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1.2 Sozialschutz als Grundrecht

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Als individuelle Grundrechte gelten in einem modernen Staat zunächst die Bürgerrechte, die dem Einzelnen die Freiheit seiner Handlungen und seines Privatlebens einschließlich des Eigentumsschutzes garantieren. Davon unterschieden werden die sozialen Grundrechte (z. B. Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Bildung und auf Gesundheit), die oft als zweite Dimension der Menschenrechte bezeichnet werden.

Die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte ist eng verbunden mit dem Übergang vom Feudalismus zur kapitalistischen Warengesellschaft im 18. Jahrhundert. Diese grundlegende ökonomische Umgestaltung wäre ohne die garantierten Freiheitsrechte des Einzelnen nicht denkbar gewesen. Erst der Schutz des Eigentums, die Kapitalbildung, das Recht auf Freizügigkeit, die Mobilität des Unternehmers mit seinen Produktionsstätten und die Handlungsfreiheit der Bürger ermöglichten die Entwicklung eines Marktes, der nicht durch die Obrigkeit gesteuert wurde.

Gleichzeitig zeigte sich schnell, dass die Arbeiter in der Industrieproduktion vollständig davon abhängig waren, ihre Arbeitskraft verkaufen zu können, und ohne Besitz oder Recht auf Land dem ständigen Risiko der Verarmung ausgesetzt waren. So drängten sie während der Französischen Revolution erstmals auf die Formulierung expliziter sozialer Grundrechte. In der französischen Verfassung von 1793 (Jakobinerverfassung) hieß es beispielsweise in Art. 21:

»Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft unternimmt den Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es nun, dass sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert.«

Diese Verfassung ist nie in Kraft getreten. Die Frage nach der sozialen Verantwortung des Staates aber beschäftigt seit der Französischen Revolution Staatsrechtler und Philosophen. Wichtige theoretische Grundlagen für ein Sozialstaatsmodell finden sich bei dem deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der nach Antworten auf die extreme Ungleichverteilung des Eigentums in der kapitalistischen Gesellschaft sucht. Die Freiheit des Eigentums und des Warenverkehrs sollen dabei nicht beschnitten werden, allein der »sittliche« (im Sinne von gerechte) Staat soll durch vielerlei Maßnahmen, die möglichst diskret und ohne Störungen der Wirtschaftsabläufe auszuführen sind, auf soziale Problemlagen reagieren. Hegel zeichnet das Schreckgespenst des »Pöbels«, der aufständischen Massen, als konsequente Folge der Eigentumsverteilung und der Verelendung der Arbeiter im Zusammenhang mit der industriellen Produktionsweise. Die private Wohltätigkeit lehnt er als unzureichend ab, zumal der Staat sich über die Gewährung von Armenhilfe auch die Disziplinierungsgewalt sichert (Hegel 1821, § 238 ff.).

In diesen frühen Überlegungen zum Sozialstaat finden sich bereits alle wesentlichen Elemente des heutigen liberalen Sozialstaatskonzepts, d. h. so wenig wie möglich Eingriffe in die freie Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Ausrichtung der staatlichen Armutspolitik auf die Absicherung eines Existenzminimums und auf staatlich organisierte Arbeitsbeschaffung und Beschäftigungsmaßnahmen, die sowohl der Rückkehr in Arbeit als auch der Disziplinierung durch Arbeit dienen.

In praktische Politik umgesetzt wurde die Sozialstaatsidee in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts. Kaiser Wilhelm I proklamierte in seiner Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 die politische Notwendigkeit, soziale Konflikte nicht ausschließlich durch Repressionen (die Arbeiterbewegung war durch das 1878 verabschiedete Sozialistengesetz kriminalisiert worden) einzudämmen, sondern den inneren Frieden im Lande auch durch ein Unterstützungssystem »zur Heilung der sozialen Schäden« zu wahren. Geboren war die Idee vor allem aus der Angst vor »englischen Verhältnissen«, da in der damaligen Zeit die »Trade Unions« (Gewerkschaften) in England gewaltigen Einfluss unter den Arbeitern erlangten und die Massenstreiks und Aufstände das gesamte Wirtschaftsgefüge zu bedrohen schienen. Auf der Grundlage der Kaiserlichen Botschaft führte Reichskanzler Otto von Bismarck das System der Sozialversicherungen ein. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlten Beiträge in eine staatliche Versicherung ein, die Ende des 19. Jahrhunderts zunächst das Risiko von Krankheit (Krankenversicherung 1883), Arbeitsunfällen (Unfallversicherung 1884) und Armut im Alter (Rentenversicherung 1889) absicherte. Ende der 1920er Jahre kam die Arbeitslosenversicherung (1927) hinzu und erst in den 1990er Jahren die Pflegeversicherung (1995). Das Konzept der Sozialversicherung verband den Gedanken der Selbsthilfe, die mangels Ressourcen der Beschäftigten ohne Hilfe von außen kein funktionierendes System ergeben konnte, mit dem Verursacherprinzip, durch welches die Produzenten, die sich die Arbeitskraft der Beschäftigten zu Nutze machten, an den Kosten der sozialen Risiken beteiligt wurden. Die Sozialversicherung verband so die öffentliche Absicherung typischer Lebensrisiken mit der Entlastung des Staates von sozialen Kosten.

Das System der Sozialversicherungen ist im Kern bis heute in seinen damals geschaffenen Strukturen erhalten geblieben und bildet in Deutschland das Grundgerüst der gesamten sozialen Vorsorge.

Während die Systeme eines funktionierenden Sozialstaats entwickelt wurden, traten die sozialen Grundrechte als garantierte Bürger- und Menschenrechte gegenüber den Freiheitsrechten für lange Zeit in den Hintergrund. Nach dem Ende des Nationalsozialismus betonten die Mütter und Väter der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland die dem Einzelnen verbürgten und durchsetzbaren Freiheitsrechte, konnten sich aber nicht zur expliziten Aufnahme sozialer Rechte in den Grundrechtskatalog durchringen. Lediglich das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet die Bundesrepublik auf das Konzept des Sozialstaats. Was dies jedoch im Einzelnen bedeutet, war und ist bis heute umstritten. Eine grobe Einteilung lässt drei verschiedene Sozialstaatstheorien erkennen:

a) Das Sozialstaatsprinzip der Verfassung erteilt dem Gesetzgeber einen Auftrag, dem Bürger ein soziales Sicherungssystem zur Verfügung zu stellen. Die Gestaltung dieses Systems liegt allein in der Hand des demokratisch gewählten Gesetzgebers (der Parlamente). Die Verfassung verpflichtet weder zu bestimmten Leistungen noch zu einem bestimmten Schutzniveau (Bachof, VVDStRL 12 (1954), S. 39, 43).

b) Das Sozialstaatsprinzip erhält seinen Wesensgehalt erst durch die enge Verzahnung mit der Verpflichtung allen staatlichen Handelns auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und die übrigen Freiheitsrechte. Nach diesem Ansatz werden die sozialen Grundrechte als notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der Freiheitsrechte gesehen (Böckenförde 1991, S. 146, 149) und der Sozialstaat dieser Verwirklichung verpflichtet (Freiheitsfunktionalität des Sozialstaats, siehe Heinig 2008, S. 222).

c) Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Gesetzgeber zu einer »Befähigungsgerechtigkeit«. Unter Bezugnahme auf den Capability Approach von Amartya Sen soll es in der Verantwortung des Staates liegen, möglichst optimale Bedingungen für den Einzelnen zu schaffen, um entsprechend seinen Fähigkeiten ein gutes Leben führen zu können (Nussbaum 2007, S. 159 f.; Wapler, VVDStRL 78 (2019), S. 53, 68 ff.).

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist den Weg des freiheitsfunktionalen Sozialstaatsverständnisses (b) gegangen und hat damit den Mangel an ausdrücklichen sozialen Grundrechten in der Verfassung kompensiert. Der berühmte Verfassungsrechtler Günter Dürig formulierte in einer Kommentierung aus dem Jahr 1958:

»die Menschenwürde als solche ist auch getroffen, wenn der Mensch gezwungen ist, ökonomisch unter Lebensbedingungen zu existieren, die ihn zum Objekt erniedrigen.« (Dürig 1958, Art. 1 I Rn. 43)

Das freiheitsfunktionale Verständnis des Sozialstaats grenzt sich einerseits ab gegen ein ordnungsrechtlich motiviertes »staatsfunktionales« Verständnis von sozialer Sicherheit und andererseits von einem paternalistischen Wohlfahrtsstaat, der den Bürger auf eine »gute Lebensführung« verpflichtet.

Die Konsequenz aus der engen Anbindung des Sozialstaatsprinzips an die Grundrechte und insbesondere an die Menschenwürde war zunächst die Ausstattung des Einzelnen mit Rechtsansprüchen auf Sozialleistungen, durch die der Mensch vom dankbar empfangenden Untertan zum eigenverantwortlich handelnden Bürger wird (BVerwG v. 24.6.1954 – V C 78.54). Deutlichster Ausdruck der gestärkten Rechtsposition des Einzelnen gegenüber dem Staat war 1962 die Ersetzung des vom Almosenprinzip geprägten Fürsorgerechts durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) mit individuellen Rechtsansprüchen auf Geldleistungen. Ein verfassungsrechtlich gesicherter Anspruch auf ein bestimmtes Niveau sozialer Absicherung war damit noch nicht verbunden. Erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt sollte sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Anspruch des Einzelnen auf eine der Menschenwürde entsprechende finanzielle Existenzsicherung entwickeln (BVerfG v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84; BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09). In der sog. Hartz-IV-Regelsatz-Entscheidung stellt das BVerfG fest:

»Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>; 115, 118 <152>). Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen (vgl. BVerfGE 107, 275 <284>; 109, 279 <310>). Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.« (BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09)

Die Leistungen müssen aber keine vollständige gesellschaftliche Inklusion umfassen, vielmehr genügt es, wenn über das physische Existenzminimum hinaus ein Mindestmaß sozialer Teilhabe gewährleistet wird (BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09).

Aus der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und der Bindung des Staates an das Sozialstaatsprinzip leitet sich ein Anspruch auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums und auf ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe ab (soziale Sicherheit).

Auch eine grundsätzlich zulässige Unterscheidung zwischen deutschen und nicht deutschen Staatsangehörigen findet ihre absolute Grenze im Respekt vor der Menschenwürde.

»Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m Art. 20 Abs. 1 GG begründet einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht; es steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu …. Migrationspolitische Erwägungen können eine geringere Bemessung der Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge nicht rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.« (BVerfG v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10)

Allerdings, so das BVerfG in der sog. Hartz-IV-Sanktionen-Entscheidung, darf der Gesetzgeber Sozialleistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums an die Mitwirkung der Leistungsberechtigten koppeln und die Verletzung von Mitwirkungspflichten bis zu einem gewissen Grade auch durch Leistungsminderungen sanktionieren.

»Das Grundgesetz steht auch einer Entscheidung des Gesetzgebers nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen. … Das Grundgesetz steht der Entscheidung nicht entgegen, nicht nur positive Anreize zu setzen oder reine Obliegenheiten zu normieren. Der Gesetzgeber kann für den Fall, dass Menschen eine ihnen klar bekannte und zumutbare Mitwirkungspflicht ohne wichtigen Grund nicht erfüllen, auch belastende Sanktionen vorsehen« (BVerfG v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16).

Neben der Menschenwürde bildet der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) den zweiten zentralen Maßstab für die Gestaltung des Sozialstaats. Die Gewährung von Sozialleistungen muss sich stets an gerechten Verteilungsgrundsätzen orientieren. Alle Unterscheidungen bei der Zuweisung von Hilfen benötigen sachgerechte Kriterien. Bestimmte Gruppen dürfen nur dann anders behandelt werden als andere Gruppen, wenn die Unterschiede in ihren Lebenslagen so gewichtig sind, dass sich – gemessen an den Zielen des Sozialgesetzes – die Benachteiligung oder Bevorzugung daraus rechtfertigen lässt. So werden etwa bestimmte Leistungen in Abhängigkeit von den Einkommensverhältnissen erbracht (z. B. Wohngeld, Ausbildungsförderung), weil die Gesetze der Zielsetzung folgen, die Auswirkungen geringer finanzieller Ressourcen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auszugleichen oder zu mindern. Der Gleichheitssatz beinhaltet nicht nur das Gebot, Gleiches gleich zu behandeln, sondern ebenso die Verpflichtung, Ungleiches ungleich zu behandeln. Der Anspruch auf Gleichbehandlung steht also dem Solidaritätsprinzip nicht entgegen, welches u. a. dazu führt, dass gesetzlich Krankenversicherte alle denselben Leistungsumfang erhalten (abgesehen vom Krankengeld), obwohl sie Beiträge in ganz unterschiedlicher Höhe zahlen.

Sozialrecht für die Soziale Arbeit

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