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Vereitelte Brautwerbung

Erste Schreibversuche

Meine intensive Lektüre einfach und verständlich geschriebener deutschsprachiger Bücher hatte zur Folge, dass mich mit sechzehn Jahren eine kaum zu bändigende Schreiblust überkam, die schon Züge einer Schreibwut trug. So begeistert und besessen war ich vom Schreiben, dass ich überhaupt nicht bemerkte, wie ungenügend mein Ausdrucksvermögen noch war, da ich nur auf einen recht geringen Wortschatz zurückgreifen konnte. Ich kaufte mir also ein dickes Oktavheft und schrieb nun mit enormem Eifer an meinem neuen „Hauptwerk“, Titel: „Mein Leben mit dem Känguru, 1950/51 verfasst“, dessen erstes Kapitel mit dem Satz begann: „Ich war ein fröhliches, gehörloses Landmädchen von 11 Jahren …“

Mein Oktavheft schrieb ich fast voll. Doch alle, die es lasen, – meine Eltern, Tante, die Pfadis und Freundinnen –, wussten mir kaum etwas darauf zu sagen, ausser sich darüber lustig zu machen. Als ich mir einige Jahre später des vermeintlichen Blödsinns bewusst wurde, den ich da zu Papier gebracht hatte, liess ich das Heft irgendwo verschwinden, so dass es beinahe in Vergessenheit geriet. Doch kürzlich fand ich es beim Umräumen meiner Bibliothek zufällig wieder und getraute mich kaum, darin zu blättern, da es ein Gefühl der Peinlichkeit in mir hervorrief. Ich konnte es einfach nicht fassen, wie ich meine Erlebnisse und Empfindungen im elterlichen Hause, in der Schule, bei den Pfadfinderinnen, Erfahrungen mit der jüdischen Religion sowie Träume und Beobachtungen im Zoo, verwoben mit vielen versponnenen Känguru-Sprüchen, hier niedergeschrieben hatte. Die „Diagnose“ war klar: Hier war jemand, den das „Kängurufieber“ vorübergehend kräftig er-wischt haben musste!

Kampf gegen den seelischen Druck

Auf einem Familienspaziergang fragte mich Papa in aufgekratzter Stimmung, wie lange meine „Känguruliebe“ denn noch dauern solle. Ein wenig argwöhnisch gab ich die Frage zurück. Worauf er mir ausführlich erklärte, dass nach chinesischem Glauben eine solch unveränderliche Beziehung über den Tod hinaus bis in die Ewigkeit fortdauern müsse. Ich fühlte, dass er Recht hatte.

Bis heute gehen mir Bilder von Kängurus nach, bei Tag und bei Nacht. Wandere ich durch die Natur, bin ich als Künstlerin so in meine Vorstellungswelten versunken, dass mich nicht selten die Lust überkommt, meiner Phantasie in der Art eines Marc Chagall freien Lauf zu lassen; Kängurus und Esel im Himmel, Löwen in einem schneebedeckten Garten und viele andere freie Gestaltungen tauchen dann vor meinem inneren Auge auf. Atme ich Wald- oder Wiesendüfte ein, vor allem in Verbindung mit fuchsrotem Herbstlaub, steigt mir noch heute plötzlich der Geruch von Kängurus in die Nase, was bewirkt, dass ein wundersam elektrisierendes Gefühl meinen Körper durchströmt. Wie ich herausgefunden habe, entsteht dieser eigentümliche Effekt wesentlich durch ein Duftgemisch von frischem Laub und Humus.

Stets war meine seelische Not gross, wenn meine Eltern oder manche meiner Freunde mich bedrängten, um meine innigen Gefühle für die Kängurus zu stören oder in eine andere Richtung zu lenken. Wie hätte ich ein Leben ohne diese Tiere ertragen können?! Die Beseitigung dieser Gefühle gliche der Entnahme eines wichtigen Elements, ohne das ich meine innere Balance verlöre. Und so geriet ich immer wieder in heftige psychische Turbulenzen, je nachdem, ob die Mitmenschen meiner Beziehung zu den Kängurus Verständnis oder Abneigung entgegenbrachten.

Um mich von allzu grossem seelischem Druck zu befreien, bedurfte es einer Stärkung meines Selbstwertgefühls. Und so sprach ich immer wieder, allen äusseren Hindernissen zum Trotz, ganz bewusst über meine Bedürfnisse und das, was mich bewegte. Am Entspanntesten ging es dann zu, wenn ich mit Mama allein diskutierte, was ich am allerliebsten vor dem Einschlafen tat. Manchmal jedoch verliefen auch diese Gespräche unbefriedigend. So versuchte mir meine Mama eines Abends einzureden, meine Freundinnen, darunter auch Gehörlose, bewiesen ihren Familien gegenüber mehr Pflichtgefühl und nähmen an deren Sorgen und Nöten grösseren Anteil als ich. Dann ergänzte sie lächelnd, für sie sei das Känguru nur mein Spielzeug! „Ich bin nicht weniger gewissenhaft als andere!“ rief ich wütend. – ,Schrei‘ doch nicht so…!“ Erschrocken fuhr meine Mama zurück. Mit Tränen in den Augen starrte ich sie einen Moment lang an. Dann sprach ich weiter, bis mir plötzlich etwas durch den Kopf schoss und ich sie bekümmert fragte, ob ich denn gegenüber Gleichaltrigen in meiner Entwicklung arg im Rückstand sei. „Nein, du bist sicher schon vorangekommen. Aber auf der anderen Seite bist Du noch immer ein grosser Kindskopf.“ Diese letzten Worte kränkten mich, denn ich fühlte mich im Grunde nicht ernst genommen.

Ein andermal diskutierte ich mit meiner Mama über berühmte Zeitgenossen und fragte sie, ob ich denn nicht mit Kängurus auch einmal berühmt werden könne. Sie verdrehte die Augen und meinte, das sei unmöglich, denn diese Tiere seien nur langweilig. Wohl aber könnte ich mir einen Namen machen, wenn ich behinderten Menschen hülfe, so dass viele Leute über mich redeten. Aber mit Kängurus – nein! – das werde nicht gehen! Dennoch blieb ich fest bei meinen Wünschen, unter denen einer sich immer mehr verfestigte. Wochen danach sprach ich mit Mama über meine Absicht Schriftstellerin zu werden, und dass ich bereit sei, neben der Ausübung meines erlernten Berufes jede freie Minute fürs Schreiben zu opfern. Mein Thema wären – natürlich – Kängurus! Erstaunt und liebevoll lächelnd äusserte Mama, ich sei genau wie Anne Frank, die ja auch vom Weltruhm träumte. Das ermutigte mich.

Zu meinen Vertrauenspersonen für besondere Aussprachen zählten Tante und einige verbliebene Freundinnen. Doch mir war bewusst, dass ich noch mehr Menschen benötigte, die meine Beziehung zu den Kängurus ernsthaft und für lange Zeit mit mir teilen konnten, und ich gewann eine hörende Freundin, Brigitte, die ich beim Skulpturenzeichnen in der Berufsschule kennen gelernt hatte. Mit ihr kann ich auch heute noch von Kängurus und Australien schwärmen. Sie arbeitete gut ein Jahr lang im Basler Zoo bei den Vögeln, bildete sich dann zur Musiklehrerin aus und gab später als Geigerin auch verschiedentlich Konzerte. Aufgrund einiger Karikaturen Geige spielender Kängurus, auf die ich in den Zeitungen stiess, nannte ich sie „Wallaby“ (eine kleinere Känguruart), womit ich eine treue und schalkhafte „Gesellin“ meinte.

Ein „Befreier“ tritt auf den Plan

Während einer Autofahrt teilte mir Mama eine interessante Neuigkeit mit. Mein Onkel in Tel Aviv hatte zufälligerweise die Bekanntschaft eines gewissen Simon gemacht, eines jungen Mannes, der gleichfalls gehörlos war. Als ein vom Militär geschätzter Mechaniker hatte er sich auf die Konstruktion und den Bau von Maschinengewehren spezialisiert. Mein Onkel hatte ihn gebeten, brieflichen Kontakt mit mir aufzunehmen.

Nachhause zurückgekehrt, sah ich, dass ein Kuvert von Simon mich bereits auf dem Korridortisch erwartete. Ohne sonderliche Freude öffnete ich es und las: „…ich weiss nicht, wie Du bist, aber schreib alles von Deinem Herzen, wenn Du grosse Lust hast. Ich bin ein Mann von 26 Jahren mit Humor und Lebensfreude…“

Ich war ein junges Mädchen von gerade einmal 16 Jahren, und die Gefühle, die mich nun überkamen, widersprachen einander auf heftige Weise. Die dominierende Empfindung aber war, dass ich mich auf einen neuen Lebensabschnitt fern der Kängurus vorbereiten müsse.

Ich korrespondierte nun regelmässig mit Simon, schickte ihm Lebensmittelpakete (damals waren Esswaren in Israel knapp und teuer) und erfüllte seine Wünsche nach Veloersatzteilen. All dies tat ich folgsam, ohne dass ich ein Aufflammen von Verliebtheit an mir bemerken konnte. Ich fühlte deutlich, dass er mit meinen Interessen nichts gemein hatte. Auch ein Foto, das er mir schickte, konnte meine Sympathie nicht übermässig wecken. Umgekehrt schienen meine Fotos auf ihn anziehend zu wirken, und er nannte mich hübsch. Mitunter wurde ich von Mama gedrängt, Simon statt über Kängurus mehr von Dingen des Alltagslebens zu berichten, mit denen er etwas anfangen könne. Fast keiner meiner Briefe ging auf die Post, ohne dass Mama ihn durchgelesen hatte. Alles wurde kontrolliert, nicht nur um des korrekten sprachlichen Ausdrucks willen, sondern in erster Linie wegen der Ansichten, die ich vertrat und die Simon nicht verstehen oder nur als lächerlich hätte empfinden können. Durch diese ,Zensurmassnahmen‘ fühlte ich mich extrem eingeschränkt und in das Arrangement einer ungewollten persönlichen Beziehung gedrängt.

Gut vier Jahre später, ich war noch nicht 20, hatte mein Ringen um Unabhängigkeit und Eigenständigkeit im Denken und Handeln die Form eines regelrechten Kampfes angenommen. Oft geriet ich mit Mama so in Streit, dass ich mitunter sogar Angst vor mir selber bekam. Einmal, ich fühlte mich vorübergehend von einer gewissen Zuneigung für Simon erwärmt, fragte ich Mama, wie es denn praktisch zu einer Heirat kommen könne. Sie erwiderte, dass er mich fragen werde, ob ich seine Frau werden wolle. Mir wurde angst und bange bei dem Gedanken, was Mama alles unternehmen könnte, um für mich die Gründung einer eigenen Familie anzubahnen. Alles, was ich wollte, war, dass dies meine eigene Angelegenheit blieb. Keinesfalls wollte ich mich durch die Einmischung Anderer in eine unglückliche Ehe drängen lassen. Obwohl ich manchmal ein starkes Verlangen nach traulicher Gemeinsamkeit verspürte, war es für mich jedoch Voraussetzung, dass sich jemand für ein harmonisches Eheleben fand und die künftige Verbindung auf Anteilnahme und gegenseitigem Respekt beruhte.

Andererseits gewann ich durch Simons Berichte aus Israel eine plastische Vorstellung vom „Gelobten Land“, das ich sehr liebte. Das, was er über den Eroberungskrieg von 1948 schrieb, ging mir sehr zu Herzen.

Zwischendurch befreundete ich mich in der Berufsschule mit einem hörenden Grafikschüler aus Ungarn. In den Schulpausen trafen wir uns häufig, wobei ich mich immer sehr freute, wenn ich von ihm zuerst begrüsst wurde. Ich musste mich zurückhalten, um meine Gefühle für ihn nicht zu deutlich zu zeigen. Unsere Kommunikation vollzog sich mündlich in beiderseitigem Verstehen, betraf vor allem unser Schulleben und war gewürzt mit Spässen. Er sprach auch über seine Interessen und das Schicksal seines politisch unterdrückten Heimatlandes. Daran nahm ich voll und ganz Anteil und lernte viel Neues. Seine Sympathie für meine Beziehung zu den Kängurus war für mich nicht so wichtig wie die Harmonie zwischen uns, die ich beseligend in mir verspürte.

Daheim erzählte ich von dieser schönen Begegnung, erntete jedoch nicht mehr als ein Schmunzeln. Meine Eltern waren nämlich der Ansicht, eine Gehörlose solle keinen Hörenden heiraten. Zudem sei eine interkonfessionelle Ehe zwischen Juden und Christen nicht ohne Probleme. Nach meinem Abschluss in der Berufschule verlor ich den Ungar aus den Augen, und Mama wurde mir gegenüber nicht müde zu betonen, Simon werde schon gut zu mir sein.

Vier Jahre später. Die Beziehung zwischen Simon und mir schlug erste kleine Funken. Zunehmend unabhängiger und fast befreit von der mütterlichen Kontrolle schrieb ich ihm von meinen Plänen, mich künftig in Israel niederzulassen. Zuerst jedoch wollte ich ein halbes Jahr in einer sozialen Heimstätte in England arbeiten, um meine Englischkenntnisse zu vervollständigen. Ich schrieb, dass ich natürlich neugierig auf die erste Begegnung mit ihm sei, worauf er zurück schrieb, ich solle zuerst zu ihm nach Israel kommen, denn auch er sei neugierig auf mich! Darauf sandte ich ihm die Nachricht, dass ich zunächst auf eine Haushaltsschule in die Ostschweiz ginge, um mit den erworbenen Fertigkeiten auch in einem Kibbuz künftig einsatzbereit zu sein. In diesem Brief erwähnte ich auch die Kängurus etwas ausführlicher, in der Hoffnung, Simon werde sich ein wenig bewegen, um mir auf dieser Ebene entgegenzukommen.

In der Haushaltschule, in der ich als einzige Gehörlose sechs Sommermonate verbrachte, erreichte mich eines Morgens ein Brief Simons, den Mama mir nachgeschickt hatte. Rasch öffnete ich das Kuvert und las: „…Du hast eine Krankheit, es ist eine Sucht nach Kängurus, sie heisst… (hier folgte eine von Simon erfundene medizinische Verballhornung, an die ich mich nicht mehr erinnere.) Versuche langsam davon wegzukommen, um geheilt in der Zukunft mit mir zusammen leben zu können. Ich will dir das Beste wünschen…“

Alles begann sich zu drehen, mir wurde schwindlig. Rasch steckte ich den Brief unter mein Kissen. Den anderen gegenüber hatte ich grosse Mühe, meine Niedergeschlagenheit zu unterdrücken und zu verbergen. Die Worte Simons hatten mich so tief verletzt wie nichts in meinem ganzen Leben bis dato. Doch war ich zugleich erleichtert, jetzt nicht zu Hause zu sein, denn mich plagte die Angst vor eventuellen Umstimmungsversuchen seitens meiner Eltern.

Am folgenden Tag schrieb ich ausführlich darüber an Tante, meiner einzigen Vertrauensperson in persönlichen und intimen Dingen, die mich daraufhin beruhigte, dass ich mir unter diesen Umständen keine Sorgen wegen irgendwelcher Heiratspläne machen müsse. Ausserdem sei ein lediger Mensch frei und könne glücklicher leben. (Sie selber war nicht verheiratet.) Das beruhigte mich ein wenig, doch blieb meine Furcht, von den Eltern nach Simon befragt zu werden.

Von mir und meinen Kängurus wusste schon sehr bald jede Schülerin, sogar die Schulleitung und die Lehrkräfte. Sie freuten sich mit mir darüber. Einmal in der Woche durfte eine Schülerin einen Vortrag zu ihrer eigenen Person halten. Als ich in der Lage war, mit fast allen lautsprachlich gut zu kommunizieren, kam auch ich an die Reihe. Voller Begeisterung erzählte ich von meinen Erlebnissen mit den Kängurus im Basler Zoo, worauf mir alle applaudierten! Ich konnte mein Glück kaum fassen, zählte es für mich doch zum Allerschönsten, zum ersten Mal meine starken Empfindungen offenbaren zu dürfen.

Auf Kurzurlaub fuhr ich allein mit Bus und Zug nach Hause. Am Basler Bahnhof gab es einen herzlichen Empfang durch meine Eltern. Meine Ängste bezüglich Simons waren wie weggeblasen. Daheim aber, beim Vieruhr-Tee, sass ich plötzlich wie versteinert am Tisch: Ein Brief von Simon lag auf meinem Teller! Wortlos blickte ich zu Mama, die mir zulächelte und fragte, was zwischen mir und Simon sei. Ich brauchte eine gehörige Portion Überwindung um ihr zu beichten, schon etliche Monate nicht mehr an ihn geschrieben zu haben. Bedächtig öffnete ich den Brief und las die spitzen Worte:

„Liebe Doris,… ich glaube, Du bist jetzt gesünder und ganz geheilt von Deinen krankhaften Gefühlen… Hast Du inzwischen Pläne für Israel und unser erstes Treffen gemacht? … Schreib mir bitte bald wieder…“

Mit einem bedrückten Lächeln, aber gefasst gab ich Mama den Brief zu lesen. Um vom Thema abzulenken, bat ich sie darauf, mein Gesicht anzuschauen und zu prüfen, ob es von den Windpocken, die ich vor nicht allzu langer Zeit gehabt hatte, inzwischen geheilt sei. Sie untersuchte es genau und antwortete schmunzelnd, nun sei es wieder schön und die wenigen Pickel kämen sicher von zuviel Käse oder Nüssen. Sofort begann ich mit meinen Erzählungen auf sie einzustürmen, ohne sie zu Wort kommen zu lassen. Atemlos berichtete ich von Erlebnissen auf der Haushaltsschule, davon, wie man Kuchen und Brot backt, wie man Hafer röstet… und natürlich von meinem ersten „Känguruvortrag!“ Gebannt und begeistert hörten meine Eltern zu. Und ohne mich auch nur eine Sekunde zu unterbrechen, teilte ich ihnen zuletzt mit, dass ich mich entschieden hätte, nicht nach Israel auszuwandern! Durch das rasante Erzählen hatte sich in mir so viel Mut angesammelt, dass mir die Bekanntmachung dieses Entschlusses relativ leicht über die Lippen ging.

Glückliche Fügung

Zu meiner Verblüffung wirkte sich mein Entschluss nicht negativ auf die Stimmung daheim aus. Ich hatte Vorwürfe erwartet, doch meine Eltern teilten meine Meinung, nicht zuletzt – das spürte ich sofort – weil sie glücklich waren, mich weiterhin bei sich zu wissen. Insbesondere mein Papa war über diese Wendung der Ereignisse offenbar so beglückt, dass er sich zu allerlei albernen Spässen hinreissen liess.

Während der Zubereitung des Abendessens erzählte ich die ganze Geschichte vom Bruch zwischen Simon und mir. Und wir lachten und amüsierten uns gemeinsam über seine merkwürdigen Ansichten. So wurde mir eine gewaltige Last von den Schultern genommen, und ich fühlte mich befreit. Mama riet mir, ihm in aller Ruhe zu schreiben, was ich auch tat. Eine Antwort bekam ich allerdings nie. Beglückt reiste ich für den letzten Monat zurück in die Schule.

Ich war gerade dabei, Berge von Geschirr zu spülen, als ich auf einmal ein Rasseln spürte. Erschrocken schaute ich auf und sah eine Schar Schülerinnen fröhlich auf mich zustürzen. Sie umringten mich und teilten mir mit, dass die neue Haushaltslehrerin soeben angekommen sei. Sie sei Schweizerin und habe viele Jahre in Australien gelebt. Australien!! – Als dieses Wort auftauchte, war ich so aus dem Häuschen, dass ich die Teller beinah hätte fallen lassen! Die Begegnung mit unserer neuen Lehrerin konnte ich kaum erwarten. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich jemanden sehen, der in Australien gewesen war. Dank dieser Lehrerin, die ich fortan mit meinen Fragen „ausquetschte“ wie eine Zitrone, rückte der heiss ersehnte Kontinent langsam näher. Ich fing sogar an, mit ihr Reisepläne für eine noch ferne Zukunft zu schmieden! Da machte es mir nichts aus, wenn sie mich wegen manch vernachlässigter Hausarbeit tadelte. Schwer hingegen fiel mir die Vorstellung, sie schon so bald verlassen zu müssen, denn der Sommerkurs neigte sich dem Ende zu. Zum Abschied schenkte sie mir einige australische Münzen mit aufgeprägten Kängurus. Mama liess eine von ihnen vergolden und überraschte mich damit zu meinem 21. Geburtstag.

Im Herbst 1954 trat ich als Handweberin in mein erstes Arbeitsverhältnis ein. In der Basler Altstadt, beim berühmten Spalentor, gab es einen kleinen Betrieb für Handwebereien in einem hübschen, dreistöckigen Haus aus dem 18.Jahrhundert. Mit Lotti, der Leiterin, stand ich bereits seit Jahren in einem freundschaftlichen Verhältnis. Mit ihr konnte ich perfekt kommunizieren. Den ganzen Tag webte, zettelte, spannte oder spulte ich nun frohen Mutes. Es machte mir auch Spass, vorbeikommende Freunde und Bekannte im Laden selber zu bedienen oder die Schaufenster zu dekorieren. Die Kaffeepausen waren am anregendsten, wenn ich mit Lotti oder den anderen Mitarbeiterinnen plaudern und gelegentlich von „meinen“ Kängurus erzählen durfte.

Während der Webarbeit am grossen Webstuhl schaute ich einmal vom Fenster des zweiten Stockwerkes hinunter auf den winzigen Innenhof. Da glitt die Spule mit Webgarn aus meiner Hand und fiel hinab. Ich rannte hinunter und holte sie wieder herauf. Kurz darauf kehrte dies Ereignis als Traum zurück. Mit einer gewissen Bangigkeit teilte ich ihn Mama mit:

„Gerade als ich im Laden am Verkaufen bin, erscheint Simon, der mich mit Vorwürfen überschüttet, mir die Goldkette mit der Kängurumünze abreisst und mich auffordert, mit ihm wegzuziehen. Hilflos flüchte ich die Treppen zum obersten Stockwerk hinauf und stürze mich aus dem Fenster in den Innenhof, um durch den Tod einer unglücklichen Zukunft zu entrinnen. Unten aufgeschlagen, verspüre ich keinerlei Schmerzen und bin offenbar unversehrt. Ich stehe auf und sehe, dass die Tür nicht mehr vorhanden ist. Vergeblich suche ich den Ausgang, bis ich eine winzige Lücke finde und hindurch schlüpfe. Sofort eile ich hinaus in die weiten, herrlich grünen Fluren…“

Mama fand die ermutigende Deutung, dass mir dieser Traum die Lücke zum Entkommen gezeigt und mir damit den richtigen Weg hinaus in ein freies und glückliches Leben gewiesen habe.

Känguruherz

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