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Der Zen-Weg

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Ein Mönch fragte Meister Kempo in allem Ernst: „In einem Sutra heißt es: ‚Die Bhagavats der zehn Richtungen – ein Weg zum Tor des Nirvana‘. Ich möchte gern wissen: Wo ist dieser Weg?“ Kempo hob seinen Stab, zog eine Linie und sagte: „Hier ist der Weg“ (Mumonkan 48).

Der Mönch war irritiert: „Zehn Richtungen, zehn Wege? Welchen Weg soll ich denn jetzt gehen. Ich möchte gern wissen: Wo ist dieser Weg?“ – Hier, dieser Augenblick, diese Bewegung. Selbst dein Suchen ist es. Der Weg ist nicht nur dort, wo Kempo die Linie zog, sondern überall in allen zehn Richtungen. Es ist der nächste Schritt, gleichgültig in welche Richtung. Immer wieder werden im Zen-Sesshin die „Vier Großen Gelübde“ rezitiert. Darin heißt es: „Die Dharma-Tore sind unzählbar, ich werde sie alle durchschreiten.“ Unzählbare Dharma-Tore? Alle soll ich durchschreiten? Damit werde ich doch nie fertig! – Wo ist das nächste Dharma-Tor? Wenn wir aufstehen, ist es da. Wenn wir uns setzen, ist es da. Wenn wir essen, ist es da. Ganz gleich, wie lange wir danach suchen oder wo immer wir suchen, niemals werdet ihr ein Etwas finden, das nicht der Weg genannt werden könnte. Aber es ist ein weg-loser Weg! Er ist in jedem Moment die Manifestation einer hintergründigen Potenz, die alles Rationale übersteigt. Die Quelle, die in uns ständig sprudelt.

Zen führt in unsere wahre Identität. Was wir für unser Ich halten, ist nur die Summe psychischer Aktivitäten, die uns eine Person vorspiegelt. Es hat keine Permanenz. Unsere wahre Identität liegt tiefer. Wir Menschen sind ein offenes System, aber wir tendieren zum Festhalten. Wir möchten alles Schmerzhafte umgehen, aber oft ist es das Scheitern, das uns das Neue bringt. Daher gehört Leid zum evolutionären Prozess. Leibniz meint, diese Welt sei die beste Welt, die möglich ist. Man kann dem widersprechen. Aber in diesem System, in das unsere Welt sich hineinentwickelt hat, gibt es keine andere Möglichkeit. Diese Welt ist auf Polarität angelegt. Hell und dunkel, plus – minus. Erziehung, Religion, Schule haben uns ganz bestimmte Meinungen vermittelt, die aufeinanderprallen. Dahinter steht eine Unreife, unter der der Mensch leidet. In Wirklichkeit vollzieht sich dieses Eine, dem wir viele Namen gegeben haben, das aber kein Name wirklich treffen kann.

Es ist die Quelle, die es in uns zu finden gilt. Nur aus diesem Grunde sollten wir einen Lehrer oder Meister aufsuchen. Der Mensch ist geneigt, sein Heil von einem anderen, einer anderen zu erwarten. Der wirkliche Meister führt uns an die eigene Quelle. Die Menschen aber vertrauen lieber auf einen anderen. Vielleicht ist da doch noch jemand, der es für mich macht. So verehrt man Buddha und Jesus lieber und hängt sich an ihre Rockzipfel, statt dass man ihrem Weg folgt, um ihre Erfahrung zu machen. Wir finden alles in unserer eigenen Tiefe. Ein spiritueller Lehrer, der dem Schüler nicht den Weg zu sich selbst weist, ist ein Scharlatan.

Da ist das Koan vom weißen Hasen. Der Meister ging mit seinem Schüler spazieren. Ein weißer Hase huschte über den Weg. „Wie flink!“, sagte der Schüler. „Wie ist das“, fragte der Meister. „Als wenn ein Durchschnittsbürger zum Premierminister ernannt wird“, gab der Schüler zur Antwort. „Du redest immer noch so dumm daher, obwohl du alt und bedeutend bist“, sagte der Meister. „Was würdest du sagen?“, fragte der Schüler. „Der Prinz eines großen alten Geschlechts steigt für eine gewisse Zeit die gesellschaftliche Stufenleiter herab“, antwortete der Meister (Shoyo-Roku 56).

Das Koan zeigt deutlich, dass man auf dem Zen-Weg nicht etwas wird oder erreicht, wenn man sich anstrengt. Man kann nichts werden, sondern nur einbrechen in die zeitlose Wirklichkeit, die als dieser Mensch lebt. Nur dieses Eine kann Ich sagen. Dieses Eine kennt weder Geburt noch Tod. Diese personale Struktur ist wie eine Welle, einmalig, unverwechselbar, voller Bedeutung. Aber was ist sie wirklich? Ozean!

Wir gleichen aus Gold geprägten Münzen, einmalig in ihrer Bedeutung und unverwechselbar. Aber in Wirklichkeit sind wir Gold. Wer sich als Gold erfährt, für den hat das Dasein als Münze eine ganz andere Bedeutung. Er weiß, dass er das Gold in dieser Gestalt repräsentiert. Wir sind Dünen aus Wüstensand. Nicht die Düne wandert, sondern der Sand. Wer sich als Sand erfährt, hat keine Angst, dass die Düne wandert. Die Düne vergeht, der Sand zieht weiter. Wirklichkeit ist immer voll und zeitlos da. Wir können nur unsere Empfänglichkeitsanlage erweitern. Genau das vermittelt uns Zen. Was wir zutiefst sind, ist ungeboren und kann daher auch nicht sterben.

Was ist der Weg? Jôshû fragte Nansen in allem Ernst: „Was ist der WEG?“ Nansen antwortete: „Der alltägliche Geist ist der Weg.“ Jôshû fragte: „Soll ich mich selbst darauf ausrichten oder nicht?“ Nansen sagte: „Wenn du versuchst, dich ihm zuzuwenden, wendest du dich von ihm ab.“ Jôshû fragte: „Wenn ich nicht versuche, mich ihm zuzuwenden, wie kann ich wissen, dass es der WEG ist?“ Nansen antwortete: „Der WEG hat nichts zu tun mit Wissen oder Nichtwissen. Wissen ist Illusion. Nichtwissen ist ohne Bewusstsein. Wenn du den zweifelsfreien, wahren WEG wirklich erreicht hast, wirst du ihn erfahren als grenzenlos und leer wie den Weltraum. Wie kann man darüber sprechen auf einer Ebene von Richtig oder Falsch?“ Bei diesen Worten war Jôshû plötzlich erleuchtet (Mumonkan 19). Zen führt ins ganz konkrete Leben. Der Marktplatz ist das Ziel. Als dieser Augenblick vollzieht sich die Wirklichkeit und zeigt sich als das Wesen des Zen. Der Vers verdeutlicht das noch einmal:

„Die Blumen im Frühling – der Mond im Herbst.

Im Sommer die kühle Brise – im Winter der Schnee!

Wenn unnütze Sachen den Geist nicht vernebeln,

ist dies des Menschen glücklichste Jahreszeit.“

Es gibt nur diesen Augenblick. Jede mögliche Form ist Ausdruck dieses Einen. Wir werden von Kindheit an getäuscht. Wir sagen: Ich bin geboren. Eigentlich müssten wir sagen: Es ist als ich geboren.

Mitgefühl und Liebe. Aus einer solchen Erfahrung kommt das Mitgefühl, die Liebe zu allen Wesen. Es ist keine Liebe mehr zu einem Du. Es ist die Liebe, die aus dieser existenziellen Verbundenheit kommt. Die zwar die schlechte Tat verurteilt, aber den Täter, den Mörder und Betrüger aus der allumfassenden Liebe nicht ausschließen kann. Zen hat zwei Säulen, die in Wirklichkeit eins sind: Erkenntnis und Mitgefühl. Im Westen sind uns die Worte „Weisheit und Liebe“ geläufiger. Es gibt keine wirkliche Liebe ohne diese Erfahrung der Einheit und kein wirkliches Kensho ohne Liebe. Sie können nur zusammen auftreten. Manche wundern sich, weil ich immer wieder auch die Erfahrungen der anderen Religionen zitiere. Diese Erfahrungsebene übersteigt die Konfession und führt in den einen strukturlosen Urgrund, aus dem alles kommt.

Rumi drückt diese Ebene wie folgt aus: „Der Selbstlose (wer sich selbst vergessen hat) ist ein Spiegel geworden: Nichts ist mehr da als das Spiegelbild des Gesichtes eines anderen. Wenn du darauf spuckst, so spuckst du in dein Gesicht; und wenn du den Spiegel schlägst, schlägst du dich selbst; und wenn du ein hässliches Gesicht im Spiegel siehst, bist es du; und wenn du Jesus und Maria siehst, bist es du.“ Wir werden lebensuntüchtig werden, wenn wir unseren Egozentrismus und unsere Spezialisierung weiter auf die Spitze treiben. Eingebettet ins Ganze ist unser Intellekt eine wichtige Stufe in der Entwicklung der Spezies Mensch. Isoliert ist er nicht mehr als eine sich vermehrende Krebszelle, die den ganzen Organismus ruiniert.

Der Weg des Zen nach Osten und Westen? Bodhidharma, der 28. Patriarch, soll das Zen nach China gebracht haben. Buddhismus als Religion war bereits dort angekommen. Er stieß mit seiner Zen-Lehre bei Buddhisten, auf Widerstand. Zweimal wollte man ihn der Legende nach ermorden. Bis heute tun sich alle Konfessionen schwer mit dieser Erfahrungsebene jenseits ihrer dogmatischen Lehrgebäude. Es kam daher immer wieder zu Verfolgungen. Margarete Porete und Giordano Bruno mussten auf den Scheiterhaufen. Meister Eckhart wurde verurteilt und selbst Teresa von Avila hatte in der Kirche ihre Gegner. Zen ging es nicht besser. Der Sufi Haladsch wurde umgebracht. Und auch im Zen gab es immer wieder Zeiten, wo sich die Meister verbergen mussten, um nicht getötet zu werden. Lange Zeit musste man Mönch werden, um den Zen-Weg zu gehen. Laien hatten es schwer, wie Vimalakirti zeigt.

Der Laie Vimalakirti versuchte, das den Zen-Mönchen seiner Zeit zu verdeutlichen. Er verkörpert die Gestalt des Mitgefühls und der Liebe zu allen Wesen. Im Kapitel des Vimalakirti-Sutra steht ein Text, den man mit dem „Hohen Lied der Liebe“ gleichsetzen kann. Viele meinen, dass Zen eine eiskalte, harte und individualistische Lebenshaltung hervorbringe. Der Begriff der Leerheit lasse keine Liebe zu. Vimalakirti erklärt Manjusri in diesem Sutra: „So wie ich den Dharma in mir verwirklicht habe, so möchte ich ihn auch allen Wesen lehren. Damit erzeugt er Liebe, die wahrlich eine Zuflucht für alle Lebewesen ist; eine Liebe, die frei ist vom Besitzergreifen; Liebe, die nicht fieberhaft ist, weil sie frei von unreinen Motivationen ist; Liebe, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt, weil sie in allen drei Zeiten gleichbleibend ist; Liebe, die konfliktfrei ist, denn sie ist frei von Gewalt, die mit Leidenschaften verbunden ist; Liebe, die in sich nichtzwei ist … Liebe, die keine Bestätigung sucht, denn sie hat Gier und Abneigung überwunden … Liebe die Tatkraft ist, denn sie übernimmt Verantwortung für alle lebenden Wesen … Liebe, die ohne Selbstruhm ist, denn sie ist in der Motivation rein. … So, Manjusri, ist die große Liebe eines Bodhisattva.“1

Vimalakirti war der Legende nach Laie, verheiratet und mit Kindern stand er einem großen Haushalt vor. Er zeigt, dass man inmitten der Welt und im politischen Alltag frei von Begierde, Hass und Ärger bleiben kann. Ob Vimalakirti eine historische Persönlichkeit war, ist nicht nachweisbar. Er soll in der Stadt Vaisali gelebt haben, in der auch das so genannte Zweite buddhistische Konzil stattgefunden hat. Dort ging es um die Interpretation der Mönchsregel. Die Differenzen auf dem Konzil führten wenig später zum Bruch der Schulen. Eine Schule wandte sich gegen eine ausschließlich monastische Interpretation. Diese legte die Regeln so weit aus, dass sie auch für Laien, sogar für Frauen gelten konnten.2 Vimalakirti erkannte, dass der Zen-Weg ein Lebensweg für alle Menschen ist. Er wies die Arroganz der Mönche zurück und ermutigte die Laien, sich auf den Bodhisattva-Pfad zu machen. Wir stehen heute wieder vor einer solchen Entscheidung. Zen ist für alle Menschen da, nicht zuletzt gerade für die, deren Leben harter Alltag ist.

Vimalakirti ermahnte einmal Sariputra, in der rechten Weise zu meditieren. Dieser hatte sich unter einem Baum im Wald zur Meditation niedergelassen. Seine Kritik: „Ehrwürdiger Sariputra, so begibt man sich nicht in Versenkung. Du solltest dich so in Versenkung vertiefen, dass du als ganz gewöhnlicher Mensch erscheinen kannst, ohne jedoch dabei deine Bewusstseinsruhe zu verlieren. Man soll so Zazen üben, dass weder die spirituellen Errungenschaften noch die ganz normalen weltlichen Merkmale verschwinden. Du solltest dich so in Versenkung vertiefen, dass das Bewusstsein weder innen ruht noch nach draußen zu den äußerlichen Formen wandert. … Du solltest dich so in Versenkung vertiefen, dass du vollkommen befreit wirst, ohne dass die Leidenschaften, die diese Welt beherrschen, aufgegeben würden.“3 Zen führt in den Alltag mit all seinen Belastungen und Problemen. Manchmal frage ich mich, was aus dem Zen wohl geworden wäre, wenn Shakyamuni nach seiner Erleuchtung in sein Königreich zurückgekehrt wäre, um seine Erfahrung als König und Herrscher umzusetzen. Das 21. Jahrhundert führt alle, die Zen praktizieren, auf jeden Fall zurück in den Alltag.

Mara oder das Böse. Das Sutra Shin-jin-mei lehrt die Einheit hinter allen Gegensätzen: heilig und profan, gut und böse, Entsagung und das konkrete Leben. Selbst Mara, die Personifikation des Übels, wird als Bodhisattva anerkannt. Auch das, was wir das Böse nennen, lässt sich nicht trennen von der Wesensnatur. Je mehr wir aber unser wahres Wesen erfahren, um so sicherer werden wir unser Leben daraus gestalten und manches, was Mara verkörpert, ablegen

1Michael von Brück: Weisheit der Leere. Wichtige Sutra-Texte des Mahayana-Buddhismus, München 2000, S. 257

2ebd., S. 244

3ebd., S. 249

Zen im 21. Jahrhundert

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