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Meisenpost

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Natürlich bekomme ich im Garten keine Post. Dass ein Briefkasten mit meinem Namen am Zaun hängt, hat rein romantische Gründe. Briefkästen in der heutigen Zeit haben etwas zutiefst Romantisches.

Bei der Sanierung unseres Mietshauses wurden unter anderem alle alten Briefkästen entfernt, die sich im Laufe der Jahre zu echten Individuen entwickelt hatten. Selbstgeschriebene Namensschilder, diverse Aufkleber (von „Atomkraft – Nein danke!“ über „Hier nur Liebesbriefe!“ bis „Keine Werbung – Lasst die Bäume leben!“), persönliche Nachrichten an den Postboten, verrostete oder verbogene Türen und mehrere neue Farbanstriche hatten ihnen ein unverwechselbares Flair verliehen. Es kam mich das kalte Grausen an, als ich fortan im Hausflur von den neuen, seelenlosen und einheitsbeschrifteten Edelstahlkästen empfangen wurde.

Die alten waren lieblos auf einen Schuttberg geworfen worden. Ich brachte es nicht übers Herz, meinen dort liegen zu lassen. Ihn, der über so viele Jahre Erwartung, Hoffnung, Sehnsucht, Freude und Trauer zu mir getragen und mir so viel liebe Post beschert hatte. Als ich ihn zwischen Putzbrocken und Ziegelschutt liegen sah, musste ich ihn einfach mitnehmen. Ich trug ihn in den Garten und hängte ihn an den Zaun.

Das war Anfang März.

Zum Ende des Monats begann mein Hund, sein Winterfell abzuwerfen. Diese Prozedur dauert in der Regel drei Wochen, in denen der Wind dicke weiße Hundefellflocken über Grashalme und Gänseblümchen treibt.

Eines Morgens, als ich gerade beim Kaffee saß, erblickte ich einen merkwürdigen Vogel. Er hüpfte über die Wiese, pickte etwas auf, hatte einen unförmigen weißen Kopf und im Vergleich dazu einen schmächtigen kleinen Körper mit auffallend gelbem Bauch, der an eine Kohlmeise erinnerte. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich tatsächlich um eine solche handelte. Sie stopfte sich Hundehaarbüschel um Hundehaarbüschel in den Schnabel, bis sie aussah, als wüchsen ihr rechts und links riesige Bärte aus dem Kopf. Als ich befürchtete, sie würde jeden Moment an dem Haargewirr ersticken, setzte sie zum Flug an. Neugierig verfolgte ich sie mit den Augen und staunte nicht schlecht, als sie im Schlitz meines alten Briefkastens verschwand.

Gleich setzte ich mich so, dass ich Wiese und Briefkasten bequem im Auge hatte. Und wirklich: binnen Kurzem kam sie – jetzt eindeutig eine Kohlmeise – ohne Haare wieder aus dem Schlitz heraus, flog erneut zur Wiese, legte sich zwei neue Bärte zu und verschwand wieder im Briefkasten.

Dieses Treiben dauerte drei Wochen lang, genau so lange, wie mein Hund sein reichlich fallendes Winterfell im Garten verteilte. In dieser Zeit bastelte ich ein Schild mit der Aufschrift: „Keine Post einwerfen! Brütende Meise!“ und klebte es an den Kasten, als die Meise gerade auf der Wiese zu tun hatte.

Warten, Hoffen und Wünschen, diese schwierigen Geduldsübungen, die einem Briefkasten gut anstehen, lohnten sich auch diesmal. Schon Mitte April begann die Meise zu brüten, ich konnte deutlich beobachten, wie sie fleißig von ihrem Männchen gefüttert wurde. Anfang Mai flogen dann plötzlich zwei erwachsene Meisen unermüdlich hin und her, Mutter und Vater, und stopften Samen, Insekten, Larven, Spinnen und kleine Schnecken durch den Briefschlitz. (Kluge Menschen haben ausgerechnet, dass ein Meisenpaar und seine Nachkommen in einem einzigen Sommer über fünfundzwanzig Kilogramm Insekten und Kleintiere vertilgen! Falls sie nur einmal brüten. Oft brüten sie aber im Juni ein zweites Mal.)

Drei Wochen später, an einem schönen Mai-Vormittag, war es dann soweit: Die Kinder sollten fliegen lernen. Ich wurde Zeuge, wie Mutter Meise versuchte, sie aus dem Briefkasten herauszulocken. Offenbar machte es den jungen Meisen ziemliche Mühe, von innen durch den schmalen Schlitz zu rutschen und dabei gleichzeitig die Flügelchen zum Flug auszubreiten. Die Mutter hüpfte und lockte, flog immer wieder zwischen dem Briefkasten und einem nahen Pfirsichast hin und her, und schließlich gelang es dem ersten Jungvogel, ihr zu folgen. Nach einem heroischen Schlenker landete er auf der Wiese. Nun trauten sich auch die anderen. Es waren sechs.

In den nächsten Wochen staunte ich über die unendliche Geduld der Eltern, die, obwohl nach der Anstrengung des Brütens und Fütterns sicher arg erschöpft, in einem fort Nahrung in aufgerissene Schnäbel stopften. Und das, obwohl – wie ich genau sehen konnte! – die Kleinen, die bald ebenso groß waren wie ihre Eltern, durchaus schon selbst fressen konnten! Dies taten sie allerdings nur, solange Mutter und Vater unterwegs waren, um Futter heranzuschaffen. Dann pickten sie fröhlich herum, fanden auch schon dies und das, kaum aber kamen die Eltern in Sichtweite, begannen sie herzzerreißend zu betteln, rissen die Schnäbel auf, schrien erbärmlich, zitterten mit den gespreizten Flügeln und verfolgen ihre Eltern in diesem jämmerlichen Zustand penetrant. Es wirkte. Die Altvögel waren den ganzen Tag mit Füttern beschäftigt.

Nach zwei Wochen konnte ich Eltern und Kinder nicht mehr unterscheiden und auch das Bettelgeschrei verstummte. Dafür habe ich seitdem immer freundliche kleine Gäste. Gleich morgens, wenn ich aus dem Haus trete, sind sie da. Kohlmeisen sitzen auf meinem Frühstückstisch, auf dem hochgeklappten Bildschirm meines Laptops, auf meiner Schuhspitze, wenn ich die Füße hochlege, auf der Wäscheleine in der Weinlaube oder auf dem Rand der Kaffeetasse. Sie fliegen mir um den Kopf, wenn ich eine Pause mache, ja, eine ist gar so dreist, sich während des Schreibens auf meinen Kugelschreiber zu setzen und daran herumzupicken. Auch erinnern sie mich sofort lautstark an ihr Gewohnheitsrecht, falls ich einmal vergesse, die Frühstücksbrotkrümel ins Futterhaus zu werfen. Oder schimpfen mit mir, wenn ich mich erdreiste, Erdnüsse oder Kuchen zu essen, ohne ihnen etwas davon abzugeben.

So nah kommen sie aber nur heran, wenn ich allein bin. Habe ich Besuch, beobachten sie mich und die fremden Menschen misstrauisch aus sicherer Entfernung.

Ich mag sie sehr, diese schönen Tiere. Obwohl ich für sie vermutlich lediglich zum nützlichen Inventar ihres Reviers gehöre. Genau wie der Hund. Und der Briefkasten. In dem sie hoffentlich im nächsten Jahr wieder brüten.

Wo die Seele aufblüht

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