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6. Die brennende Fackel

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Da ist er, er trägt sein Bündel,

erfüllt den Waldweg

mit einem langen Lied, einem leisen

und doch schlauen Lied, oh,

einem frechen Lied. […]

Er kommt – Gott steh uns bei! –

in unsere stolze Hauptstadt.

Er verzaubert die Zarin

des endlosen Russland.

Nikolai Gumiljow1

Irgendwann zwischen Mai 1904 und Anfang 1905 kam Rasputin zum ersten Mal in die historische Tatarenstadt Kasan an der Wolga, die seit der furchtbar blutigen Belagerung durch Iwan den Schrecklichen im Jahr 1552 zu Russland gehörte.2 Anscheinend hatte ihn eine reiche Kaufmannswitwe mit Namen Baschmakowa in die Stadt geholt. Er hatte sie bei einer Pilgerreise kennengelernt, möglicherweise auf dem Weg zum Kloster von Abalak. Das war kurz nachdem sie ihren Mann verloren hatte, und sie trauerte sehr um ihn. Rasputin sprach mit ihr, und es gelang ihm, ihr Leid zu lindern. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, wurde eine seiner ersten Anhängerinnen und lud ihn ein, sie auf ihren Reisen zu den heiligen Stätten Russlands zu begleiten – auf ihre Kosten, versteht sich. „Eine simple Seele“, nannte Rasputin sie. „Sie war reich, sehr reich, und sie verschenkte alles, was sie hatte […]. Sie erbte noch mehr, und auch das verschenkte sie […]. Und wenn sie noch mehr erbt, wird sie das ebenfalls verschenken, so ist sie nun einmal.“3 In Kasan stellte Baschmakowa Rasputin einigen reichen ortsansässigen Kaufleuten und prominenten Geistlichen vor.

Rasputin machte einen guten Eindruck. Er war ein starker, schlanker und gesunder Mann aus Sibirien, 35 Jahre alt, stolz und unabhängig. Inzwischen war er dazu übergegangen, sich als Starez zu bezeichnen, und die Kasaner waren beeindruckt von seiner inneren Kraft, seinem Verständnis der menschlichen Seele und seiner Kenntnis der Heiligen Schrift. Zwar konnte er durchaus auch schroff und unhöflich sein, und er kannte sich wenig mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten aus. Doch andererseits sah jeder in ihm den wahren Mann Gottes, der sich auf einer spirituellen Mission befand und für solche Nebensächlichkeiten schlichtweg keine Zeit hatte. Es sprach sich schnell herum, dass ein Starez aus Sibirien in der Stadt war, und bald kamen die Leute zu ihm, um ihn um Hilfe zu bitten. Ein junges Paar suchte ihn auf, dem der Tod seiner beiden kleinen Kinder schwer zu schaffen machte. „Meine Frau war so verzweifelt, dass es beinahe an Wahnsinn grenzte“, erzählte der Mann später, „und die Ärzte konnten nichts für sie tun. Einige Leute rieten mir, Rasputin holen zu lassen … Stellen Sie sich vor: Er sprach eine halbe Stunde mit ihr, und danach war sie vollkommen ruhig! Sie können gegen ihn sagen, was Sie wollen, vielleicht stimmt es ja auch. Aber meine Frau hat er gerettet – das ist die Wahrheit!“

Einer der Geistlichen, mit denen Rasputin sich traf, war Gawriil, der Vorsteher des in der Nähe von Kasan gelegenen Sieben-Seen-Klosters. Die beiden Männer ähnelten einander in vielerlei Hinsicht. Beide waren als Bauern geboren und waren zum Kloster von Werchoturje gepilgert, um die Reliquien des heiligen Simeon anzubeten. Sie hatten mehrere gemeinsame Bekannte, zum Beispiel den Mönch und späteren Bischof und Metropoliten Meliti (bürgerlich Michail Saborowski), und beiden sagte man nach, sie besäßen besondere Heilkräfte. Auf Gawriil war Ella, die Schwester der Zarin, aufmerksam geworden, sie besuchte ihn oft. Neben Gawriil nahm Rasputin auch den Archimandriten Andrei für sich ein, der als Fürst Alexander Uchtomski einer von Russlands ältesten Adelsfamilien entstammte. Rasputin war häufig bei ihm zu Gast, und Andrei empfahl ihn der St. Petersburger Gesellschaft. Rasputin sagte über ihn: „Ich kenne keinen Menschen, der so voller Liebe ist wie er.“4

Später erinnerte er sich, er habe bei seinen Treffen mit den Geistlichen von Kasan „hauptsächlich über die Liebe mit ihnen gesprochen, aber welche Liebe ich erlebt hatte, überraschte sie doch sehr.“5 Rasputin liefert keine Details über die Art dieser Liebe, doch später erzählte man Geschichten darüber, dass er sich während seines Aufenthalts in Kasan Frauen gegenüber unmoralisch verhalten habe. Man sprach von fragwürdigen Treffen allein mit verschiedenen Frauen, davon, wie er junge Damen in die Bäder der Stadt mitgenommen habe und sie, nachdem er sie verdorben habe, von ihren Familien fortgelockt habe.6 Es heißt, Rasputin habe Gawriil seine Sünden gebeichtet und gestanden, wie er Frauen gestreichelt und geküsst habe, wenngleich stets auf eine liebevolle und angemessene Weise. Gawriil glaubte ihm, aber wie so viele seiner frühen Anhänger sollte auch er später umschwenken und sich gegen Rasputin wenden. Zu einem anderen Zeitpunkt zitierte Gawriil eine alte Volksweisheit, als er sagte, Rasputin sei nichts anderes als eine Spinne: Töte ihn, und Gott vergibt dir 40 Sünden.

Als Rasputin eines Tages mit Gawriil und ein paar Theologiestudenten Tee trank, erwähnte er, dass er vorhabe, nach St. Petersburg zu reisen. Gawriil gefiel diese Idee gar nicht. Er dachte bei sich: „Du wirst in Petersburg vom rechten Weg abkommen, die Stadt wird dich ruinieren.“ Auf einmal lehnte sich Rasputin zu Gawriil hinüber und sagte: „Und Gott? Was ist mit Gott?“ Das war für Gawriil der Beweis, dass Rasputin Gedanken lesen konnte.7

Rasputin verließ Kasan und machte sich auf nach St. Petersburg. „Mit einem Mal war ich von einem Gedanken beseelt, und mein Herz war davon erfüllt“, erzählt er in seinem Leben eines erfahrenen Pilgers. Es war die Idee, eine Kirche in Pokrowskoje zu bauen, schließlich habe der Apostel Paulus einst verkündet: Wer eine Kirche baut, wird niemals durch die Tore der Hölle schreiten. Doch Rasputin war arm – wie sollte er jemals die 20.000 Rubel zusammenbekommen, die der Bau der Kirche kosten würde, welche er im Geiste schon ganz genau vor sich sah? Rasputin beschreibt, wie er auf der Suche nach Gönnern quer durch die Provinz Tobolsk gereist sei, aber die Adligen hätten ihm nicht einen einzigen Rubel gegeben, stattdessen verprassten sie ihr Geld für zügellosen Prunk. Also beschloss er, stattdessen gleich in die Hauptstadt der Zaren zu reisen.

„Und dann komme ich nach St. Petersburg, und ich fühle mich wie ein Blinder auf der Straße, so fühle ich mich.“ Rasputin wollte als Erstes zum Beten ins Alexander-Newski-Kloster gehen. Er hatte nichts bei sich als einen Sack schmutziger Kleidung, mit seinen letzten Kopeken kaufte er ein paar Kerzen. Vor dem Kloster erkundigte er sich danach, wo er Bischof Sergei finden könne. Zufällig kam gerade ein Polizist vorbei. „Du willst ein Bekannter des Bischofs sein?“, drohte er dem verwahrlosten Bauern. „Du bist sicher ein Krawallmacher.“ Erschrocken lief Rasputin zum Hintereingang des Klosters, nur um dort von einem Pförtner niedergeschlagen zu werden. Als Rasputin vor dem Mann kniete, erzählte er ihm, wer er sei und warum er den Bischof suche. Rasputins Worte rührten den Pförtner, und er ging Bischof Sergei (bürgerlich Iwan Stragorodski) holen. Der Rektor des Theologischen Seminars von St. Petersburg führte ein langes Gespräch mit dem sibirischen Starez. Sergei nahm Rasputin unter seine Fittiche, er führte ihn bei der Elite der Stadt ein und nahm ihn sogar mit in den Palast, um ihn dem Zaren vorzustellen. Nikolaus hörte sich Rasputins Plan an, eine Kirche zu bauen. Er gab ihm das nötige Geld dafür, und Rasputin kehrte überglücklich in sein Heimatdorf zurück.8

Eine rührende Geschichte ist das, an der leider kein Wort stimmt. Rasputin traf keineswegs als armer, unbekannter Bauer auf der Suche nach Erleuchtung im Kloster ein. Er hatte gerade Kasan im Sturm erobert und hatte ein an Sergei adressiertes Empfehlungsschreiben im Gepäck, das aus der Feder des einflussreichen Bischofs Chrisanf oder Chrysanthos (Christofor Schtschetkowski) stammte, des Vikars der Kasaner Diözese. Es waren nicht etwa seine eigenen Worte, die Rasputin Zutritt zu Sergei verschafften, sondern die von Chrisanf.9 Das Ganze ereignete sich höchstwahrscheinlich zwischen dem Spätherbst 1904 und dem Frühjahr von 1905.10

Iwan Fedtschenkow, ein Seminarist und Unterstützer des heiligen Narren Mitja, der 1907 als Mönch Wenjamin die Tonsur empfing und später, unter Stalin, Metropolit der Russischen Kirche war, erinnerte sich daran, wie er Rasputin zum ersten Mal sah, in Sergeis Wohnung im Kloster: „Rasputin machte sofort ziemlichen Eindruck auf mich. Das lag einerseits an seiner außergewöhnlichen Intensität (er wirkte wie eine gespannte Feder oder eine Bogensehne), andererseits an seiner Fähigkeit, anderen direkt in die Seele zu schauen.“ Ohne dass Wenjamin ein Wort gesprochen hatte, sagte Rasputin ihm auf den Kopf zu, welche Pläne der junge Student für die Zukunft hatte. Wenjamin war sprachlos.

Ganz allgemein kann man sagen: Rasputin war ein wirklich außergewöhnlicher Mensch, was seinen scharfen Verstand und seinen religiösen Fokus betrifft. Man musste ihn erlebt haben, wie er in der Kathedrale betete: Er stand da wie eine gespannte Schnur, den Blick emporgerichtet, und dann auf einmal bekreuzigte er sich blitzschnell und verbeugte sich.

Ich glaube, diese außergewöhnliche Energie seiner Religiosität war der Hauptgrund für seinen Einfluss auf die Gläubigen. […] Irgendwie waren wir alle nur noch wie ungesäuertes Brot, oder, wie unser Erlöser es formulierte, das Salz in uns hatte an Kraft verloren, wir waren nicht mehr das „Salz der Erde“ und das „Licht der Welt“ […]. Wir waren erloschen […].

Und dann plötzlich erscheint eine brennende Fackel. Welche Art von Geist er besaß, welche Qualitäten, das wollten wir nicht wissen, und wir wären ohnehin nicht in der Lage gewesen, es zu erkennen, denn uns fehlten die notwendigen Kenntnisse, es überhaupt zu begreifen. Aber die Pracht dieses neuen Kometen sorgte natürlich für Aufsehen.11

Bischof Sergei war ein praktisch denkender Mensch, und er war einer der wenigen, die sich von dieser „brennenden Fackel“ aus Sibirien nicht beeindrucken ließen. Wie es scheint, hat er ihn überhaupt nur einmal getroffen, und danach wollte er nichts mehr mit Rasputin zu tun haben.12 Ganz anders der Archimandrit Feofan, ein Seminarkollege Sergeis. Feofan wurde 1873 als Sohn eines armen Dorfpriesters geboren und hieß mit bürgerlichem Namen Wassili Bystrow. Er erwies sich am Petersburger Theologischen Seminar als brillanter Student, wurde 1905 zum Inspektor des Seminars ernannt und vier Jahre später dessen Rektor. Allen existierenden Berichten zufolge war Feofan ein wahrer Mensch Gottes und besaß eine enorme geistliche Tiefe. Der religiöse Schriftsteller und Staatsbeamte Fürst Nikolai Schewachow nannte Feofan einmal einen „Mönch von außergewöhnlicher Veranlagung und enormer Autorität“, einen Mann, der einen großen Einfluss nicht nur auf die Seminaristen ausübe, sondern auf die höchsten gesellschaftlichen Kreise der Hauptstadt. Sogar die Autorin Sinaida Hippius, die mit der russischen Geistlichkeit meist recht kritisch ins Gericht ging, bezeichnete Feofan als „Mönch von seltener Demut, der ein ruhiges, gerechtes Leben lebte“. Hippius vergaß nie, wie sie Feofan kennengelernt hatte: „Ich erinnere mich an ihn, er war klein, dünn, ruhig, hatte ein dunkles, strenges kleines Gesicht und schwarzes Haar, das so glatt aussah, als sei es angeklebt.“13 Wie andere Kleriker seiner Zeit war er stets auf der Suche nach religiösen Männern aus dem narod, die ungeschliffen und ungebildet waren, aber eine umso lebendigere Kirche verkörperten. Wie Feofan zu den Seminaristen sagte: „Die Männer Gottes existieren noch immer auf Erden. Bis zum heutigen Tag ist unser Heiliges Russland voll von Heiligen. Gott sendet seinem Volk von Zeit zu Zeit Trost in der Gestalt gerechter Männer. Sie sind die tragenden Säulen des Heiligen Russland.“14 Feofan genoss es, sich mit diesen „Männern Gottes“ zu umgeben, mit ihnen zu reden und zuzuhören, wie sie über Gott und den Glauben diskutierten; ihre Worte trugen ihn weit fort von der profanen Realität von St. Petersburg, hinein in eine andere Welt.

Als Rasputin bei Bischof Sergei auftauchte, bat der Feofan hinzu, und Feofan war von dem Mann Gottes aus Sibirien, der sich „Bruder Grigori“ nannte, sofort fasziniert. Genau wie Wenjamin staunte auch Feofan über den psychologischen Scharfblick des Fremden, der den Eindruck erweckte, er könne hellsehen. Aus ihren Gesprächen wurde klar, dass dem Mann das Buchwissen fehlte, doch, wie sich Feofan nach der Revolution erinnerte, hatte er „ein ganz subtiles Verständnis des Spirituellen, das auf eigenem Erleben beruhte“.15 Bald traf sich Feofan regelmäßig mit Rasputin, und sein Erstaunen über den Pilger aus Sibirien wuchs. Er erzählte anderen von Bruder Grigori und nahm sie mit, um dessen Worten zu lauschen. Dazu gehörten auch zwei weibliche Verwandte von Feofan, die er ins Seminar einlud, um ihnen seine Entdeckung zu präsentieren. Als sie den Garten des Seminars betraten, teilte Feofan ihnen ganz aufgeregt mit, sie würden gleich einen Mann von seltener Heiligkeit und Einsicht erleben, der erst vor Kurzem aus Sibirien eingetroffen sei. „Ich habe noch nie jemanden so beten hören wie ihn“, sagte er. Wer mit ihm gebetet habe, der sehe sein eigenes Leben hinterher klarer und finde es leichter zu ertragen, versprach er den jungen Damen. Darüber hinaus verfüge der Fremde über die Gabe der Hellsichtigkeit: Er könne jedem Menschen seine Vergangenheit und Zukunft am Gesicht ablesen – eine Gabe, die er sich durch Fasten und Gebete erworben habe.16

Jedem, der ihm zuhörte, berichtete Feofan von Rasputin und seinen Wunderkräften. Als er im Sommer 1906 nach Schytomyr reiste, wohnte Feofan bei der Familie von Anna Obuchowa, der Tochter eines reichen Kaufmanns. Anna befand sich gerade in einer spirituellen Krise und erwog, in ein Nonnenkloster zu gehen. Feofan riet ihr davon ab. „Erhalte dich der Welt!“, wies er sie an. Er erzählte Anna von dem Mann aus Sibirien – „er ist ein Heiliger, ein wahrer Heiliger!“ – und sagte, sie solle sich unbedingt mit ihm treffen. Wenn ihr jemand helfen konnte, da war sich Feofan sicher, dann war es Rasputin.17

Wieso ging Rasputin überhaupt nach St. Petersburg? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Nach Rasputins eigener Aussage (und der einiger zeitgenössischer russischer Historiker mit nationalistischer Tendenz) wollte er Geld auftreiben, um daheim in Pokrowskoje seine Kirche zu bauen. Der Historiker und Dramatiker Edward Radsinski vermutet allerdings eine viel umfassendere und geradezu böswillige Motivation: Radsinskis Ansicht nach wollte Rasputin „sowohl Petersburg als auch diese ganze Welt der ‚Zaren‘ zugrunde […] richten“. Wenn wir Rasputins Tochter Maria Glauben schenken, waren die Gründe indes viel banaler: Er wollte eine bessere Schule für Maria finden, die er in Kasan hatte lassen müssen, in der Obhut einer wohlhabenden Familie, und er wollte Feofan und die anderen Geistlichen nicht enttäuschen, die ihn baten, sich in Petersburg niederzulassen.18

Die wahrscheinlichste Antwort liegt in einer Kombination mehrerer Faktoren, nämlich Rasputins Charakter, seiner spirituellen Suche und dem Erfolg seines Besuchs in Kasan. Rasputin, der Wanderer, der Suchende, hatte Tausende von Kilometern zu Fuß zurückgelegt, er hatte zahllose Städte, Kirchen und Klöster gesehen. Das Alexander-Newski-Kloster war nun einmal einer der wenigen Orte, die er noch nicht besucht hatte. Und welcher Russe hätte nicht gerne mit eigenen Augen die Hauptstadt gesehen, den Wohnsitz der Zaren? Rasputin war von Hause aus neugierig, aber er war auch ehrgeizig. Er kannte viele von Russlands heiligen Stätten und hatte mit vielen heiligen Männern gesprochen; er hatte sie mit seinen spirituellen Gaben beeindruckt – Gaben, die ihm damals kaum jemand absprach und auf die Rasputin sehr stolz war. Wir werden nie wissen, ob es Chrisanfs oder Rasputins Idee war, ihm ein Empfehlungsschreiben an Bischof Sergei mitzugeben. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Chrisanf diesen Brief aus freien Stücken und echter Überzeugung schrieb (welchen Grund hätte er sonst gehabt?) und dass Rasputin keinerlei Scheu oder Selbstzweifel hatte, diesen für ihn so wichtigen nächsten Schritt auf seiner Reise zu tun. Rasputins Ankunft in St. Petersburg markierte „den Ausgangspunkt für so viel Ungemach in seinem Leben“, wie Maria sich später erinnerte:

Mein Vater war damals fast 40 Jahre alt [in Wirklichkeit war er etwa 36]; sein Charakter war also bereits vollständig ausgebildet. 20 Jahre lang war er auf Pilgerreisen und Wanderungen gewesen, stets zu Fuß; dies und sein Leben als Bauer, seine Liebe zum Erdboden und zur Einsamkeit hatten ihn zu einem warmherzigen, freundlichen Menschen gemacht, der die Einfachheit und eine schnörkellose Redeweise schätzte. Und zugleich war er auf fast anmaßende Weise unabhängig geworden, so wie es oft bei Einsiedlern der Fall ist. Man sagte ihm nach, er sei ungebildet und verantwortungslos; wenn es ums Geld ging, mochte das sogar stimmen. Aber zugleich legte er im Umgang mit anderen Menschen eine außergewöhnliche Hellsichtigkeit an den Tag, die es ihm ermöglichte, im Handumdrehen ihre geheimsten Regungen zu ergründen. […]

Sein Auftreten und Aussehen waren robust, er war es gewohnt, stets seine Meinung zu sagen, und er ließ sich niemals einschüchtern, denn er lotete stets alle Tiefen der Gedanken der Menschen aus. So war er, mein Vater […].

Doch die Hauptstadt, kultiviert, weltlich und zynisch, wie sie war, nahm einen Bauern nicht allzu freundlich auf. Viele, viele Menschen wandten sich schon bei seinem bloßen Anblick von ihm ab. Schmutzig nannten sie ihn, obwohl er es gar nicht war, und liederlich, nur weil er Haar und Bart nicht nach der Mode der weltgewandten St. Petersburger Männer trug. Seine Weigerung, vor den Reichen und Mächtigen zu buckeln, sahen sie als Zeichen schlechter Erziehung.19

In St. Petersburg kam Rasputin vom rechten Weg ab. Wie er Fürst Wladimir Meschtscherski, dem erzkonservativen und offen homosexuellen Vertrauten von Zar Alexander III., einige Jahre später mitteilte, fand er es „schwierig, hier zu leben. Es gibt keine regelmäßigen Stunden, keine regelmäßigen Tage, nichts als Freizeit, und das bedeutet den Tod der Seele […]. Das Schicksal führte mich in die Hauptstadt. Es ist so laut hier, dass die Menschen den Verstand verlieren … Es ist wie ein lautes Rad … Oft schwillt mir von alldem das Gehirn an.“20 Auf der Straße, sagte er, kam er sich vor wie ein Blinder.

In St. Petersburg war es so laut, dass er kaum klar denken konnte. Das fand Rasputin zwar abstoßend, zugleich faszinierte es ihn aber auch, und nachdem er einmal von den Reizen der Großstadt gekostet hatte, konnte Rasputin nicht mehr davon lassen. Er würde nie wieder als einfacher, armer Pilger über Land ziehen und den Dörflern Moralpredigten halten. Seine früheren Gewohnheiten, die ihn als einen aus dem narod ausgewiesen hatten, starben hier und jetzt. Der unabhängige Freigeist, der nichts von den Versuchungen der mondänen Gesellschaft wusste und von den verführerischen Qualitäten der Macht, gehörte der Vergangenheit an, auch wenn er sein früheres Leben als Wanderer nie vergessen sollte und weiterhin zu seinem Vorteil zu nutzen wusste. Gawriil hatte es prophezeit: Wenn Rasputin nach St. Petersburg ginge, so wäre das sein Untergang. Und er sollte recht behalten.

Maria schrieb, der Umzug nach St. Petersburg sei der entscheidende Wendepunkt im Leben ihres Vaters gewesen, denn das Stadtleben habe ihn nach und nach verdorben. Auch wenn sich sein Leben dort zunächst kaum von dem zu Hause in Pokrowskoje unterschied, gab Rasputin mit der Zeit immer öfter der Versuchung nach und ließ sich „von den Verlockungen der Hauptstadt fesseln“.21 Es war ein schleichender, aber unaufhaltsamer Prozess. Wie sich Wenjamin erinnerte, begannen schon kurz nach Rasputins Ankunft in St. Petersburg „fromme Menschen, vor allem Frauen, diesen außergewöhnlichen Mann zu lobpreisen, und sein Bekanntenkreis wuchs. ‚Er ist ein Heiliger‘, riefen die Leute, als sein Ruhm weiter zunahm. Gerade die seelisch Ausgehungerten innerhalb der feinen Gesellschaft suchten die Nähe dieses ‚Lichts‘.“

Wie Fürst Schewachow feststellte, hatte die Petersburger Elite zwar ein gewisses Interesse an religiösen Fragen, wusste aber kaum etwas über die orthodoxe Kirche und hatte nur wenig Kontakt zum Klerus. Sie war naiv und ließ sich von dem Starez aus Sibirien nur allzu leicht beeindrucken – von seinen seltsamen Gewohnheiten und mysteriösen Äußerungen, davon, wie er sich nicht im Geringsten um Reichtum und Status zu scheren schien und sich überhaupt nicht beeindrucken ließ von den Aristokraten mit „vergoldeten Palästen und hochtrabenden Titeln – er redete jeden mit ty an, dem informellen ‚Du‘“.22 Feofan wollte allen seine Entdeckung zeigen und führte Rasputin in den diversen St. Petersburger Salons ein, die damals im kulturellen Leben der Stadt eine entscheidende Rolle spielten. Hier trafen sich die wichtigsten Vertreter von Adel, Kirche, Kunst und Kultur, der Presse, des Zarenhofs und des Staatsapparats, um intellektuell anregende Gespräche zu führen.

Einen der einflussreichsten Salons veranstalteten Großfürstin Sofia Ignatjewa (geb. Fürstin Meschtscherskaja) und ihr Ehemann, Graf Alexei Ignatjew, seines Zeichens stellvertretender Innenminister. In ihrer riesigen, nur schwach beleuchteten Wohnung an der Französischen Promenade, Hausnummer 26, gingen die Prominenten ein und aus – bedeutende Geistliche wie der Mönch und spätere Metropolit Serafim (Leonid Tschitschagow) und Bischof Germogen (Georgi Dolganow), bekannte Autoren und Journalisten wie Wassili Skworzow, der Herausgeber der monarchistischen Tageszeitung Die Glocke, und diverse Angehörige der High Society wie Ljubow Golowina und Alexandra Tanejewa. Viele dieser Menschen wurden erst zu glühenden Verehrern des Mannes, den Feofan ihnen in Ignatjewas Wohnung vorstellte, und später zu seinen Feinden. Die Großfürstin hatte einen Hang zu verschiedenen Formen der Mystik; sie hatte, so behauptete sie zumindest, prophetische Träume, die sie im Salon besprach. Einmal erschien ihr Vater Serafim und sagte: „Unter uns befindet sich ein großer Prophet. Er soll dem Zaren den Willen der Vorsehung offenbaren und ihn auf den Weg zum Ruhm führen.“23 Die Großfürstin hatte keinen Zweifel, wer dieser Prophet war: Rasputin.

Rasputin besuchte auch den Salon der verwitweten Baronin Warwara Iskul von Gildebrand in deren prachtvoller Wohnung in der Kirotschnaja-Straße 18. Die Baronin hatte vielfältige Interessen, von Literatur und Kunst über Politik bis hin zu kirchlichen Angelegenheiten, und so kamen ihre Gäste aus ganz unterschiedlichen Bereichen, es waren Großfürsten und Großfürstinnen, Staatsminister, Sozialisten, Priester, Tolstoianer. Die Baronin selbst fand Rasputin nicht allzu überzeugend, aber nichtsdestoweniger höchst unterhaltsam. Ihren St. Petersburger Freunden pries sie ihn als Exoten an und amüsierte sich darüber, wie er allen Gästen ungeachtet ihres sozialen Status zur Begrüßung und zum Abschied einen Kuss gab. So etwas tat man in den vornehmeren Kreisen von St. Petersburg natürlich nicht, sie hielt es für einen Brauch vom Lande.24

Von dem Historiker Wladimir Bontsch-Brujewitsch, der sich eingehend mit religiösen Sekten in Russland beschäftigte – er selbst war überzeugter Bolschewik und später persönlicher Sekretär von Lenin – besitzen wir einen detaillierten Bericht über seine erste Begegnung mit Rasputin in der Wohnung der Baronin:

Kurz nach acht erschien Rasputin. Mit freiem und leichtem Schritt betrat er Warwara Iwanownas Salon, wo er, wie es schien, nie zuvor gewesen war, und während er noch den Teppich entlang auf seine Gastgeberin zuschritt, überfiel er sie mit den Worten: „Was um alles in der Welt hast du nur getan, meine liebe Frau, wieso hast du deine Wände bloß unter so vielen Gemälden versteckt, man kommt sich hier ja vor wie in einem richtigen Museum, und wenn man bedenkt, dass man mit einer Wand fünf hungrige Dörfer ernähren könnte, oh, schau dir nur einmal an, wie du und deinesgleichen hier lebt, während die armen Bauern verhungern …“ Warwara Iwanowna stellte Rasputin nach und nach ihren Gästen vor, und er stellte Fragen über Fragen: Ist Madame A verheiratet? Wo ist ihr Gatte? Warum ist sie allein gekommen? Wenn wir zusammen wären, würde ich mich so um dich kümmern, wie du bist […]. So führte er seine Unterhaltungen, ganz ausgelassen, scherzhaft, spielerisch und zwanglos. […]

Ich achtete vor allem auf seine Augen. Sein Blick war immer konzentriert und direkt, und in seinen Augen spielte die ganze Zeit ein seltsames phosphoreszierendes Licht. Er streichelte seine Zuhörer ununterbrochen mit den Augen, und manchmal wurde er beim Reden plötzlich langsamer, dehnte die Worte und verlor schließlich den Faden, als ob er an etwas anderes denke. Und dann fixierte er jemanden mit seinem Blick, ganz direkt, sah der Person minutenlang direkt in die Augen, während er immer weitersprach, aber in einer verwirrenden Weise, sodass die Worte bald gar keinen Zusammenhang mehr erkennen ließen. Und dann kam er mit einem Mal wieder zu sich; dann war es ihm sichtlich peinlich, und er versuchte, das Thema zu wechseln und begann ein neues Gespräch.

Ich bemerkte, dass gerade sein unentwegtes Starren den größten Eindruck auf die versammelte Gesellschaft machte, vor allem auf die Frauen, denen bei seinem Blick ganz unbehaglich zumute wurde und die ihn dennoch zaghaft aus dem Augenwinkel beobachteten und sich ihm manchmal sogar wieder näherten, um noch ein wenig mehr mit ihm zu sprechen, mehr davon zu hören, was er zu sagen hatte. Wenn er mit jemandem sprach, wandte er sich manchmal plötzlich und ganz abrupt jemand anderem zu, nach dem er 15 oder 20 Minuten zuvor gesucht hatte. Dann wieder brach er das Gespräch ab und begann langsam und gedehnt vor sich hin zu reden: „Nein, Mutter, das ist nicht gut, gar nicht gut … So kann man nicht leben, sieh dich nur einmal an … Glaubst du wirklich, mit einer Beleidigung lässt sich die Angelegenheit aus der Welt schaffen … Du brauchst Liebe … Ja … Liebe ist es, was brauchst …“ Und dann wandte er sich genauso plötzlich wieder seinem früheren Gesprächspartner zu oder begann eine neue Konversation oder durchmaß rasch den Raum, manchmal nahm er einen Moment lang Platz oder beugte sich hinunter, und die ganze Zeit über hörte er nicht auf, sich höchst geschäftig die Hände zu reiben.

All das hinterließ bei den Anwesenden einen bleibenden Eindruck. Sie begannen zu flüstern und sagten, er habe in bestimmten Angelegenheiten die Zukunft geweissagt, und er verfüge über wichtige Erkenntnisse. Eine nervöse Stimmung begann sich im Raum auszubreiten, von der Art, wie man sie auch in den Klöstern erlebt, wenn Starzen und Seher anwesend sind.25

1912 lud die Baronin Sinaida Hippius in ihren Salon ein, um ihr Rasputin vorzustellen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits in ganz Russland berühmt – oder besser gesagt: berüchtigt. Hippius und ihr Ehemann, der Schriftsteller und Philosoph Dmitri Mereschkowski, lehnten jedoch ab. Sie sagte, im Gegensatz zu so ziemlich jedem anderen in der Hauptstadt hätten sie kein Interesse, sich unter die Schaulustigen zu mischen, die einen Blick auf Rasputin werfen wollten – eine Entscheidung, die, wie sie fand, ihr selbst wie auch Rasputin zur Ehre gereiche.26

Das Schriftstellerehepaar war allerdings deutlich in der Minderheit. Es schien, als könnten die meisten Menschen gar nicht genug von Rasputin und anderen wundersamen Männern Gottes bekommen, die damals in den Salons herumgereicht wurden. Der Grund dafür, so ein Journalist, war ein ganz einfacher:

In den goldenen Salons wird das Leben viel schneller langweilig als in bürgerlichen Wohnungen und bescheidenen kleinen Kammern. Für Geld kann man alles bekommen, was das Leben bietet, doch wir haben einen Punkt erreicht, an dem selbst die fantastischsten Möglichkeiten keine Erfüllung mehr bieten. Dabei hat man alles versucht! In solchen Fällen neigen die Leute dazu, sich auf das zu stürzen, was jenseits des menschlichen Fassungsvermögens liegt, sei es ein lebender Heiliger oder ein heiliger Narr oder Epileptiker. Vielleicht liegt da ja eine neue Erfahrung, vielleicht eröffnet es neue Möglichkeiten, eine neue Realität. Genau aus diesem Grund tauchen solche obskuren, geheimnisvollen Gestalten wie Rasputin überhaupt erst auf.27

Russland, so schloss er, erlebe gerade „seltsame Zeiten.“

Und die Erde wird zittern

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