken, denn ich hab ihn wirklich nicht absichtlich genommen. Ich bin zur Papeterie zurück und bin vor der Tür rauf und runtergelaufen, wollte den wieder zurückgeben, aber hatte Angst, die glauben mir nicht, dass es wirklich keine Absicht war sondern ein Versehen. Ich war damals zehn. Am Ende hatte ich doch nicht den Mut reinzugehen und hab ihn weggeworfen.
Das zweite Mal hab ich bei der Schulfreundin zu Hause Puppenkleider mitgehen lassen. Warum weiss ich nicht. Ich hab meine Hosentaschen mit diesen Kleidern gefüllt und ihr dann einen Tag später diese auch noch gezeigt. Natürlich wusste sie, dass es ihre Sachen sind und wollte sie zurück haben. Ich hab behauptet, es wären meine. Ich hab nicht gelogen, ich hab wirklich geglaubt, es wären meine und war wütend, weil ich sie zurückgeben musste, ihre Mutter hat es verlangt. Ich hatte gar keine Puppen und ich spielte auch nicht gern mit Puppen.
Dann hab ich mit 16 ein paar Sachen geklaut, weil ich wissen wollte, ob ich das kann. Ich hab es gleich weiterverschenkt, mir ging es nur darum, meine Fähigkeiten zu testen. Im Restaurant dann hab ich einkassiert, ohne getippt zu haben, daran hab ich mich tatsächlich bereichert, in meinen ersten Restaurantjobs.
Seit vielen, vielen Jahren schon, nehm ich absolut nichts Fremdes mehr. Sogar wenn mir nach Sitzungen ein Kugelschreiber in der Handtasche übrigbleibt, achte ich darauf, den gleich wieder ins Büro zurück zu bringen. Nicht weil ich Angst habe erwischt zu werden, sondern weil ich mich unwohl fühle, etwas zu haben, was nicht mir gehört. Ich will es nicht. Aber es war im Grunde meine Mutter, die mir das beigebracht hat. Erwähnte ich das hin und wieder, dann winkte sie das ab und lachte darüber „Ach das war doch nicht so ernst gemeint. Das waren andere Zeiten.“ Sie ist sich keiner Schuld bewusst. Schliesslich ist sie ihr Leben lang das arme Opfer und das Leben hat es gar nicht gut mit ihr gemeint, dass sie mich zum Stehlen geschickt hat, lag nur daran, dass es ja ihr rechtmässiges Geld war.
Alle meinten immer, für sie sei es nicht leicht, ich würde das verstehen, wenn ich mal selbst Kinder habe. Aber das Gegenteil ist geschehen. Ich verstehe es noch weniger seit ich selbst Mutter bin. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wütend ich auf meinen Sohn sein müsste, um ihm Unglück zu wünschen. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen, dafür ist meine Wut umso mehr auf meine Mutter gewachsen.
Mein Vater hat mir zwar nie Unglück gewünscht, aber auch er hielt mich für eine Kriminelle. Also traf ich ihn zusammen mit Livia und Matteo in seiner Stammkneipe, damit „sie“ die Unterlagen haben kann. Da haben wir auch das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht gesprochen, ich war 23. Sieben Jahre später hab ich auf dem Fussgängerstreifen für ihn angehalten, er hat mich nicht gesehen.
Jahrelang hatte er meine Nummer nicht. Nachdem sich so langsam herumgesprochen hatte, dass ich eine Ausbildung gemacht, einen guten Job habe und die Karriereleiter emporsteige, hat er Livia ständig in den Ohren gelegen, dass er mich vermisst und gerne Kontakt zu mir hätte. Aber ich wollte nicht, dass sie ihm meine Nummer gibt. Irgendwann hat ein Freund von ihm meine Nummer gesuchmaschint. Seither hat er einmal im Jahr angerufen und genau eine Viertelstunde lang erzählt, was es so Neues bei ihm gibt. Ich liess ihn erzählen.
Es war schon traurig. Mein eigener Vater hat sich gar nicht dafür interessiert, was es denn so bei mir gibt und wie es mir geht, wie es seinem Enkel geht. Er erzählte immer, wie toll es ihm gehe, wie gut er es hat und das Leben sei ach so schön. In Wahrheit hatte er seinen Job verloren, lebte von Sozialhilfe und war sehr krank. Doch er jammerte nie, erwähnte nie, dass er Schmerzen hat oder es ihm nicht gut geht. Das letzte Mal rief er an, um mich zu fragen, ob ich das Land in Orenda erben will oder ob er es verkaufen soll. Ich sagte, ich will es nicht, er soll es verkaufen.
November 2014
Montagabend nach meinem qualvollen Wochenende, ruft mich Mutter an. Seit Jahren gilt die Regel, dass sie mich nur bei etwas Wichtigem oder im Notfall anrufen darf, sonst nicht. Sie hat sich auch daran gehalten.
Sie teilt mir mit, mein Vater ist tot. Ein Freund von ihm hat ihm montags zuvor ein Medikament vorbeigebracht, aber er war zu schwach, um zur Eingangstür runter zu gehen, also liess der Freund das Medikament im Briefkasten. Sein Neffe starb am Dienstag, man hat versucht ihn zu erreichen, aber er nahm nicht ab. Die ganze Woche war er telefonisch nicht erreichbar. Als sein Freund am Montag wieder nach ihm sehen wollte, sah er, dass das Medikament immer noch im Briefkasten ist und er meldete sich auf sein Klingeln nicht. Er holte den Hausverwalter, aber der durfte nicht ohne die Polizei rein, also riefen sie die Polizei und fanden ihn tot in seiner Wohnung vor. Die meinten, er sei schon seit einer Woche tot.
Über die Tratsch-Leitung hat diese Nachricht meine Mutter erreicht und nun teilt sie sie mir mit. Ich frage, ob sie seine Familie benachrichtigt hat. Nein, auf die Idee ist sie natürlich nicht gekommen. Sie hat den ganzen Nachmittag am Telefon gesessen, halb XXX und Dreiviertel Hivasee über seinen Tod informiert, aber ist nicht auf die Idee gekommen, seine Familie zu informieren. Ich motze sie an, warum sie unwichtigen Leuten davon erzählt, aber nicht die kontaktiert, denen sie es sagen soll. Ich bin richtig angepisst, das ist so typisch für sie. „Informiere verdammt noch mal seine Familie und hör auf dich aufzuspielen. Er muss ja beerdigt werden, frag sie, was sie wollen“ zicke ich sie an.
Ich schreib meiner Schwester, frage, wie es ihr wegen Vater geht. Ich gehe davon aus, dass Livia diese Nachricht natürlich lange vor mir erhalten hat. Immerhin ruft meine Mutter sie fast täglich an. Meine Schwester ruft an, hat keine Ahnung, was ich mit meiner Nachricht meine. „Du weisst nicht, dass Vater tot ist?“ Ich bin wirklich überrascht. Nein, sie hat keine Ahnung, sie ist geschockt. Sie weint „Scheisse, ich wusste nicht, dass es mich so mitnehmen würde.“
Ich trage ihr auf, seine Familie zu kontaktieren, wegen der Beerdigung fragen, wir würden hier alles erledigen und ihn nach Orenda verfrachten, aber unten müssen sie sich darum kümmern. Wir sind zwar alle aus Orenda, aber mittlerweile leben alle in Hivasee. Ich hab kaum noch was an Familie in Orenda, aber dort liegen unsere Toten begraben. Am Sonntag ist die Firmung von Matteo, wir können nicht runter. Ich hab nie Kontakt zu seiner Familie gehabt und nur weil er jetzt tot ist, hab ich nicht vor, das zu ändern. Schliesslich haben sie sich ja all die Jahre nie bei mir gemeldet, nicht mal als ich ein Kind war. Seine Schwester ist meine Taufpatin. Es hat sie nicht grossartig gekümmert und wir können es dabei belassen.
Ich gehe zu Matteo ins Zimmer und sag ihm, dass mein Vater gestorben ist. Er springt vom Bett auf und umarmt mich. Bis jetzt war ich gar nicht traurig, aber in seinen Armen, fange ich heftig an zu weinen. Nun schüttle ich mich und die Tränen fliessen. Ich kann nicht aufhören. Der Arme weiss gar nicht, was er sagen oder wie er reagieren soll, er hält mich einfach nur fest. Das Telefon klingelt.
Den ganzen Abend bin ich entweder mit der Mutter, Livia, Tante oder dem Beerdigungsinstitut am Telefon. Seine Familie hat keine Ahnung, was er wollte, ob er hier oder in Orenda begraben werden wollte. Seine Schwester ist gerade im Urlaub in der Türkei. Sie meint, sie hätte ihn mal darauf angesprochen und er hätte geantwortet, er wolle nicht darüber reden, irgendjemand würde sich sicher darum kümmern. Seine Familie überlässt uns die Entscheidung, wo wir ihn beerdigen wollen, würden es aber besser finden, wenn er unten beerdigt wird. Leider, leider können sie keinen Finger rühren, haben viel zu tun.
Na schön, entscheide ich, wir werden uns eben darum kümmern und ihn hier beerdigen. Wehe, ich höre dann irgendwelche Klagen. Sie wurden gefragt, aber sie sind zu faul, es gibt ja nun kein Geld mehr von ihm.
Ich vereinbare mit dem Beerdigungsinstitut, dass wir ihn am Freitag hier beerdigen. Wir machen für den nächsten Tag einen Termin aus, sie haben auch schon einen katholischen Pfarrer informiert. Den rufe ich auch gleich am nächsten Tag an, wir wollen uns tags darauf treffen, um alles zu besprechen. Er sagt, am Mittag geht nicht, da er seine Tochter hüten muss, bis seine Frau nach Hause kommt. „Wie bitte? Sind sie ein katholischer Pfarrer?“ ich bin verwirrt. Ja, meint er, er erklärt es mir, ich verstehe es nicht ganz.
Ich war eine Weile nicht mehr in der Kirche und wenn, dann um meiner Tante Gesellschaft zu leisten, aber ich bin sicher, wenn katholische Pfarrer plötzlich heiraten dürften, hätte ich das schon mitgekriegt. Zudem soll die Messe auch noch in einer Reformierten Kirche abgehalten werden. Mir persönlich ist das alles egal. Aber würde er das wollen? Wir haben beschlossen, ihm eine würdige Beerdigung zu geben, also sollte es auch korrekt ablaufen und nach seinen Wünschen sein, die wir leider nicht kennen. Ob das seinen Wünschen entspricht, ein Beinah-Katholischer Pfarrer und eine Messe in der reformierten Kirche? Ich bin mir da nicht sicher, hab kein gutes Gefühl dabei.
Mit Livia und meinem Schwager Elias fahre ich zum Beerdigungsinstitut. Bei jeder Frage, jeder Entscheidung sagt sie „Sag du.“ „Entscheide du.“ „Was meinst du?“ Ich frag mich, wozu sie überhaupt mitgekommen ist. Ich will auch nicht, dass es am Ende heisst, ich hätte wieder mal den Chef rausgehängt und alles selber entschieden. Ich frage, was denn das für ein katholischer Pfarrer ist, der Frau und Kind hat. Sie erklären es mir, ich verstehe es immer noch nicht. Ich will einen richtigen Pfarrer. Entweder richtig katholisch oder nicht, aber bei so was Halbem hab ich kein gutes Gefühl. Die Frau schwächt das ab, das wäre alles in Ordnung und Livia entscheidet das erste Mal, sie will diesen Pfarrer. Gut, da sie endlich Mal was entscheidet, lasse ich es.
Als wir im Auto auf dem Rückweg sind, sagt meine Schwester plötzlich panisch „Scheisse, es ist nicht richtig. Ich hab grad ein schlechtes Gefühl. Wir können diesen Pfarrer nicht nehmen. Oh verdammt, wir brauchen einen richtigen Pfarrer. Mein Gefühl ist grad ganz komisch.“ Gut, dann kontaktieren wir unseren Pfarrer. Zu Hause telefoniere ich rum, ich hab seine Nummer nicht, auch niemand sonst, den ich kenne. Aber das Hivaseesche Kettentelefon funktioniert gut, um ein Uhr nachts ruft mich unser Pfarrer an. Ich erzähl ihm von diesem verheirateten Pfarrer und der reformierten Kirche, frage, ob das ok ist. Er kriegt fast einen Anfall. Schreit in den Hörer, das geht auf gar keinen Fall, er wird alles übernehmen. Eine Stunde redet er, die meiste Zeit halte ich den Hörer einen halben Meter von meinem Ohr entfernt.
Die Messe wird in unserer Kirche stattfinden, er bietet uns auch den Gemeinschaftsraum für den Leichenschmaus an, statt ins Restaurant, wie ich geplant hab. Er kommt mir sehr entgegen, ich bin dankbar für seine Hilfe, auch wenn ich nach unserem Gespräch fast taub bin. Livia übernachtet bei mir, der Schwager ist nach Hause. Wir schlafen auf dem Sofa, da ich nicht mit offener Türe schlafen kann und sie nicht in mein Bett will. Sie hat Angst, es könnte bei ihrem Gewicht durchbrechen. Für sie müsste ich meine Schlafzimmertür offen halten, das kann ich nicht. Schlafen wir halt beide auf dem Sofa, wobei wir die ganze Nacht quatschen statt schlafen.
Am nächsten Tag gehen wir mit dem Gemeindevorsteher in seine Wohnung. Versiegelung oder wie immer das heisst. Es ist ein trauriger Anblick. Das Bett, in dem er gestorben ist, ist verbeult, man sieht, wo er gelegen hat. In der Wohnung herrscht ein Chaos, es ist sehr staubig. Er hat so viel Schnick-Schnack gesammelt. Ich hatte keine Ahnung, dass er Flohmarktfiguren sammelt. Es sind unzählige, verstaubte Figuren, Gläser, Services, Kuchenplatten, die da rumstehen. Ich sehe mir die Wohnung an, stelle fest, ich hab keine Ahnung, wer mein Vater ist. Überall stehen leere Whiskyflaschen und Medikamente rum. In der Putzkammer sind etwa 50 leere Flaschen auf dem Boden nebeneinander aufgereiht. Auf dem Tisch liegen Papiere, alle Dokumente sind aus den 80-er und 90-er Jahren, aber sie lagen vor ihm, als wären es aktuelle Schreiben. Wir suchen die Unterlagen raus, wo wir ihn überall abmelden müssen. Wir nehmen ein paar Fotos mit. Den Rest wollen wir nicht, wir werden das Erbe ablehnen.
Woran ist er überhaupt gestorben? Die Ärztin meint, am wahrscheinlichsten hat sein Herz einfach aufgehört zu schlagen. Er hatte vor Jahren Krebs und Chemo hinter sich gebracht. Sie hatte vor ein paar Monaten bei der Bauchspeicheldrüse etwas entdeckt und wollte, dass das genauer untersucht wird, aber er wollte nicht mehr. Er wollte gar nicht mehr wissen, was da nicht stimmt. Er hatte keine Kraft mehr, zu kämpfen also bekam er alle möglichen Medikamente gegen die Schmerzen und zusammen mit dem Alkohol hat wohl das Herz einfach aufgegeben. Sie haben ihn nicht obduziert, da es unnötig schien.
In seiner Wohnung geht mir Livia ziemlich auf die Nerven. Sie will wohl, dass der Gemeindetyp ihr Missfallen über die Art, wie ihr Vater gelebt hat, deutlich mitbekommt. Er soll ja nicht auf die Idee kommen, bei ihr sehe es auch so aus. Ich bitte sie ein paar Mal, einfach ruhig zu sein, aber sie hört nicht auf. Immer wieder gibt sie „Iiiiiih“ von sich oder sonstige Kommentare, fasst die Sachen mit Daumen und Zeigefinger und rümpft die Nase. Ich werde immer angepisster.
Wir verabschieden uns von dem Typ, gehen noch in den Blumenladen, bestellen Bestecke und gehen zum Bahnhof. Lasse, der Mann meiner Tante, ruft mich an, ein paar unserer Landsleute haben sich gemeldet und bieten ihre Hilfe an. Sie wollen sich um den Leichenschmaus kümmern, der Balkanladen-Inhaber würde die Fleischplatten günstig verkaufen, sie werden sie holen und alles bereit machen. Eigentlich will ich am Nachmittag die Fleischplatten beim Metzger bestellen und mich um alles für den Leichenschmaus kümmern, aber ich freue mich sehr, dass die Leute ihre Hilfe anbieten und nehme sie dankbar an. Livia redet dazwischen „Nein, was mischen die sich ein! Wir werden das alles erledigen. Wir brauchen deren Hilfe nicht.“ Ich bin schockiert. Lasse hört sie, meint, ich soll das mit ihr klären, ich sage „Nein, ich nehme die Hilfe sehr gerne an.“ Während ich mit ihm noch alle Details, was wir brauchen, bespreche, redet sie dazwischen, benimmt sich wie ein verzogenes Gör, singt sogar. Lasse ist es unangenehm und ich kann es kaum erwarten, aufzulegen. Ich wimmle ihn ab, leg auf, steh von der Wartebank auf und dann schreie ich sie an.
Ich schreie, wie ich sie noch nie in meinem Leben angeschrien habe, mitten am Bahnhof „Was soll der Scheiss? Seit zwei Tagen läufst du mir wie ein Dackel hinterher und es heisst die ganze Zeit, mach du, entscheide du, sag du. Jetzt kommst du plötzlich, WIR machen das. Welches WIR? Von welchem verdammten WIR redest du? Du verschwindest gleich nach Hause zurück und kommst erst wieder zur Beerdigung. Welches WIR soll denn das sein? Es sind nur ich! Ich darf herumrennen, ich darf alles entscheiden, ich muss alles organisieren, ich soll schleppen. Welches verdammte WIR? Da bieten Leute, die ich gar nicht kenne, ihre Hilfe an und statt dass du dich freust, weil ich nicht alles allein machen muss, willst du, dass ich wie ein Packesel alles auf meinen Schultern schleppe. Ich hab so die Schnauze voll von deinem Egoismus, deiner Faulheit, du bist unbrauchbar und wenn du eh nichts machen willst, halt einfach die Klappe! Halt verdammt noch mal dein Maul. In der Wohnung hast du dich wie der grösste Vollidiot verhalten. Halt doch einfach mal die Klappe und benimm dich wie eine Erwachsene statt wie ein verzogenes Gör!“ Ich schreie sie auch weiterhin an, ich bin ausser Kontrolle, sie gibt keinen Ton von sich.
Bei mir ist die Luft raus, ich laufe in einer Linie hin und zurück, rauche, inhaliere tief. Der Bus kommt. Auf dem Weg nach Hause reden wir kein Wort miteinander. Ich bin ausgelaugt, leer, müde. Zu Hause fragt sie, was sie übernehmen soll, ich geb ihr die Botschaft. Blödsinn, die Botschaft ist in der Stadt am Fluss, für mich wäre es einfacher, mich darum zu kümmern, aber ich geb ihr die Aufgabe trotzdem ab. Sie wird dann vom Schwager abgeholt.
Komischerweise geht es mir seelisch die ganze Zeit gut. Ich hab keinen Druck mehr in der Brust und meinen ersten Termin mit Frau M. hab ich von Freitag auf Donnerstag vorverschoben, überlege aber, ob ich überhaupt hingehen soll, da es mir ja wieder gut geht. Ich bin schon geheilt. Ich entscheide mich dann, doch einmal vorbeizuschauen.
Am Freitag ist die Beerdigung. Ich hab vereinbart, früher dort zu sein, ich will ihn sehen. Es fühlt sich nicht richtig an, dass ihn lauter Fremde zuletzt gesehen haben. Ich hab das Gefühl, jemand aus der Familie sollte sich von ihm verabschieden. Die vom Beerdigungsinstitut raten mir ab, er lag eine Woche in der Wohnung, es sei kein schöner Anblick. Livia will auf gar keinen Fall. Sonst ist niemand aus seiner Familie da. Tante und Mutter wollen auch nicht, aber sie sollten es auch nicht sein. Ich reisse mich nicht drum, aber jemand muss es tun.
Meine Tante hatte mich schon im Vorfeld angefragt, ob mich Lasse fahren soll, ich hab abgelehnt. Ich will nicht mit ihm hin und meine einzige Freundin Joli hat zugesagt, mich zu fahren. Aber Joli kann dann doch nicht, ihr Sohn ist krank. Ich glaube, sie wollte einfach nicht bei der Beerdigung dabei sein und hat eine Ausrede erfunden. Während eines Telefongesprächs erzähl ich Livia, dass ich mit dem öffentlichen Verkehr hinfahre. Am Abend schreibt mir Mutter, ob sie mich begleiten soll. Ich antworte, wenn ich gewollt hätte, dass sie mich begleitet, hätte ich sie gefragt.
Keine Stunde später ruft mich Tante an und sagt „Hallo. Lasse will mit dir reden.“ Was soll das bitteschön sein? Bin ich ein Kind, das jetzt eine Strafpredigt zu hören bekommt? Lasse nimmt den Hörer und sagt, er hat alles umorganisiert, da er sich um die Getränke kümmern wollte. Er hat die Aufgabe übertragen und er wird mich fahren. „Wer hat dich drum gebeten?“ knurre ich. „Du kannst doch nicht allein gehen“ antwortet er. „Wer hat dich drum gebeten, alles umzuplanen? Wer hat dich drum gebeten, mich zu begleiten? Hab ich Tante nicht bereits gesagt, ich will es nicht. Also wer hat dich drum gebeten?“ Ihm ist es unangenehm, aber er besteht darauf und ich lehne immer wütender ab. Ich lasse meine Wut an ihm aus.
Das ist so typisch. Immer wieder versucht diese Familie über mich zu entscheiden, es hat noch nie geklappt, das Einzige, was sie damit erreicht haben ist, dass ich sauer werde, ausfallend, aber ihr Ziel haben sie noch nie erreicht. Trotzdem geben sie es einfach nicht auf. Nach all den Jahren machen sie sich nicht einmal die Mühe, sich zu überlegen, wer ich überhaupt bin und was ich will.
Ich koche vor Wut, weil er mir einfach nicht zuhören will „Wann fängt ihr endlich in eurem beschissenen Scheissleben an, zuzuhören, wenn ich was sage?“ blaffe ich ihn an „Was zum Teufel glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid, einfach zu entscheiden, was ICH tue!“ Am Ende meint er „Ich kann doch nichts dafür. Die haben mir aufgetragen, dich zu fahren.“ Stimmt schon, er sitzt zwischen den Stühlen und bekommt jetzt meine ganze Wut ab. Ich lasse es wirklich an ihm aus, bin beleidigend, aber ich bin über all die Jahre, die sie einfach in mein Leben einmischen wollen, wütend. Am Ende sag ich „Danke, aber ich gehe allein. Bis dann“ und lege auf.
Ich mach mich allein auf den Weg. Als ich ankomme, ist schon alles bereit, ich werde in den Raum geführt, in dem er aufbewahrt wird, der Herr vom Beerdigungsinstitut lässt mich im Raum allein. Ich schaue auf diesen Toten. Er ist so unglaublich dünn, besteht nur aus Haut und Knochen und ist vollkommen weiss. Das ist gar nicht mein Vater, die haben sich geirrt. Ich schaue noch mal hin. Nein, ich kenne den nicht. Ich gehe raus und frage den Mann, ob sie den Falschen haben, das hier kann doch nicht mein Vater sein. Er meint, das wäre schon der Richtige. Ich gehe noch mal rein. Er war zwar nie dick, aber so dünn hätte ich ihn mir nie vorstellen können und so weiss. Nicht grau sondern richtig weiss und mit einem weissen Bart. Ich hab meinen Vater nie mit Bart gesehen. Er hat sich jeden Morgen nass rasiert. Ich schaue noch mal genauer hin, doch das ist wohl schon mein Vater. Auf seinem Ringfinger ist ein goldener Ring.
Livia hatte ihn nicht zu ihrer Hochzeit eingeladen. Sie haben ihn danach besucht, er hat ihren Ehering gesehen und hatte sich genau den gleichen gekauft. Es war etwas makaber, aber ich denke, er wäre einfach gerne dabei gewesen und so fühlte er sich wohl dazugehörig. Livia war immer ein Mamikind und hat wegen ihr, ihn nicht eingeladen. Sein Hochzeitsgeschenk hat sie selbstverständlich angenommen. Auch sie hat er jedes Jahr angerufen, aber sie ging nicht ran, er redete immer nur mit dem Schwager. Jetzt weint sie um ihn.
Ich fühl mich nicht wohl in dem Raum. Ich hab Angst, horche ob der Typ noch draussen steht. Es ist ein ganz komisches Gefühl, da mit ihm im Raum zu sein. Und je länger ich bleibe, desto unangenehmer wird es. Ich hab richtig Gänsehaut, ein Schauer durchläuft mich. Es ist beängstigend, ich verabschiede mich und gehe.
Nach und nach kommen ein paar Leute. Sein Neffe, der Bruder von dem, der die Woche zuvor gestorben ist. An der Beerdigung seines Bruders war er nicht, aber hier steht er nun zusammen mit seinem Sohn im Teenageralter. Ich hab meinen Cousin seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen, obwohl wir in der gleichen Stadt wohnen. Seinen Sohn noch nie. Es kommen noch weitere entfernte Cousins samt Familien, die wohnen aber bei mir im Quartier und hin und wieder treff ich sie unterwegs. Ein paar Freunde meines Vaters. Livia fragt, ob er schon im Sarg ist, sie würde sich gerne verabschieden, aber will ihn nicht sehen. Sie kann rein. Mutter will auch, ich verbiete es „Nein. Du wirst da ganz bestimmt nicht reingehen. Du wirst mir hier auch nicht die trauernde Witwe spielen. Du bist seine Ex-Frau, die nie ein gutes Wort über ihn verloren hat. Jetzt kannst du es auch lassen.“ Ich schaue sie wütend an und sie wagt kein weiteres Wort. Sie hat ihre Macht schon vor langer Zeit eingebüsst und nicht den Mut mir entgegenzutreten. Ich werde ihr keine Gelegenheit bieten, sich hier aufzuspielen und theatralisch ihre übliche Opferrolle zu vollführen. „Das hier ist die Generalprobe für dich. Du kannst noch Änderungswünsche anbringen.“ Sie reisst erschrocken die Augen auf.
Der Sarg wird, vom Pfarrer angeführt, hinaus gebracht. Wir stehen im Halbkreis, links neben mir Matteo und Jimmy, mein Lieblingscousin und Sohn meiner Tante, rechts Livia. Matteo ist still, hat den ganzen Tag kaum ein Wort gesprochen. Ich bedaure ihn, er hat seinen Grossvater nie richtig kennengelernt und jetzt steht er an seinem Sarg. Livia weint die ganze Zeit, schnäuzt die Taschentücher voll. Ich steh einfach da, sehe mir die Leute an. Manche seiner Freunde kenne ich noch aus meiner Kindheit, sie waren wie er Saisoniers. Andere kenne ich überhaupt nicht. Ich bin dankbar, dass sie da sind. Gleichzeitig bin ich wütend, von seinen Geschwistern ist keiner da. Sie haben jahrelang von ihm profitiert, seiner Schwester hat er viel Geld in den Rachen geschoben, aber sie ist zu müde und muss sich von ihrem Urlaub erholen, kann deshalb nicht dabei sein. Meine Cousins und Cousinen sind älter als ich, wenigstens einer von denen hätte als Vertretung kommen können. Nichts.
Der Pfarrer hält die Predigt. Es war ein sehr schöner, sonniger Novembertag als ich ankam, der Himmel war blau bis der Sarg hinausgeführt wurde. Nun aber zieht Nebel auf, immer schneller, immer dichter. Die Predigt ist gar nicht so lang, aber am Ende kann ich den Pfarrer in der Mitte fast nicht erkennen, obwohl er vielleicht drei Meter vor mir steht, so dicht ist der Nebel mittlerweile. Die anderen am Ende des Halbkreises, sehe ich gar nicht mehr. Es ist unheimlich.
Er wird dann zum Grab geführt, wir gehen hinterher, ich und Livia sind direkt hinter dem Sarg. Langsam lichtet sich der Nebel wieder. Am Grab betet der Pfarrer weiter, dann kann jeder eine Schaufel Erde reinschütten. Ich stehe da, starre in das Loch vor mir. Zuerst kommen die Freunde dran, ein paar sind Moslems, sie beten auf ihre Art, dann die entfernten Verwandten samt Familien, dann meine Familie, ich sehe Mutter an, sie versteht das Zeichen und geht als nächstes. Ich gebe ihr nicht die erste Reihe, da hat sie nichts verloren. Vor mir geht Matteo, dann Livia und dann ich als Letzte. Ich stehe vor diesem Loch, nehme eine Schaufel Erde und schütte es drüber. Ich bekreuzige mich und mach dabei einen Knicks „Ruhe in Frieden. Ich hoffe, den findest du endlich.“
Es ist das erste Mal, dass ich eine Beerdigung organisieren musste, es ist überhaupt meine erste Beerdigung. Ich war noch nie an einer Beerdigung. Als mein Grossvater starb, durfte ich nicht zum Friedhof. Ich hab noch nie zuvor einen Sarg in die Erde hinabgleiten sehen. Das erste Mal, dass ich so nah am Toten bin, dass ich als letzte die Erde auf ihn fallen lasse. Es ist ein komisches Gefühl, ehrfürchtig. Ich hab keine einzige Träne vergossen, ich bin nicht mal traurig. Ich akzeptiere einfach, dass ich nie ein gutes Verhältnis zu meinem Vater hatte, dass ich im Grunde keinen Vater hatte. Jetzt damit zu hadern, ist eh zu spät. Aber ich bin froh, haben wir ihn trotz allem, nach bestem Wissen und Gewissen beerdigt.
Wir fahren dann in die Kirche zur Messe. Die muslimischen Freunde verabschieden sich, ich lade sie noch auf den Schmaus ein, aber sie lehnen ab. Die Messe ist schön, ich bin zufrieden. Trotz aller Differenzen haben wir das Beste gegeben, wir haben uns bemüht, seinen Wünschen zu entsprechen. Der Stachel, dass seine Familie zu faul ist, daran teilzunehmen, der sitzt tief. Der Leichenschmaus ist von seinen Freunden wirklich sehr gut organisiert, Mario, das Hivaseesche Mädchen für alles, ist da, um zu servieren und macht es wirklich toll. Ich verteile alles was übrigbleibt unter ihnen. Ich bin von ihrer Unterstützung gerührt. Bei uns ist es üblich, dass man entweder Blumen oder Geld gibt. Die meisten Freunde haben Blumen ans Grab gebracht. Wenige Freunde, meine Tante und Mutter haben uns Geld gegeben. Von seinen Verwandten nichts. Weder Blumen noch Geld. Ich bin nicht mal überrascht.
Seine Schwester erkundigt sich bei Livia nach der Beerdigung, lässt fallen, dass es schade ist, dass er hier beerdigt wurde und nicht unten. Sie möchte gerne Kontakt zu mir. Ihre Tochter schickt mir über Social Media eine Nachricht, ob sie meine Telefonnummer haben dürfte, meine Patentante, ihre Mutter und Schwester meines Vaters, hätte gerne Kontakt zu mir. Ich überlege, ob ich ihr meine Nummer geben soll, damit ich ihr ordentlich meine Meinung sagen kann, was für eine beschissene und geldgierige Schwester sie ist und ich hoffe, dass sie in der Hölle verrottet, aber ich überleg es mir doch anders und lass die Nachricht unbeantwortet.
Kaum ist die Beerdigung durch, falle ich wieder in mein Loch. Es geht mir überhaupt nicht besser, ich hatte einfach Stress. Ich hatte wieder mal eine Fluchtmöglichkeit, jetzt ist sie weg und alles ist wieder beim Alten.
Wie sich herausstellte, wollte er das Land seiner Schwester verkaufen. Natürlich hätte er nie Geld gesehen, sie aber das Land erhalten. Es war schon alles in die Wege geleitet worden, es fehlte nur noch seine Unterschrift. Tja, nun gehört das Land doch mir. Sobald ich mal nach Orenda gehe, werde ich die Zigeuner fragen, ob einer das Land haben will und es verschenken, von seiner Familie wird es niemand bekommen, nicht mal für Milliarden.