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Die Vollständigkeit des Staunens

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Farben plötzlich. Blüten. Duft. Vogelsang. Und der Himmel: Blau. Als hätte jemand einen grauen Vorhang beiseite gezogen und goldene Scheinwerfer auf die Bühne gerichtet. Spot an! Nicht zu fassen. Gerade war doch noch alles matt und fahl. Und jetzt dieses Licht! Richtig unwirklich. Wie im Theater. Sonne auf der Haut. Wie gut das tut! Selbst meine Nachbarin treffe ich auf einer Bank beim Nichtstun an. Ein Wunder ist geschehen.

Frühling. Die Vollständigkeit des Staunens. Wie soll man ihn nur gebührend begreifen? Oder gar begrüßen? Zumal, wenn er auf diese Art ins Leben einbricht? Ohne zu fragen, ob er heute schon im Kalender steht, ob man gerade jemanden zum Verlieben hat oder Zeit, in den Garten zu gehen? Wenn er einfach auf einmal da ist, mit seiner ganzen Sonne und seinem Duft, als wäre nie Winter gewesen?

Da stehe ich und staune. Wie durch den Matsch braunen Laubes sich Blattlanzen recken. Wie die weichen Schneeglöckchen durch zentimeterdicke, harte Rhododendren- und Kirschblattschichten stoßen. Physikalisch eigentlich unmöglich. Wie die Winterlinge ihre knallgelben Kugeln herzeigen!

Mit solchen Farben ist der Winter endgültig abgewählt. Egal, wie viele Nachtfröste er noch schickt, die Kleinen haben ihn besiegt. Wunder Schneeglöckchen. Wunder Krokus. Wunder Winterling. Wie machen sie das? Gerade sie. Wenn die Königskerze, die Rose oder die riesige Malve das schaffen würden, das wäre nachvollziehbar. Oder die Dreimasterblume mit ihren kräftigen Stielen. Aber ausgerechnet diese Kleinen! Perlblumen. Blausternchen. Märzenbecher.

Perlblumen hatte ich als Kind am liebsten. Vielleicht, weil sie mich an Liebesperlen erinnerten, die ich auch sehr mochte. Wir Kinder hatten jedes unser eigenes Beet, das wir nach unseren Vorstellungen bepflanzen durften.

Meine älteste Schwester baute ausschließlich Gemüse an. Möhren, Kohlrabi, Radieschen, Zwiebeln. Alles schön in Reih und Glied, was auf einem so kleinen Beet (ungefähr vier Quadratmeter) sicher gar nicht so einfach war. Ihr Beet sah immer aus wie ein Hochglanzfoto aus einem Gartenbuch. Ich glaube, sie hatte sich für Gemüse entschieden, um uns anderen ein gutes Beispiel zu sein. Vielleicht auch, um unserer Mutter eine Freude zu machen. Natürlich verzog sie die Mohrrüben immer fachgerecht, ebenso die Radieschen, hatte vorbildliche Ergebnisse, und wenn diese abgeerntet waren, setzte sie Salat, wie es sich gehört. Und selbstverständlich aß sie die Radieschen niemals allein, sondern wusch und schnitt sie ordentlich und stellte sie dann für alle auf den Abendbrottisch, denn sie teilte gern.

Meine mittlere Schwester war eine klingende Künstlerseele und als solche von Begeisterung durchglüht. Ihr Beet war eine Katastrophe. Immer schwärmte sie von etwas Neuem, heute von Dahlien, morgen von Kohlrüben, übermorgen vom Fingerhut. Ständig stürzte sie sich auf ihr Beet und änderte alles, eine Struktur war nie erkennbar. Auch konnte sie sich nie zwischen Gemüse und Blumen entscheiden, ja, es kam sogar vor, dass sie Blumen, die kurz vor dem Aufblühen waren, wieder herausriss, weil sie just beschlossen hatte, Kartoffeln zu legen, und das zu einer Zeit, als diese eigentlich schon hätten geerntet werden müssen. Erstaunlicherweise hat sie trotzdem im Laufe der Jahre, wenn auch wenige, so doch die prächtigsten Exemplare von uns allen hervorgebracht, sowohl bei den Blumen als beim Gemüse. Heute weiß ich, dass das an der Mischkultur gelegen haben muss.

Mein Beet war ein Frühlingsbeet. Schon immer hatte ich eine so wilde Gier nach Frühling in mir, dass ich alle Blumenzwiebeln, derer ich habhaft werden konnte, sofort in mein Beet stopfte, egal, ob dort noch Platz war oder nicht. Ich ging auf Pirsch durch die Nachbargärten und fragte nach übrigen Blumenzwiebeln, mit der Lüge, die Zwiebeln meiner Mutter wären von Wühlmäusen gefressen worden und ich wolle ihr gern eine Freude machen … So zog ich mit Hosentaschen voller Märzenbecher-, Narzissen-, Scilla-, Tulpen-, Perlblumen-, Schneeglöckchen-, Krokus- und Winterlingzwiebeln heimwärts, und das alles ohne das leiseste schlechte Gewissen. Auf diese Weise heimste ich Unmengen zusammen, die ich wie Schätze vergrub. Die Wühlmäuse mögen mir meine Verleumdungen verzeihen.

In jedem Frühjahr explodierte mein Beet. Die Blumen hatten regelrecht Mühe, sich nicht gegenseitig umzubringen, so eng standen sie. Mit Beetgestaltung hatte das natürlich nicht mehr das Geringste zu tun. Ich schwamm im Frühlingszauber. Dieses irre Blühen hielt gut zehn Wochen an, katapultierte mich gründlich und vollständig aus dem Winter heraus, erfüllte mein Herz mit Glück und Seligkeit, gab mir das Gefühl, eine begnadete Meistergärtnerin zu sein und brachte mir wenigstens für kurze Zeit den blanken Neid meiner Schwestern ein. Ich sah es in ihren Augen und fühlte mich hervorragend, um nicht zu sagen vollkommen.

Dann kam der Juni. Für den Rest des Jahres welkte mein Beet vor sich hin. Aber im Sommer hatte ich ohnehin anderes zu tun. Spielen zum Beispiel. Diesbezüglicher Kritik meiner Schwestern widersetzte ich mich mit dem Argument, dass man dort, wo Zwiebeln in der Erde wären, diese nicht umgraben solle. Das hatte ich mal in einem Gartenkalender gelesen. Und im Herbst setzte meine Frühlingsvorfreude wieder so stark ein, dass ich mich sofort auf die Suche nach neuen Zwiebeln machen musste.

Gott sei Dank habe ich heute mehr als vier Quadratmeter Garten, so dass ich, auch wenn es mir schwerfällt, einige Bereiche inzwischen auch für anderes nutze als für Frühblüher.

Dennoch – sie sind mir die Liebsten. Was könnte mehr Trost verströmen als ein weißer Krokus im Schnee? Wer könnte herrlicher leuchten als die feuerrote Tulpe mit schwarzem Auge? Und wer könnte lieblicher duften als das Veilchen? Das hat zwar keine Zwiebel, aber früh blüht es auch.

Wo die Seele aufblüht

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