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Die Hölle zum Zweiten
ОглавлениеDer seelische Schmerz ist da. Auch wenn nicht mehr so oft wie früher, aber er besucht mich immer wieder. Einmal am Tag sicher. Wenn ich Glück habe, verlässt er mich nach ein paar Minuten wieder und wenn ich Pech habe, dann hält er den ganzen Tag an. Es ist als würde eine Faust meine Seele umschliessen und zusammenpressen. Ich bekomme keine Luft, ich kann keinen klaren Gedanken fassen, ich bin rastlos, weiss nicht wohin mit mir. Ich atme tief durch, ich versuche es zu lösen, versuche mich zu beruhigen. In diesen Momenten bin ich richtig verzweifelt.
Trotz Therapie, trotz der Tatsache, dass es mir immerhin schon besser geht und ich wirklich weitergekommen bin, schaff ich es nicht, dieses Problem zu lösen. Ich weiss nicht, woher er kommt, weiss nicht, was ihn auslöst. Ich flehe täglich um eine Antwort, aber ich krieg keine. Da ist auch noch der Druck in der Brust, der mir auch die Luft raubt. Auch da flehe ich täglich um Antwort, warum das so ist, aber auch da bekomme ich einfach keine. Alles Mögliche lass ich mir als Ursache durch den Kopf gehen, aber nichts passt richtig. Zwei Wochen nach Jacks letzter Nachricht war der Schmerz permanent da, aber so langsam geht es wieder, er gönnt mir immer grössere Ruhepausen.
Wenn die Sehnsucht nach Jack mich packt, wenn mich die Traurigkeit über seinen Verlust befällt, hab ich auch das Gefühl, ich kann nicht mehr atmen, aber es ist nicht dieser Schmerz. Es ist etwas anderes, ich weiss aber nicht was.
Immerhin kenne ich mittlerweile die Unterschiede in meinen Gefühlen. Auch wenn ich die Ursache nicht kenne. Als sie alle über mir zusammenbrachen, konnte ich sie nicht unterscheiden.
November 2014
Der seelische Schmerz ist seit Monaten mein treuster Begleiter, nur in den Momenten, in denen ich mit Adi schrieb, liess er mich in Ruhe. Nach dem Satz „Es ist beendet“, gehe ich am Donnerstagmorgen mit verweinten Augen ins Büro. Ich fühle mich elend. Ich halte den Schmerz fast nicht mehr aus. Salba und Rina, auch eine Arbeitskollegin, raten mir schon seit einer Weile, mir endlich Hilfe zu suchen, sie sorgen sich bei meinem Anblick um mich. Beide haben Zusammenbrüche hinter sich, Therapie, Medikamente. Wissen, was der Job anrichten kann und sehen mir bei meinem wöchentlich fortschreitenden Zerfall zu, aber ich will nichts davon hören. Ich brauche sicher keine Therapie. Nie im Leben würde ich zu einem Psychiater gehen. Das ist Humbug, ich halte nichts davon.
Der Tag ist eine unendliche Qual, ich starre den ganzen Tag den Chat an und flehe, er soll reinkommen, aber er tut es nicht. Zum ersten Mal seit wir uns kennen, bleibt er den ganzen Tag fern. Ich kann nichts anderes tun als drauf zu starren, ich kann nicht denken, ich kann nicht atmen. Ich schreibe niemandem, ich starre einfach. In der Mittagspause nimmt mich Salba einfach in den Arm, ohne was zu sagen, und ich weine bitterlich.
Nichts und niemand sonst bietet mir Ablenkung. Einzig Steve, ein verheirateter Chatsüchtiger, mit dem ich oft gute Unterhaltungen habe, kann mich am Nachmittag ein bisschen trösten, auch wenn er nicht weiss, weshalb ich so leide. Aber das Gespräch mit ihm über alles Mögliche, beruhigt mich etwas, lässt mich für kurze Momente an etwas anderes denken.
Wie immer gehe ich donnerstags nach Hause, um zu weinen. Nur an diesem Donnerstag ist es tausend Mal schlimmer. Es ist nicht nur weinen, es sind Höllenqualen, es ist Panik. Ich habe Angst um sich selbst. Die DVD von B. läuft im Dauermodus. Ich hab Angst sie auszuschalten, weil ich denke, ich werde sonst durchdrehen. Es beruhigt mich immerhin ein bisschen.
Am Freitag geht es genau gleich weiter. Ich schreibe alles, was mein Handy an Kontakten zu bieten hat an, das ist leider nicht viel. Aber niemand hat Zeit oder Lust auf ein Treffen. Ich brauche dringend jemanden zum Reden. Jetzt! Doch da ist niemand, denn ich hab noch nie jemand zum Reden gebraucht.
Schlussendlich bin ich so verzweifelt, dass ich die Suchmaschine nach Psychotherapeuten durchstöbere. Ich hatte noch nie solche Angst um mich selbst, ich schaff alles, aber diesmal nicht. Es ist nichts von ausserhalb wovor ich mich fürchte, es ist innendrin. Ich bin ratlos und weiss mir selbst nicht mehr zu helfen, verlier ich jetzt den Verstand? Die DVD läuft wieder in Endlosschleife. Da gerade Mittag ist, sind bei fast allen nur die Anrufbeantworter an. Ich wähl mich durch die Liste durch. Frau M. nimmt ab, ich erklär ihr, dass ich kurz vor einem Zusammenbruch stehe und dringend mit jemand reden muss. Wir vereinbaren einen Termin für den kommenden Freitag. Doch wie soll ich die Tage bis dahin überstehen?
Ich laufe vom Wohnzimmer, zur Küche hin und her, weiss nicht, was ich will, was ich denken, was ich tun soll. Ich weiss nicht, wohin mit mir. Salba hat mir Tabletten auf natürlicher Basis und rezeptfrei empfohlen, ich hol sie in der Apotheke. Am Abend nehm ich eine und etwa eine halbe Stunde später fühle ich nichts ausser Müdigkeit. Ich geh ins Bett, schlafe sofort ein und auch durch.
Am nächsten Morgen erwache ich, fühle immer noch nichts. Ist es möglich? So einfach ist das Problem gelöst? Ich trau dem Frieden nicht ganz. Setz Kaffee auf, rauche. Mit jeder fortschreitenden Minute, kommt alles langsam wieder zurück. Nach nicht mal einer Stunde hat mich die innere Hölle vollumfänglich wieder.
Ein weiterer Tag, den ich nur weinend, rastlos, einsam und verzweifelt verbringe. Am Abend nehme ich wieder eine dieser Tabletten und es verläuft genau gleich. Ich bin müde, ruhig, gehe schlafen, wache auf, fühle nichts und dann kommt alles wieder zurück, bis es unerträglich ist.
Ich beschliesse, keine mehr zu nehmen. Ich werd verdammt noch mal da rauskommen. Flashbacks tauchen vor meinem inneren Auge auf. So viele Fehler, die ich in den letzten Jahren begangen habe. Während ich dachte, mir geht es gut, mit meinem Leben geht es bergauf, hab ich nicht gemerkt, wie ich im Grunde falle. Ich bin schon seit Jahren in einer Abwärtsspirale. So viele Warnungen, Hinweise hab ich ignoriert. Mir kann nichts passieren, ich bin tough, ich bin stark. Bäh, was für ein Schwachsinn. Ich hab mich selbst belogen. Stattdessen hab ich mich immer mehr zurückgezogen, immer weiter von mir selbst entfernt. Ich hab mich am Ende völlig verloren und bin vereinsamt. Ich hab sie nicht erkannt. Ich habe die Angst, die mich in den Würgegriff nahm und immer fester zupackte, nicht erkannt. Ich habe es schon gewusst, es war mir aber nicht bewusst. Die Antwort ist mir seit drei Monaten vor der Nase und ich hab’s nicht gesehen.
Ich wusste, es hat einen Grund, warum ich Adi begegnet bin und dass er es beendet hat, ist das Beste, was mir passieren konnte. Dieses Wissen ist da. Er ist aufgetaucht, um mir einen Spiegel vorzuhalten, in dem ich mich und meine Fehler erkennen soll. Er hat mich daran erinnert, wer ich bin und was ich eigentlich mal vom Leben wollte. Adi ist Albert 2.0.
Keine weitere Flucht mehr vor mir selbst, vor meiner Vergangenheit, vor all den Verletzungen und Schmerzen. Diese Flucht hat mich nur in die Angst getrieben. Ich dachte, Angst würde ich nie mehr im Leben haben. Was für eine Fehleinschätzung.
Aber ich hatte genug Stress, Ablenkung, Fluchtmöglichkeiten. Es war einfach, zu ignorieren. Nun nicht mehr und das ist auch gut so. Meine Depression hat nicht erst in diesem Job angefangen, sie fing schon vor Jahren an. Langsam, kaum merklich, jetzt ist der Show-down gekommen, das grosse Finale und ich muss mich mangels Fluchtmöglichkeiten stellen. Ich hab einen Scheissjob, aber es ist genau der Richtige.
Ich bereue zutiefst, nicht auf die Warnungen gehört zu haben. Ich wünschte so sehr, ich könnte die Zeit zurückdrehen und meine Fehler korrigieren, aber dafür ist es zu spät. Nun muss ich es auf die harte Tour durchstehen. Es tut weh, es tut so höllisch weh, aber da muss ich jetzt durch, wenn ich es schaffen will, wenn ich diese innere Hölle besiegen will.
Ich war schon mal in der Hölle, nur war die Hölle das letzte Mal offensichtlicher. Der Weg hinaus war schwer, steinig und ständigen Angriffen ausgesetzt, aber ich war nicht allein, gab nicht auf und hab es geschafft da rauszukommen. Dieses Mal hat sie mich hinterhältig erwischt. Über Jahre hinweg, ist es mir nicht aufgefallen, wie sie, wie eine Spinne ein Netz um mich schnürt. Vielleicht wusste ich es. Doch, ich wusste es, habe es aber einfach ignoriert. Ich hielt mich wohl für unverwundbar, für zu stark, weil ich es schon mal geschafft habe.
Nach einer turbulenten, heftigen Zeit stand er mitten in einer Nacht 1999 vor mir, ich dachte „Wow, der Teufel ist aber ein schöner Mann“ und im nächsten Moment kam mir in den Sinn „Er kann aussehen, wie er will, er ist der Teufel.“
Ich hab geschlafen, erwachte, weil ich fühlte, da ist jemand in meinem Schlafzimmer. Ich hatte einen Sessel in der Ecke und da sass jemand drauf. Als ich mich aufsetzte und fragte „Wer ist da?“ stand er auf und stellte sich vor mein Bett. Ich konnte ihn durch das Licht von aussen gut erkennen, wirklich ein schöner Mann im dunklen Anzug und darüber ein schwarzer Mantel. Seine Präsenz jagte mir aber extreme Angst ein. Ich wusste sofort wer er ist, tat aber cool, obwohl ich wusste, dass er weiss, dass ich nur so tue, während ich fast das Pyjama vollscheisse. Er sah mich mit einem frechen Grinsen schief an und meinte „Du kannst mir nicht entkommen.“ „Du kannst mir nichts tun“ versuchte ich mit kraftvoller, arroganter Stimme zu sagen. Netter Versuch. Ich umschloss meinen Talisman mit der Hand so fest ich nur konnte und bat in Gedanken um Kraft und Hilfe.
Er kam langsam ums Bett herum, ganz nah, ich schaute ihn direkt an, mein Blick war fest auf seine Augen gerichtet. Ich hatte Angst wegzuschauen, vielleicht überfällt er mich dann doch. Ich dachte, er würde mich berühren, innerlich fror ich vor Angst ein. Seine Hand kam immer näher, bis sie ein paar Zentimeter von meiner Hand war, die sich an das Sonnensymbol festgekrallt hatte. Ich hielt die Luft an.
Aber er tat es nicht. Zog seine Hand zurück, grinste weiterhin, machte sich über meine Angst lustig, meinen Versuch, tapfer zu sein. Ging einen Schritt zurück und meinte immer noch lächelnd „Diesmal hast du es geschafft, du bist mir davongekommen, aber ich komme wieder. Das nächste Mal gehörst du mir“ Dann gab er ein lautes, dreckiges Lachen von sich. Das muss doch das ganze Quartier gehört haben. Er zog sich die Kapuze seines Mantels über, sein Kopf verschwand, ich sah ganz kurz zwei rote Augen aufflackern bevor alles nur noch schwarz unter der Kapuze wurde und in dem Moment, für den Brauchteil einer Sekunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, sah ich die Hölle. Ich erkannte, was sie ist.
Der Schlimmste Horrorfilm war nichts dagegen. Es war brutaler und dämonischer als alles, was ich mir jemals hätte vorstellen können. Es war das grausamste, brutalste Gefühl meines Lebens. Es ist das Nichts! Die Hölle ist nichts anderes als das absolute und allumfassende Nichts. Dann war er weg.
Hin und wieder kam mir dieses „ich komme wieder“ in den Sinn, aber es beschäftigte mich nicht grossartig. Ich hielt mich für stark und unbesiegbar. Aber das Nichts bewies Geduld, kam schleichend. Ich hab die Warnungen überhört, ich hab es gesehen, aber nicht realisiert. Wieder mal bin ich mit offenen Augen ins Messer gelaufen, bin im Schneckentempo ins Nichts gekrochen.