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2. Der Pilger

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Im Jahr 1907 erzählte Rasputin einer seiner Anhängerinnen, einer Frau namens Chionija Berladskaja, von seinem früheren Leben. Sie schrieb seine Worte auf und half mit, sie als Büchlein mit dem Titel Das Leben eines erfahrenen Pilgers zu veröffentlichen. „Als ich noch keine 28 Jahre alt war“, erzählte Rasputin ihr,

lebte ich, wie es so schön heißt, in Frieden mit der Welt, das heißt, ich liebte die Welt und hielt mich an die Gesetze und suchte nach weltlichem Trost. Ich fuhr auf Packwagen mit, arbeitete oft als Kutscher, ich fischte und bestellte Äcker. Das ist alles wirklich gut für einen Bauern!

Ich hatte aber auch eine Menge Sorgen: Immer, wenn jemand irgendwo etwas falsch machte, gab man mir die Schuld, auch wenn ich gar nichts damit zu tun hatte. Die Arbeiter aus den Mannschaften verspotteten mich. Ich pflügte hart und schlief wenig und fragte immer wieder mein Herz, auf welchem Weg ich Erlösung finden könnte. Die Priester waren für mich Vorbilder, aber es war trotzdem nicht genau das, was ich wollte. […] Also begab ich mich auf Pilgerfahrt. Ich war aufgeschlossen und aufmerksam, und ich war an allem interessiert, ob gut oder schlecht. Ich hatte Fragen, aber da war niemand, der mir eine Antwort gab. Ich war viel unterwegs und suchte und probierte alles aus, was das Leben mir bot.1

Über die Frage, warum Rasputin sein Leben so gründlich umkrempelte, dass es ihn am Ende von Pokrowskoje in den Palast des Zaren führte, wird schon lange spekuliert. Nikolai Sokolow, der 1919 die Ermittlungen zum Mord an den Romanows leitete, behauptete, Rasputin sei nicht etwa auf der Suche nach Gott aus Pokrowskoje fortgegangen, sondern weil ihm die harte körperliche Arbeit nicht lag. Andere schrieben, er sei vor einer drohenden Gefängnisstrafe oder Verbannung wegen Pferdediebstahls geflohen. Angeblich wollte Rasputin zum fast 500 Kilometer entfernten Kloster St. Nikolaus in Werchoturje pilgern, um für seine Sünden zu büßen.2 Keine dieser Geschichten ist wirklich überzeugend. Dmitri Strjaptschew, ein langjähriger Freund Rasputins, sagte der Presse 1914, als junger Mann habe Rasputin in seinem Dorf nicht den allerbesten Ruf gehabt, nicht zuletzt weil er so viel trank. Aber dann sei ihm eines Nachts im Traum der heilige Simeon von Werchoturje erschienen und habe zu ihm gesagt: „Gib alles auf und werde ein neuer Mensch, und ich werde dich preisen.“3 In seiner Autobiografie erwähnt Rasputin ebenfalls den heiligen Simeon – jener habe ihn von Schlaflosigkeit und Einnässen geheilt, worunter er noch bis ins Erwachsenenalter gelitten habe. Dieses Wunder sei es gewesen, das seinem Leben eine neue Richtung gegeben habe.4 Rasputins Tochter Maria, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf der Welt war, schrieb, ihr Vater hätte getrunken und geraucht und Fleisch gegessen wie alle Bauern, doch dann habe er sich plötzlich verändert, all das aufgegeben und begonnen, an ferne Orte zu pilgern. In einer späteren Auflage ihrer Memoiren behauptete Maria, ihr Vater habe eine Vision gehabt: Bei der Arbeit auf dem Feld erschien ihm die Jungfrau Maria im Himmel und wies auf den Horizont. Rasputin fühlte, wie sie ihn beobachtete und ihn aufforderte, auf der Suche nach Gott durch die Lande zu ziehen. Die folgende Nacht verbrachte er allein mit einer Ikone von Maria. Als er am nächsten Morgen aufwachte, sah er, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, und er hörte eine Stimme sagen: „Ich weine für die Sünden der Menschheit, Grigori. Begib dich auf Wanderschaft, und reinige die Menschen von ihren Sünden.“5 Selbst wenn diese Geschichte wahr sein sollte, brauchte es offenbar ein wenig mehr als die Ermutigung durch die Jungfrau Maria, um Rasputin dazu zu bringen, jenseits des Horizonts Gott zu suchen. Im Jahr 1910 teilten Dorfbewohner einem Besucher mit, Rasputins plötzliche Veränderung habe mit einer Reise nach Tjumen zu tun. Dorthin sei er zusammen mit einem jungen Theologiestudenten namens Meliti Saborowski gereist, der später Mönch wurde und bis zum Rektor des Theologischen Seminars von Tomsk aufstieg. Auch Maria erwähnt Saborowski: Ihr Vater habe ihn einmal zufällig auf dem Heimweg von der Mühle getroffen. Er habe Saborowski von seinen Visionen erzählt und ihn um Rat gebeten, und der Student habe geantwortet: „Der Herr hat dich gerufen, und es ist eine Sünde, dem Ruf nicht zu folgen.“6

Nicht nur die Ursache für Rasputins Wandel liegt im Dunkeln, es ist auch nicht ganz klar, wann dieser Wandel sich vollzog. Das liegt zum Teil an Rasputin selbst. Im Jahr 1908 beispielsweise erklärte er, er habe 1893 mit seinen Pilgerreisen begonnen, als er 24 Jahre alt war.7 Doch das scheint nicht zu stimmen. In seiner Autobiografie schreibt Rasputin, er sei mit 28 zur ersten Pilgerfahrt aufgebrochen, also 1897, und dieses Datum nannte er auch in einem Gespräch, das er im Jahr 1907 mit Vater Alexander Jurjewski in Sibirien führte.8 Der spätere Zeitpunkt ist also wahrscheinlicher.

Rasputin war ein Bauer mittleren Alters (nach damaligen Maßstäben), als er beschloss, sein Dorf zu verlassen und Gott zu suchen. Eine solch radikale Entscheidung kann nur durch eine emotionale oder seelische Krise verursacht worden sein. Vielleicht war es eine Art Midlife-Crisis: Er war seit zehn Jahren verheiratet, hatte einen kleinen Sohn, ein weiteres Kind war unterwegs, und sein Leben bestand nur aus Arbeit. Sein Zuhause und seine Lieben zu verlassen, war sicherlich eine Form der Flucht, die Chance auf ein anderes Leben. Einen Vorgeschmack auf ein solches anderes Leben hatte Rasputin schon auf seinen kurzen Wallfahrten zum Kloster von Abalak und zur großen Kathedrale von Tobolsk bekommen, aber jetzt wollte er weiter fort – und viel länger wegbleiben. Rasputin war ein rastloser Mensch. Es widerstrebte ihm, allzu lange an ein und demselben Ort zu verweilen; bis ans Ende seines Lebens war er im Grunde ständig unterwegs. Aber hinter Rasputins Entscheidung steckte mehr als nur der Drang, aus dem Alltag zu flüchten. Der religiöse Impuls, der im obigen Zitat zum Ausdruck kommt, war durchaus aufrichtig, doch die vielen Fragen, die er hatte, nach Gott und dem Wesen der Religion, überstiegen die (sicherlich begrenzte) Kapazität der örtlichen Priester.

Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, wie der Rest der Familie darauf reagierte, dass Rasputin auf der Suche nach Gott das Dorf verließ. Mit Sicherheit war es für alle nicht ganz einfach. Grigori war Jefims einziger Sohn, und er wurde zu Hause gebraucht, um bei der Arbeit zu helfen. Jefim wird von seiner Idee wenig begeistert gewesen sein, und es gibt Anzeichen dafür, dass ihre Beziehung darunter litt.9 Praskowja muss es ähnlich gegangen sein, aber in der patriarchalischen Welt der russischen Bauern hatte sie keine Wahl, als ihn ziehen zu lassen.

Stranniki, religiöse Wanderer oder Pilger, waren im alten Russland eine ganz alltägliche Erscheinung. Im 18. und 19. Jahrhundert waren Wallfahrten zu den heiligen Stätten des Landes bei Arm und Reich gleichermaßen populär. Während es sich die Reichen leisten konnten, per Kutsche zu reisen, waren die Armen per pedes und mit Rucksack unterwegs. Die Pilger wanderten von Dorf zu Dorf und waren jeden Tag aufs Neue auf die Großzügigkeit von Fremden angewiesen, die ihnen etwas zu essen gaben und einen Schlafplatz zu Verfügung stellten. Oft genug blieben sie hungrig und schliefen im Freien. Sie trugen kaum mehr als Lumpen am Leib und gingen in der Regel barfuß, viele trugen Fußfesseln. Ein leichtes Leben war das wahrlich nicht. Im Jahr 1900 wanderten etwa eine Million Pilger in Russland auf der Suche nach Erlösung und Erleuchtung von einem heiligen Ort zum nächsten. Im Gehen murmelten die Pilger immer wieder die Litanei vor sich hin: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner, ich bin ein Sünder.“10

Bei vielen Russen genossen Pilger hohes Ansehen. Fjodor Tjutschew, ein bedeutender Dichter des 19. Jahrhunderts, setzte ihnen mit seinem Gedicht Der Wanderer ein Denkmal:

Er wird von Zeus behütet,

Geht er einsam in die Welt hinaus. […]

Und wenn ihm keiner Unterschlupf gewähret,

So ist er bei den Göttern doch zuhaus.11

Für die Behörden waren die Pilger allerdings alles andere als unschuldige Männer Gottes. Alexei Wassiljew, der letzte Polizeichef unter dem Zaren, schrieb, diese Männer (und Frauen) „stellen das völlig anarchische Element unter der russischen Bauernschaft dar“. Wassiljew war überzeugt davon, dass die rast- und ziellosen Gestalten in erster Linie deshalb jeden Kontakt mit dem Staat vermieden, weil sie sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtungen entziehen wollten. Daher müsse man die stranniki bekämpfen, zum Wohle der Allgemeinheit.12

„Als ich zu pilgern begann“, erinnerte sich Rasputin viele Jahre später, „entdeckte ich, welche Freude es einem bereiten kann, sich in einer ganz anderen Welt zu befinden.“ Er beobachtete, auf welch unterschiedliche Weise die Menschen Gott dienten, und er gelangte zu der Erkenntnis, dass man das Werk Gottes auch in dieser Welt verrichten konnte, wenn man aus einem tiefen Verständnis für Gottes Gnade handelte. Das Leben als Pilger war hart. Rasputin lief 50 Kilometer am Tag, bei Wind und Wetter. Er bettelte um Almosen oder übernahm Gelegenheitsjobs, um sich ein paar Kopeken zu verdienen. Immer wieder wurde er von Räubern überfallen und von Mördern drangsaliert. Ständig führte ihn der Teufel mit „unheiligem Begehren“ in Versuchung. Rasputin erniedrigte und demütigte sich selbst, um seine Entschlossenheit auf die Probe zu stellen. Er zwang sich, tagelang ohne Lebensmittel und Wasser auszukommen. Einmal wanderte er sechs Monate lang, ohne die Unterwäsche zu wechseln oder seinen Körper zu berühren, und drei Jahre lang zog er in Fußfesseln durch Russland. Nach uralter christlicher Überzeugung sollte ihn diese Missachtung des Fleisches dem Geist Christi näherbringen. Später legte Rasputin die eisernen Fesseln ab, zugunsten der „Fesseln der Liebe“: Er lernte, die Evangelien zu lesen, sinnierte über ihre Bedeutung und fand Gott in allen Dingen, vor allem in der Schönheit der russischen Landschaft. Christi Liebe erfüllte seine Seele. „Ich liebte alle Menschen ohne Unterschied“, sagte er. Als Banditen Rasputin ausraubten, gab er ihnen alles, was er bei sich hatte, und sie staunten nicht schlecht, als er sprach: „Das gehört mir nicht, es gehört Gott.“ Das Wenige, was er an Nahrung hatte, teilte er stets mit anderen stranniki. Schließlich kam alles von Gott.13

Rasputin bewunderte die Schönheit der Natur. Er war überzeugt, dass der Teufel ständig um einen herum ist. Er bekämpfte seine körperlichen Bedürfnisse. Er missachtete Geld und alles Materielle. Er staunte über die Macht der Liebe. Er lebte asketisch und gab sich als echter Freigeist ungewöhnlichen religiösen Praktiken hin. All diese Aspekte sollten Rasputins Leben auch in Zukunft beherrschen.

Werchoturje im Ural ist einer der heiligsten Orte Russlands, Dutzende Kirchen gibt es hier und das Kloster St. Nikolaus, damals eines der beliebtesten Wallfahrtsziele des Landes. Hier in Werchoturje lernte Rasputin einen der am meisten verehrten heiligen Männer seiner Zeit kennen. Makari, bürgerlich Michail Polikarpow, war ein Starez („Alter“), der unweit des Klosters in einer kleinen Hütte im Wald hauste, mit zahlreichen Hühnern, die er liebevoll versorgte. Margarita Sabaschnikowa, die erste Ehefrau des symbolistischen Dichters Maximilian Woloschin, besuchte Makari 1910 in seiner Hütte. Hinterher schrieb sie: „Sein Gesicht war ganz aus der Zeit gefallen. Tiefe Falten zeugten davon, dass er sich Sorgen machte, wenn auch nie um sich selbst, sondern stets um andere.“ Seine Augen sahen aus, als schliefe er nie. Er war wie ein Bauer gekleidet und benahm sich seltsam, starrte zum Himmel und unterhielt sich mit seinen Hühnern. Dennoch übte Makari eine geradezu mysteriöse Anziehungskraft auf sie aus: „Seine Erscheinung hatte etwas Fesselndes, eine ganz besondere Präsenz, wie sich unsere Blicke trafen – er muss wirklich ein Starez sein, dachte ich und sank vor ihm auf die Knie.“14

„Ein Starez“, schrieb Fjodor Dostojewski in die Brüder Karamasow,

ist ein Mensch, der die Seele und den Willen eines anderen in seine Seele und seinen Willen aufnimmt. Wenn Sie sich für einen Starez entscheiden, verzichten Sie auf Ihren eigenen Willen und übertragen ihn dem Starez in vollem Gehorsam, in voller Selbstentäußerung. Diesen Versuch, diese furchtbare Schule des Lebens, nimmt der Jünger freiwillig auf sich, in der Hoffnung, nach dem langen Gehorsam sich selbst zu überwinden, sich selbst in die Gewalt zu bekommen, nach lebenslanger Prüfung wirkliche Freiheit zu erlangen, das heißt Freiheit von sich selbst.15

Ein Starez besaß eine innere Weisheit, wie man sie nur selten fand. Ein gottgegebenes Charisma, das ihn in die Lage versetzte, denen, die nach Erleuchtung strebten, ein geistiger Führer zu sein. Der allererste und berühmteste Starez war Antonius der Große (251–356). Er zog sich aus der Welt zurück, um mehr als 20 Jahre lang ganz allein in der Wüste zu leben. Erst nach dieser intensiven Zeit der Isolation und Kontemplation empfing er Besucher, die ihrerseits auf der Suche nach Weisheit und dem rechten Glauben waren. Was in Antonius’ Leben zentral war, das allen späteren Starzen als Vorbild diente, war der Gedanke, dass einen erst die Zeit des Rückzugs dazu befähigte, sich der Welt vollkommen zuzuwenden.

Russlands wichtigster Nationalheiliger, Sergius von Radonesch (1314[?]–1392), war ebenfalls ein Starez: Er wandte sich von der Welt ab und begab sich in die russischen Wälder, wo er als Einsiedler ein Leben führte, das von Selbstdisziplin und ständigen Gebeten geprägt war. Mit der Zeit sprach sich herum, wo sich die Einsiedelei des heiligen Sergius befand. Die Menschen kamen ihn besuchen, und bald betrachteten sie ihn als ihren spirituellen Führer. Die Zahl seiner Jünger wuchs stetig. Schließlich gründete er ein Kloster nördlich von Moskau, das später als heiligster Ort von ganz Russland galt. Doch Sergius lebte weiterhin asketisch, und viele Pilger, die ihn besuchten, waren schockiert von dem, was sie vorfanden: Obwohl er von adliger Herkunft war, arbeitete Sergius weiterhin im Küchengarten, kleidete sich in schmutzigen Lumpen wie ein armer Bauer und nahm nur selten ein Bad. Er sah aus wie ein in die Wildnis geflohener Bettler, und doch war er mit den Großfürsten von Moskau befreundet und mischte sich sogar in die Politik ein. Am Vorabend der Schlacht zwischen Russen und Tataren auf dem Kulikowo Pole im Jahr 1380 suchte Fürst Dmitri Donskoi, der Herrscher von Moskau, Sergius auf und erbat dessen Segen.

Die Starzen sind in der orthodoxen Kirche ein verbreitetes Phänomen, und es gab sie zu verschiedenen Zeiten, doch ihre absolute Hochzeit erlebten sie im Russland des 19. Jahrhunderts, das man durchaus treffend als das „Zeitalter der Starzen“ bezeichnet hat. Vom heiligen Serafim von Sarow bis hin zu den großen Starzen des Optina-Klosters (Leonid, Makarios und Ambrosios) hatten diese charismatischen Gestalten einen enormen Einfluss auf das geistliche Leben in Russland, und zwar nicht nur auf das des gemeinen Volkes, sondern auch auf das der Dichter und Denker. Der große Starez aus den Brüdern Karamasow, Vater Sossima, hatte zumindest teilweise die Starzen von Optina zum Vorbild.16

Wie so viele andere vor und nach ihm war Rasputin zutiefst beeindruckt von Starez Makari. Dieser bescheidene Mann hatte sich dermaßen dem orthodoxen Glauben verschrieben, dass er große Teile der Bibel auswendig kannte. Seine Anhänger glaubten, er kenne nicht nur jedes einzelne Wort der Heiligen Schrift, sondern lebe auch danach, als sei er die leibhaftige Verkörperung der Lehren Jesu. Über die Beziehung zwischen den beiden wissen wir fast nichts; möglicherweise verbrachte Rasputin mehrere Monate im Kloster bei Werchoturje und wurde so etwas wie ein Schüler Makaris. Mag sein, dass Rasputin hier lesen und schreiben lernte – beides konnte er später zwar nicht wirklich gut, aber ganz passabel. Wenn dem so war, dann lernte er es jedoch von den Mönchen und nicht von Makari, denn der war Analphabet.17

Rasputin war zwar beeindruckt von Makari, nicht aber vom Kloster und den dortigen Mönchen. Später äußerte er Maria gegenüber, jene „Laster“, die so viele Klöster infizierten, hätten sich auch in Werchoturje ausgebreitet. Wahrscheinlich meinte er damit die Homosexualität. Außerdem war das Klosterleben von einer Reihe von Zwängen geprägt, die ihn abschreckten. Er sagte einmal: „Im Kloster zu leben ist nichts für mich. Dort begegnet man den Menschen mit Gewalt.“ Rasputin war der Ansicht, dass ein wahrer Christenmensch sein Heil draußen in der Welt suchen sollte. Angesichts von Rasputins rastlosem Wesen ist das kaum überraschend. Er wollte sich keiner Routine unterwerfen und erkannte keine Autoritäten an außer Gott und den Zaren. Laut Maria war es der Aufenthalt bei Makari, der ihn davon überzeugte, das Leben eines Wanderers zu führen.18

Im Laufe der Zeit begab sich Rasputin immer weiter von zu Hause fort. Im Jahr 1900 gelangte er sogar bis nach Griechenland zum Berg Athos, der seit dem 10. Jahrhundert das Zentrum der orthodoxen Mönche ist. Auf einer felsigen Halbinsel erhebt sich der „Heilige Berg“ 2033 Meter hoch über die Ägäis, mehr als 20 Klöster, Klostersiedlungen und Einsiedeleien befinden sich auf ihm. Rasputin wurde von Dmitri Petscherkin begleitet, einem Pilger, der vermutlich mit ihm verwandt war. Petscherkin war so angetan vom Leben auf dem Athos, dass er kurzerhand dort blieb, sich eine Tonsur verpassen ließ und dem Panteleimon-Kloster beitrat. Er blieb, bis das Kloster 1913 in den Mittelpunkt einer Kontroverse geriet und kehrte dann nach Pokrowskoje zurück.19

Seine Reisen hielten Rasputin monatelang, manchmal sogar mehrere Jahre von zu Hause fort. Und wenn er dann zurückkehrte, erkannte ihn mitunter nicht einmal seine eigene Familie wieder. Marias früheste Erinnerung an ihren Vater stammte vom Herbst 1903. Eines Abends spielten sie und Dmitri mit anderen Kindern aus dem Dorf, als ihre Mutter sie zum Abendessen rief. Ein großer fremder Mann mit müdem Gesicht, einer Tasche über der Schulter und in einen dreckigen Schaffellmantel gehüllt näherte sich ihnen. Er sah aus wie all die anderen Pilger, die auf ihrer Wanderschaft das Dorf passierten. Als Praskowja merkte, dass es sich um ihren Ehemann handelte, rief sie voller Freude seinen Namen – sie hatten sich zwei Jahre nicht gesehen. Maria und ihr Bruder sprangen dem Vater in die Arme und gaben ihm zahllose Küsse.

In ihren Memoiren schreibt Maria, wie sehr ihr Vater sein Heimatdorf liebte. Das war durchaus zutreffend, und dennoch überwältigte ihn jedes Frühjahr aufs Neue der Drang, Pokrowskoje zu verlassen. „Es reichte ihm nicht mehr, durch die Nachbarschaft zu spazieren“, schrieb Maria. „Mit einem Mal packte ihn das Fernweh, und eines Morgens hängte er sich seine Tasche um und machte sich wieder auf in die Ferne, entweder zu einem bekannten Wallfahrtsort oder aufs Geratewohl, im Vertrauen darauf, dass man ihn in den Dörfern, durch die er kam und wo er seine Fähigkeiten als Prediger und Geschichtenerzähler unter Beweis stellte, gastfreundlich aufnehmen würde.“ Maria und Dmitri baten ihren Vater jedes Mal sie mitzunehmen, weil sie vor allem dem bösartigen Dorfpfarrer entkommen wollten, bei dem sie Religionsunterricht erhielten. Für Vater Pjotr Ostroumow hatte Rasputin anscheinend genauso wenig übrig wie seine Kinder.20

Kaum ein religiöser Pilger hatte ein Zuhause, geschweige denn Frau und Kinder, zu denen er immer wieder zurückkehrte. Darin unterschied sich Rasputin deutlich von den anderen stranniki, doch er unterwarf sich ohnehin nicht gerne den allgemein anerkannten Regeln. Rasputin suchte stets seinen eigenen Weg, er definierte selbst, was es bedeutete, ein Pilger zu sein. Seine Entscheidung, keine Fußfesseln mehr zu tragen, ist ein Beispiel dafür. 1907 erzählte Rasputin Vater Alexander Jurjewski, als er mit seinen Wanderungen begann, habe er zunächst welche getragen. „Aber die zu tragen, ist nicht gut: Das führt dazu, dass man nur noch über sich selbst nachdenkt und glaubt, man sei bereits ein Heiliger. Daher legte ich sie ab und wechselte stattdessen ein Jahr lang mein Hemd nicht. Das ist eine bessere Möglichkeit, sich zu demütigen.“21 Rasputin war wissbegierig, intelligent und aufgeschlossen, aber zugleich unabhängig und mitunter rebellisch – von dem, was die religiöse Tradition Russlands zu bieten hatte, übernahm er immer nur das, was ihm passte. Und so schuf er seine eigene Version der bäuerlichen Orthodoxie.

Die Jahre der Wanderschaft waren seine Schule, seine Universität. Wie der strannik Luka in Maxim Gorkis Nachtasyl bekam er dabei fast alles zu sehen, was es im riesigen Zarenreich zu sehen gab, und er begegnete allen erdenklichen Arten von Menschen – fleißigen Landwirten und Arbeitern, Gaunern, Dieben und Mördern, einfachen Männern Gottes und Dorfpriestern (einige ein Ausbund an Moral, andere eher weniger), bestechlichen Beamten, Bettlern und Krüppeln, hochmütigen Adligen, bußfertigen Nonnen, brutalen Polizisten und hartgesottenen Soldaten. Er lernte alle Facetten der russischen Gesellschaftsordnung kennen und eignete sich ein eingehendes Verständnis der menschlichen Psyche an. So entwickelte Rasputin ein Talent dafür, in den Menschen zu lesen. Es kam vor, dass er jemanden noch nie zuvor gesehen hatte und ihm dennoch auf den Kopf zusagte, was ihn bewegte, welche Probleme er in der Vergangenheit gemeistert hatte, was für ein Mensch er war. Und er wusste, wie man mit den Leuten redet. Er sprach ganz frei und ungezwungen über die Heilige Schrift und über Gott, ganz anders als die Priester mit ihrem Bücherwissen. Seine Sprache war direkt, persönlich, durch und durch lebendig und geerdet, voller Anspielungen auf das tägliche Leben und die Schönheit der Natur.

„Wir saßen oft bei meinem Vater auf dem Schoß, mein Bruder Mitja, meine Schwester Warwara und ich“, so Maria über ihre Kindheit . „Er erzählte uns wundersame Geschichten, mit einer großen Zärtlichkeit, die er uns gegenüber immer an den Tag legte, und diesem abwesenden Blick, in dem sich all die Länder zu spiegeln schienen, die er besucht hatte, und die seltsamen Abenteuer, die er unterwegs erlebt hatte.“ Er berichtete von den vielen Wundern des Zarenreichs – von den tausenden goldenen Kuppeln, die bis in den Himmel ragten, vom funkelnden Reichtum der Basare der Tataren, von den mächtigen Flüssen, der heiligen Stille der sibirischen Wälder, der wilden Schönheit der Steppe. Manchmal wurde seine Stimme so leise, dass sie nur noch ein Flüstern war – immer dann, wenn er von seinen Visionen berichtete. Maria erinnerte sich später daran, wie er einmal von einer schönen Frau „mit den Gesichtszügen der Heiligen Jungfrau“ erzählte, die ihm erschienen war und von Gott gesprochen hatte. Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, malte er über den Köpfen seiner Kinder reflexartig ein Kreuz in die Luft. „Gott ist der einzige Trost im Leben“, sagte Rasputin, und er brachte ihnen bei, zu beten. Nicht jeder könne das, erklärte er, man müsse ganz fest an sein eigenes Herz glauben und alle Gedanken aus dem Geist verbannen, sodass da nichts mehr sei als Gott. In Vorbereitung auf das Beten zwang Rasputin seine Kinder, zu fasten. Er sagte, dies täten sie nicht etwa für ihre Gesundheit, wie die gebildeteren Russen glaubten, „sondern für unser Seelenheil“. Bei den Mahlzeiten sprach er stets ein Tischgebet, und jeden Abend hielt er einen kleinen Gottesdienst ab. Als Zufluchtsort für Pilger, die durch Pokrowskoje kamen, hatte er im Hof eine Hütte mit Ikonen darin aufgestellt.

Dennoch drehte sich zu Hause nicht alles nur um Gott und Religion. Rasputin genoss es, mit seinen Kindern zu lachen, sie spielten zusammen Ball und fuhren mit der Kutsche, wobei der Vater dem Sohn zeigte, wie man das Pferd lenkt. Und im Herbst freute sich Rasputin auf das alljährliche Dorffest mit Tanz und Musik.22 Maria und ihren Geschwistern wurde langsam klar, dass ihr Vater kein gewöhnlicher Mensch war. Es kamen immer häufiger Besucher ins Haus, örtliche Bauern, aber auch Fremde von weither suchten Rasputin auf, um ihr Herz auszuschütten und ihn um Rat zu bitten. Rasputin und Praskowja nahmen diese Menschen in ihrem Haus auf, gaben ihnen zu essen und ein Bett, und Grigori sorgte für die geistige Nahrung. Maria war stolz, als sie hörte, dass ihr Vater bei vielen Leuten in der Gegend als Starez galt.

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hatte Rasputin bereits eine kleine Gruppe von Schülern um sich geschart, darunter sein Schwager Nikolai Raspopow, sein Cousin Nikolai Rasputin (der Sohn von Jefims älterem Bruder Matwei) und Ilja Arapow, ein Bauer aus Pokrowskoje. Zwei Frauen waren ebenfalls mit von der Partie: Dmitri Petscherkins Schwester Jewdokia, eine Bauersfrau aus dem Bezirk Tobolsk, und deren Nichte Jekaterina Petscherkina. Die beiden Frauen, die Dunja und Katja gerufen wurden, zogen um 1906 in Rasputins Haus ein. Zunächst sollten sie lediglich Praskowja im Haushalt helfen, doch schon bald gehörten sie quasi zur Familie, und sie blieben bei den Rasputins bis nach Grigoris Tod. An den Sonn- und Feiertagen (oder wann immer sie Freizeit hatten) versammelten sich Rasputins Anhänger im Haus, um Kirchenlieder zu singen und in der Bibel zu lesen, und Rasputin interpretierte die Verse für die anderen. Unter dem Stall neben dem Haus seines Vaters, wo dieser zu jener Zeit noch wohnte, grub Rasputin eine behelfsmäßige Höhle, die ihm und seinen Jüngern als eine Art Kapelle diente. Etwas Geheimbündlerisches haftete den Versammlungen an. Bald wurden die Dorfbewohner misstrauisch und begannen zu tuscheln. Einige behaupteten, die Petscherkinas würden Rasputin im Badehaus zeremoniell waschen. Andere sagten, sie hätten seltsame Lieder aus dem Hause Rasputin gehört, ganz andere als die Hymnen, die man sonntags in der Dorfkirche sang, und Rasputin bringe seinem Gefolge mysteriöse Rituale bei.23

Maria erinnerte sich, wie die Bekanntheit ihres Vaters mit jeder Reise, von der er heimkehrte, zunahm und wie im gleichen Maße das Misstrauen der Dorfbewohner wuchs, die sich immer neue Verleumdungen ausdachten. Es gab Berichte, Rasputin hätte sich auf seiner Wanderschaft von jungen Frauen begleiten lassen – eine Behauptung, die keines Kommentars bedurfte. Vater Ostroumow reagierte in offener Feindseligkeit. Schließlich war er das religiöse Oberhaupt von Pokrowskoje, nicht dieser dahergelaufene Bauer, der immer mehr Menschen auf der Suche nach spiritueller Führung und Heilung an sich band. Ostroumow war so aufgebracht, dass er sogar versuchte, Rasputins Anhänger von ihm zu entfremden, und es gelang ihm, Ilja Arapow zu überreden, sich in Zukunft von Rasputins Haus fernzuhalten.24 Aber offenbar war er der Einzige. Ostroumow kämpfte eine verlorene Schlacht, während sich in Sibirien herumsprach, dass in Pokrowskoje ein ganz bemerkenswerter Starez lebte.

Und die Erde wird zittern

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