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1. Die Anfänge

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Sibirien grenzt im Norden an den Arktischen Ozean und im Süden an die zentralasiatische Steppe. Auf fast 5000 Kilometern erstreckt es sich vom Ural bis zum Pazifik. Mit der Eisenbahn braucht man von Moskau bis zum Ural etwa einen Tag und eine Nacht, von dort weiter zum Pazifik noch einmal fünf Tage. Von der Fläche her ist Sibirien größer als China und Indien zusammen. Es ist ein Land der Kiefernund Birkenwälder, der Seen und Sümpfe, durchzogen von mehreren mächtigen Flüssen, die alle ins Arktische Meer fließen. Und es ist ein Land der Extreme: Die Temperatur schwankt im Laufe des Jahres um mehr als 100 °C, von -71 °C im Winter bis 34 °C im Sommer. Es ist eine unwirtliche, eine gnadenlose Gegend.

Seit eh und je fasziniert dieses riesige, isolierte Land Menschen in der ganzen Welt und lässt in ihren Köpfen fantastische, skurrile Bilder entstehen. Früher erzählte man sich, dass sibirische Eltern ihre Kinder schlachten und aufessen. Dass in Sibirien immer wieder Leute sterben, wenn ihnen die Nase tropft, das Wasser den Körper hinunterläuft und sie am Boden festfrieren. Dass die Menschen dort keine Köpfe haben und sich stattdessen ihre Augen auf der Brust befinden, der Mund zwischen den Schultern. Noch im 18. Jahrhundert glaubten viele, Sibirien sei eine Gegend ohne Sitten und ohne Moral. Im Jahr 1761 besuchte der französische Astronom Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche die historische Hauptstadt Sibiriens, Tobolsk, unweit von Rasputins Heimatdorf. Hinterher schrieb er, dass „beim gemeinen Volk Männer, Frauen und Kinder ohne jedes Schamgefühl beieinanderliegen. Da ihre Leidenschaft von den Objekten erregt wird, die sie sehen, geben sich beide Geschlechter frühzeitig wilden Ausschweifungen hin“.1 Seit Langem ist Sibirien auch ein Synonym für das Leid zahlloser Häftlinge und Kriegsgefangener, die von den Zaren und später von den Kommissaren dorthin geschickt wurden, entweder in die Verbannung (ssylka) oder in die weitaus schlimmere Zwangsarbeit (katorga). Jahrhundertelang marschierten gewöhnliche Kriminelle, Revolutionäre und andere Subversive auf der sogenannten „Straße der Knochen“ von Russland kommend über den Ural.

Aber längst nicht jeder, der sich von Russland nach Sibirien aufmachte, tat dies gegen seinen Willen. Für viele verhieß der Osten die Chance auf ein besseres Leben. Die russische Expansion nach Sibirien, die im 16. Jahrhundert begann, hatte in erster Linie ökonomische Gründe. Schuld war nicht zuletzt die Gier nach dem „weichen Gold“ – Tierfelle, vor allem Zobel, waren damals so unerschöpflich wie profitabel. Der Pelzhandel war das wirtschaftliche Motiv hinter der Expansion und machte viele Menschen sagenhaft reich. Sibirien, so paradox es erscheinen mag, bedeutete indes auch Freiheit: Östlich des Urals existierte keine Leibeigenschaft, und die sonst harte Hand des Staates regierte hier etwas milder, um nicht zu sagen gerechter. Je höher die Belastungen für Russlands Leibeigene im 17. und 18. Jahrhundert wurden, desto mehr Bauern siedelten nach Sibirien um. Zwischen 1678 und 1710 stieg die Zahl der bäuerlichen Haushalte dort um fast 50 Prozent, während sie in Russland im selben Zeitraum um mehr als 25 Prozent sank. Jenseits des Urals gab es keine Lehnsherren, denen man die Früchte seiner Arbeit schuldete. Doch die Freiheit hatte einen Preis: das harte Leben in der wilden, gesetzlosen Natur an der äußersten Grenze Russlands. Jahrhundertelang war Sibirien der „Wilde Osten“ des Russischen Reichs. Die örtlichen Militärgouverneure des Zaren waren verdorben, bestechlich und genauso gewalttätig wie viele Händler und Jäger. Man handelte hier nicht nur mit Pelzen, sondern auch mit Frauen und Alkohol. Gewalt war an der Tagesordnung.2

Jene Russen, die es dennoch wagten, nach Sibirien umzusiedeln, gehörten zu den fleißigsten Untertanen des ganzen Landes. Einem britischen Reisenden, der im Jahr 1861 auf dem Weg nach China Sibirien durchquerte, fiel auf, dass die Bauern „ein gewisses Selbstbewußtsein“ ausstrahlten – ganz anders, als er es in Russland gesehen hatte, wo allerorten „Armut“, „Verwahrlosung“ und „Elend“ herrschten. Er fügte hinzu: „Der Zustand der Familien läßt auf eine gewisse Selbstachtung schließen.“ In ihren Dörfern herrsche eine „bescheidene Behaglichkeit“, und man spüre, dass es sich um Menschen handele, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben kein Risiko scheuten.3 Diese Menschen waren stolz und fühlten sich für ihr eigenes Wohlergehen verantwortlich – was man von den russischen Bauern westlich des Urals, die ein Dasein in Leibeigenschaft fristeten, nicht unbedingt behaupten konnte.

Isosim, Sohn von Fjodor, war ein armer, landloser Bauer aus dem Dorf Palewizy an der Wytschegda, einem Nebenfluss der Nördlichen Dwina, etwa 1300 Kilometer nordöstlich von Moskau. Er war einer jener russischen Pioniere, die es im 17. Jahrhundert nach Sibirien zog. Zusammen mit seiner Frau und seinen drei Söhnen Semjon, Nason und Jewsei überquerte er den Ural und ließ sich 1643 in Pokrowskoje nieder. Die Siedlung an der Grenze des Reichs war erst ein Jahr zuvor im Auftrag des örtlichen Erzbischofs gegründet worden, und als Isosim eintraf, lebten hier etwa zwanzig Bauernfamilien. Pokrowskoje lag am Westufer der Tura, direkt an der Postroute, die die Städte Tobolsk und Tjumen miteinander verband. Kutscher nutzten das Dorf regelmäßig als Rastplatz, um auszuruhen und die Pferde zu wechseln. Seinen Namen hatte der Ort von der Kirche, die die Dorfbewohner gebaut und an einem speziellen der Muttergottes gewidmeten Feiertag, dem Pokrow Preswjatoi Bogorodizy, geweiht hatten. Die Bauern lebten von der Bewirtschaftung ihrer Höfe, züchteten Vieh und gerbten Leder. Daneben jagten sie Füchse, Bären, Wölfe und Dachse in den umgebenden Wäldern und fischten Hechte und Störe in der Tura und den Seen. In diesem Teil Sibiriens lebten die Menschen relativ komfortabel in Holzhäusern, von denen viele sogar zweigeschossig waren. 1860, um die Zeit herum, als Rasputin zur Welt kam, bestand Pokrowskoje aus 200 Häusern, und um die tausend Menschen lebten in dem Städtchen. Es gab Molkereien und Stallungen, Bäckereien, Gaststätten, Pensionen und Märkte, Sägemühlen, eine Schmiede und sogar eine kleine Schule.4

In den Aufzeichnungen des Dorfes findet sich niemand mit dem Namen Isosim, aber immerhin ist dort verzeichnet, dass dessen Sohn Nason spätestens 1650 den Namen „Rosputin“ angenommen hatte. Warum er das tat, wissen wir nicht. Vielleicht hieß er mit zweitem Vornamen oder Spitznamen „Rosputa“, woraus irgendwann „Rosputin“ wurde (bzw. „Rasputin“, wie man den Namen seit dem 19. Jahrhundert schreibt). Auch wenn dies damals in Sibirien ein durchaus verbreiteter Familienname war, hat nur ein Teil der Nachkommen Nasons den Namen Rosputin oder Rasputin angenommen und über die Generationen weitergetragen.5 Von diesem Nason Rosputin stammte auch Grigori ab, der acht Generationen später zur Welt kam.

Rasputins Name war bereits Gegenstand unzähliger Diskussionen, und die wenigsten davon hielten sich mit Fakten auf. Viele haben versucht, ihn vom russischen Wort rasputnik („Schurke“) oder von rasputnitschat’ („liederlich und ausschweifend leben“) abzuleiten – als ob sich Rasputin nach seiner eigenen moralischen Verdorbenheit benannt hätte oder der Name ihm erst von anderen gegeben worden wäre, nachdem er zu zweifelhaftem Ruhm gelangt war. Schon zu seinen Lebzeiten kursierten derartig haltlose Behauptungen. Im Dezember 1911 beispielsweise brachte die Abendzeit einen Artikel, in dem es hieß, „Rasputin“ sei ursprünglich ein Spitzname gewesen, den man ihm seines unmoralischen Verhaltens wegen schon als Jugendlichem gegeben habe. Durch die Übertragung in seine Ausweispapiere sei der Name dann sozusagen offiziell geworden. Selbst heute noch gibt es Historiker, die behaupten, der Name spiegele die viele Generationen zurückreichende Verderbtheit der Familie Rasputin wider.6

Die tatsächliche Herkunft des Namens bleibt im Dunkeln. Falls ihn als Erster tatsächlich ein Vorfahr trug, der ein rasputnik war, dann war das damals alles andere als ungewöhnlich, wenn man bedenkt, wie viele Menschen in Sibirien diesen Namen trugen. Aber es gibt noch andere, sinnvollere Theorien. Rasputa oder rasput’e bedeutet „Kreuzung“. Vor langer Zeit galten Weggabelungen als Orte, wo böse Geister hausten; möglicherweise leitete man davon einen Namen ab für Menschen, von denen man glaubte, sie stünden mit dunklen Mächten in Verbindung. Im Russischen gibt es zudem die alte Redensart vom Narren, der verloren an einer Wegkreuzung steht, womit ein unentschlossener Mensch gemeint ist. Und dann ist da noch das kaum übersetzbare russische Wort rasputiza, das jenen besonders feuchten Abschnitt des Frühjahrs bezeichnet, in dem Russlands Straßen früher verschlammten und unbefahrbar wurden. Möglicherweise nannte jemand einmal sein Kind, das zu jener Jahreszeit auf die Welt kam, Rasputa.7 Woher auch immer der Name stammt: Rasputin war einfach nur der Nachname von Grigori und seiner Familie. Er wurde ihm nicht etwa „verliehen“, um seinen Charakter widerzuspiegeln.

Grigoris Vater Jefim Rasputin wurde 1842 in Pokrowskoje geboren. Quellen beschreiben ihn als „beleibten, typisch sibirischen Bauern“, „bullig, ungepflegt und gebückt“. Ein politischer Exilant, der Jefim um 1910 persönlich kennenlernte, nannte ihn hingegen einen „gesunden, fleißigen und rüstigen alten Mann“.8 Er schlug sich mit einer Reihe von Tätigkeiten durch – fischte, bestellte Äcker, schnitt Heu. Eine Zeitlang arbeitete er als Schauermann auf den Schiffen, die auf Tura und Tobol unterwegs waren, bis er eine staatliche Lizenz an Land zog, um Passagiere und Waren zwischen Tobolsk und Tjumen zu befördern. Das Geld war damals in der Regel knapp, einmal landete Jefim sogar hinter Gittern, weil er seine Steuern nicht zahlen konnte. Was seinen Charakter betrifft, widersprechen die Quellen einander. In der Dorfgemeinde diente er als Kirchenältester, und jemand aus dem Ort sprach einmal über Jefims „gelehrte Unterhaltungen und Weisheit“, andere wiesen auf seine Vorliebe für „starken Wodka“ hin.9 Trotz seiner Trinkerei gelang es Jefim, nach und nach in der dörflichen Hierarchie aufzusteigen. Am Ende erwarb er ein Stück Land, etwa ein Dutzend Kühe und an die zwanzig Pferde. Er war nicht reich, aber für die Verhältnisse russischer Bauern doch relativ wohlhabend.

Den Aufzeichnungen der Kirche zufolge heiratete Jefim am 21. Januar 1862 Anna Parschukowa aus dem Dorf Usalka. Sie war zwei Jahre älter als er. Zwischen 1863 und 1867 brachte Anna vier Kinder zur Welt, drei Mädchen und einen Jungen, doch keines lebte länger als ein paar Monate. Das erste Kind, das überlebte, war ein Junge, der am 9. Januar 1869 das Licht der Welt erblickte, fast genau sieben Jahre nachdem die Eltern geheiratet hatten. Tags darauf wurde er auf den Namen Grigori getauft, zu Ehren des heiligen Gregor von Nyssa, eines christlichen Mystikers des 4. Jahrhunderts, den die Russisch-Orthodoxe Kirche am 10. Januar feiert. Der Taufe wohnten auch Grigoris Pateneltern bei: Jefims älterer Bruder Matwei und eine Frau mit dem Namen Agafja Alemassowa.10 Jefim und Anna bekamen noch zwei oder drei weitere Kinder. Im Jahr 1874 brachte Anna Zwillinge zur Welt, die innerhalb weniger Tage nach der Geburt starben. Außerdem gab es ein weiteres Kind, ein Mädchen namens Feodossija, das im Jahr 1875 geboren wurde und am Leben blieb. Aus den vorhandenen Aufzeichnungen geht nicht eindeutig hervor, ob Feodossija und Grigori wirklich Geschwister waren oder entfernter miteinander verwandt. Auf jeden Fall standen sie einander recht nahe. 1895 war Grigori Trauzeuge bei ihrer Hochzeit, später dann Taufpate ihrer beiden Kinder. Die immer wieder kolportierte Geschichte, Rasputin habe einen Bruder oder Cousin namens Dmitri gehabt, der ertrunken sei und dessen Tod Rasputin als Zeichen seines eigenen Untergangs gedeutet habe, ist pure Erfindung.11

Über Rasputins Jugend wissen wir so gut wie nichts, und im Grunde gilt das sogar für die ersten fast dreißig Jahre seines Lebens. Diese Tatsache hat maßgeblich dazu beigetragen, dass man ihm so viele erfundene Geschichten und Legenden angehängt hat. Im Jahr 1910, auf dem Höhepunkt eines der ersten Skandale rund um Rasputin, behauptete die Zeitung Morgen Russlands, ihre Rechercheure hätten schockierende Details über das Leben von Rasputins Eltern aufgedeckt. Jefim, so behauptete der Artikel, sei ein „äußerst unzüchtiger Lüstling“, der sogar dann noch darauf bestand, mit seiner Frau zu schlafen, wenn sie schwanger war. Einmal, als Anna sich ihm widersetzen wollte, habe er sie angeschrien: „Dann drück’s doch raus! Mach schon, drück es raus!“ Später hätten die Dorfbewohner den kleinen Jungen dann den „herausgedrückten Grischka“ genannt.12 Einem anderen Gerücht zufolge habe Jefim Anna, als sie mit Grigori schwanger und ihr Bauch bereits ziemlich dick war, zu Analsex gedrängt – angeblich hatte dies ein Mann mitbekommen, der im Haus arbeitete, und später im Dorf herumerzählt.13 Diese und andere Geschichten sollten beweisen, dass sexuelle Perversion bei den Rasputins in der Familie lag.

Wir wissen, dass Rasputin keine Schulbildung erhielt und bis ins frühe Erwachsenenalter Analphabet war. Das war gar nicht ungewöhnlich, sondern traf auf die meisten Bauern und Landarbeiter damals zu. Die Alphabetisierungsrate in Sibirien betrug im Jahr 1900 etwa 4 Prozent; auf nationaler Ebene lag sie gerade einmal bei 20 Prozent. Auch Rasputins Eltern waren nie zur Schule gegangen. Gemäß einer Volkszählung von 1897 konnte niemand in Rasputins Haushalt lesen und schreiben.14 Genau wie viele andere Jungen in Pokrowskoje half der kleine Grigori, sobald er alt genug war, seinem Vater bei der Arbeit. Er lernte fischen, sich um das Vieh zu kümmern, auf dem Feld zu arbeiten. Sonntags besuchte die ganze Familie den Gottesdienst. So sah das Leben der Bauern damals aus. Nach dem, was die Quellen hergeben, gab es in Rasputins Kindheit und Jugend keinerlei Anzeichen dafür, dass er später einmal ein anderes Leben führen würde als seine Vorfahren.

Weil wir so wenig über diese Zeit wissen, sahen sich viele Leute veranlasst, ihre eigene Version des Lebens im Hause Rasputin zu erfinden. Ganz typisch ist diese Beschreibung im Petrograder Blatt vom Dezember 1916:

Das Dorf des heiligen Mannes war arm und verdorben. Seine Bewohner hatten einen besonders schlechten Ruf, selbst für sibirische Verhältnisse. Taugenichtse, Gauner, Pferdediebe. Die Rasputins waren genau wie alle anderen, und auch er würde so werden, wenn er etwas älter würde. Rasputin hatte eine ungemein unglückselige Jugend. Er war ein Schandmaul, sprach undeutlich, redete Blödsinn, war so schmutzig, wie man nur sein konnte. Ein Dieb und Lästerer, der Schrecken seines Heimatdorfes.15

Das Petrograder Blatt nannte ihn einen Tunichtgut, dessen Faulheit den Vater dazu provozierte, ihn zu schlagen. Die schwerwiegendste Anschuldigung war jedoch, der junge Rasputin sei ein Dieb gewesen und die Akten der örtlichen Verwaltung belegten, dass er für Pferdediebstahl und Falschaussage verurteilt worden sei.

Solche und ähnliche Geschichten über Rasputins Person und Gewohnheiten erzählte auch Pawel Raspopow aus Pokrowskoje der Außerordentlichen Untersuchungskommission der Provisorischen Regierung im Jahr 1917. Sie hätten in ihrer Jugend zusammen gefischt, berichtete Raspopow, doch keiner der anderen jungen Männer im Dorf habe mit Rasputin etwas zu tun haben wollen. Beim Essen sei ihm der Rotz aus der Nase gelaufen, und wenn er seine Pfeife rauchte, sei ihm Speichel aus dem Mund getropft. Irgendwann habe man Rasputin aus dem Artel, der Arbeitergenossenschaft, geworfen, so Raspopow, nachdem die anderen Mitglieder ihn dabei erwischt hätten, wie er den Gemeinschaftswodka klaute.16 Anderen Berichten zufolge stahl Rasputin Heu und Brennholz, doch die schlimmste Beschuldigung war der angebliche Pferdediebstahl – im vorrevolutionären Russland ein besonders schweres Vergehen.17 Wie so oft bei den Berichten über Rasputin kamen immer mehr Details hinzu, je öfter die Geschichte nacherzählt wurde. Ging es zunächst noch um ein oder zwei gestohlene Pferde, berichtete man später, Rasputin stamme von einer langen Linie von Pferdedieben ab. Auch der schwedische Komponist Wilhelm Harteveld, der Rasputin mehr als einmal traf, sagte nach dessen Tod, Rasputin sei in einer Familie von Pferdedieben geboren worden. Angeblich habe Jefim ihm das Handwerk beigebracht, und als sein Sohn im Alter von 16 Jahren als einer der besten Pferdediebe der Gegend galt, sei er entsprechend stolz auf ihn gewesen. In den einflussreichen Memoiren von Fürst Felix Jussupow findet sich ein ähnlicher Kommentar.18 Wären diese Geschichten wahr, so müssten sich in den Archiven in Tobolsk oder Tjumen zumindest Spuren davon finden. Aber trotz aller Bemühungen der Historiker ist bislang kein einziger Beleg dafür aufgetaucht, dass Rasputin jemals wegen solcher Vergehen angezeigt wurde.19

Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass sich Rasputin als Jugendlicher nicht allzu sehr an Regeln hielt. Als Gendarmen aus Tjumen im Jahr 1909 in Pokrowskoje die Einheimischen befragten, um Details für einen Bericht zu sammeln, bestätigten diese Rasputins „verschiedene Laster“: dass er sich „gern betrank“ und eine Reihe „kleiner Diebstähle“ begangen hätte, bevor er verschwand und als vollkommen veränderter Mensch zurückkehrte.20 Das Datum dieses Dokuments ist wichtig, denn es liegt deutlich vor der Zeit, als Rasputin zu einer echten Berühmtheit wurde; insofern kann es durchaus sein, dass diese Erzählungen – oder zumindest ein paar Aspekte davon – der Wahrheit entsprechen und die Dorfbewohner den Gendarmen nicht einfach nur erzählten, was sie hören wollten.

Und dann gibt es noch eine ganze Reihe Dokumente, die bislang unbeachtet in den Archiven von Tobolsk geschlummert haben. Laut einer offiziellen Untersuchung reisten Ende Juni 1914 ein Journalist und sein Sekretär aus der Hauptstadt zur Kreisverwaltung in Pokrowskoje; sie behaupteten, der St. Petersburger Generalgouverneur habe sie geschickt, um amtliche Nachweise für die Pferdediebstähle des jungen Rasputins zu einzuholen. Der dortige Beamte, ein Mann namens Nalobin, war so eingeschüchtert, dass er die beiden nicht bat, sich auszuweisen. Er prüfte das Vorstrafenregister des Dorfes und teilte ihnen mit, Rasputin sei niemals für ein solches Vergehen festgenommen oder bestraft worden. Allerdings erwähnte er die Existenz von Dokumenten über einen zweitägigen Gefängnisaufenthalt: Der Distriktälteste hatte den 15-jährigen Rasputin wegen „unverschämten Benehmens“ dazu verurteilt. Dies sei jedoch der einzige Hinweis auf eine etwaige kriminelle Vergangenheit Rasputins. Nachdem Nalobin den beiden Männern diese Informationen gegeben hatte, bat er sie, ein Protokoll zu unterschreiben, aber sie weigerten sich und eilten fort.21 Als Rasputin davon erfuhr, war er außer sich. Er bestand auf einer Untersuchung durch den Gouverneur von Tobolsk, und diese ergab, dass der Verwaltungsangestellte den Männern tatsächlich das Buch mit den belastenden Details vorgelegt hatte. Weil er sie nicht um ihre Legitimation gebeten hatte, musste Nalobin fünf Rubel Strafe zahlen.

Dies ist deshalb eine so bemerkenswerte Entdeckung, da sie die Geschichten rund um Rasputins angebliche Pferdediebstähle endgültig ins Reich der Fantasie verbannt – genau wie die Berichte über seine anderen Vergehen. Falls es doch ein paar „kleine Diebstähle“ gab, wie die Dorfbewohner und Raspopow behaupteten, dann waren sie so klein, dass sich die Behörde im Ort gar nicht erst dafür interessierte. Ebenso bemerkenswert ist: Hier haben wir einen direkten Hinweis, dass Rasputin ein rebellischer (vielleicht sogar ziemlich wilder) Jugendlicher war, wie seit Langem vermutet und auch von Rasputin selbst vage angedeutet, was aber bislang nicht zuverlässig belegt war. Natürlich haben Jugendliche zu allen Zeiten aufbegehrt, das ist selbst für Kirchenmänner wie Augustinus bezeugt. Doch Augustinus, der als junger Mann stahl und herumhurte, wandelte sich komplett, als er zum Christentum konvertierte. Das kann man von Rasputin nicht behaupten, der bis zum Lebensende mit seinen Lastern zu kämpfen hatte, der seinen Trieben immer wieder nachgab und sündigte – was er wohlgemerkt selbst niemals bestritt.

Etwa 30 Kilometer südöstlich von Tobolsk, in Abalak, oberhalb eines Steilhangs am Irtysch befindet sich das Snamenski-Kloster. An der Stelle, an der es steht, erschien einer alten Bäuerin im Jahr 1636 die Muttergottes und befahl ihr, eine Kirche zu bauen. Im Kloster bewahrte man eine wundertätige Ikone der Jungfrau Maria auf, deren bemerkenswerte Heilkräfte in ganz Sibirien bekannt waren. Von weither reisten die Menschen nach Abalak, um sich im heiligen Kloster von der Ikone segnen zu lassen.

Hier in Abalak lernte Rasputin im Sommer 1886 ein Bauernmädchen mit dem Namen Praskowja Dubrowina kennen. Sie war eine dickliche Blondine mit dunklen Augen. Praskowja war mehr als drei Jahre älter als Rasputin, ihr Geburtsdatum war der 25. Oktober 1865. Damit war sie unter den Bauernmädchen schon fast eine alte Jungfer.22 Genau wie Rasputin war sie nach Abalak gekommen, um Mariä Himmelfahrt zu feiern. Rasputin machte ihr ein paar Monate lang den Hof, und kurz nach seinem 18. Geburtstag heirateten sie, im Februar 1887.23 Über Praskowja wissen wir nur wenig. Alle, die sie kannten, wussten nur Gutes über sie zu berichten. Sie war eine fleißige, treue, pflichtbewusste, ja sogar unterwürfige Ehefrau und Schwiegertochter. Praskowja dürfte Rasputin durchaus dankbar gewesen sein, als er um ihre Hand anhielt, denn das bedeutete die Aussicht auf ein Zuhause, eine Familie und ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität. Das bäuerliche Russland war kein Ort für alleinstehende Frauen. Trotz seiner Bettgeschichten und Trinkgelage und obwohl er sie immer wieder lange allein ließ, blieb sie ihm für den Rest seines Lebens treu ergeben. Stets saß sie zu Hause in Pokrowskoje und wartete auf seine Rückkehr. Was Rasputin betrifft, so sorgte er dafür, dass sie immer alles hatte, was sie für sich und das Haus benötigte, und er heuerte junge Frauen an, die Praskowja bei der Arbeit halfen und ihr Gesellschaft leisteten, während er fort war.

Wie es damals Sitte war, zogen die beiden nach der Hochzeit bei Grigoris Eltern ein. Bald brachte Praskowja das erste Kind zur Welt. Insgesamt sieben Kinder hatte das Paar, doch die meisten starben früh. Michail, der am 29. September 1889 geboren wurde, starb kurz vor seinem fünften Geburtstag an Scharlach. Im Mai 1894 gebar Praskowja die Zwillinge Georgi und Anna. Beide starben zwei Jahre später an einer Keuchhustenepidemie, der mehrere Kinder im Dorf zum Opfer fielen. Der am 25. Oktober 1895 geborene Dmitri war der erste ihrer Nachkommen, der bis ins Erwachsenenalter überlebte, gefolgt von Matrjona, die meistens Maria genannt wurde und am 26. März 1898 zur Welt kam, und schließlich Warwara, geboren am 28. November 1900. Das siebte Kind, die Tochter Praskowja, wurde drei Jahre nach Warwara geboren und nur drei Monate alt.24

Laut der Volkszählung von 1897 führte Grigori mit 28 Jahren noch immer keinen eigenen Haushalt. Er lebte mit seiner Frau und dem kleinen Dmitri weiterhin bei seinem inzwischen 55-jährigen Vater und seiner 57-jährigen Mutter. Alle Personen im Haushalt sind als Analphabeten aufgeführt, die Männer als Staatsbauern.25 Bis dahin scheint Rasputins Leben genauso verlaufen zu sein wie das von Millionen anderen russischen Bauern: Feldarbeit, Kirchgänge und Gebete, Gehorsam gegenüber dem Vater, Heirat und Kinder – der ewige Rhythmus des bäuerlichen Lebens. Doch dann wurde auf einmal alles anders.

Und die Erde wird zittern

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