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8. Auf dem Weg zum Thron

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Am 1. November 1905 schrieb Nikolaus, der gerade auf Peterhof außerhalb der Hauptstadt weilte, in sein Tagebuch:

Dienstag. Ein kalter und windiger Tag. Das Wasser ist fleckenweise gefroren, vom Ufer bis zum Ende unseres Kanals. War den ganzen Vormittag beschäftigt.

Mit Pr. Orlow und Resin gespeist. Spazieren gegangen. Um 4 Uhr begaben wir uns nach Sergejewka. Hatten Tee mit Miliza und Stana. Wir machten die Bekanntschaft eines Mannes Gottes – Grigori aus der Provinz Tobolsk.

Abends hingelegt und dann eine Zeitlang gearbeitet und Zeit mit Alix verbracht.1

An jenem Nachmittag begegneten Nikolaus und Alexandra Rasputin zum allerersten Mal. Sie saßen mit ihm zusammen und lauschten drei Stunden lang seinen Worten. Binnen eines Jahres hatte Rasputin es geschafft, vom Bodensatz der russischen Gesellschaft bis ganz nach oben zu gelangen. Einen so schnellen Aufstieg hätte ihm wohl niemand zugetraut.

Wir wissen nicht, wie lange sich Rasputin bei seinem ersten Besuch in St. Petersburg aufhielt. Vielleicht kehrte er noch einmal nach Pokrowskoje zurück, bevor er dann im Laufe des Jahres 1905 wieder in die Hauptstadt reiste. Es kann aber ebenso gut sein, dass er bis zu diesem ersten Treffen mit dem Zaren vor Ort blieb. Wir wissen, dass er zunächst im Alexander-Newski-Kloster unterkam, bevor Feofan ihn im Rektorenflügel einquartierte.2 Zu den Besuchern, denen Feofan Rasputin vorstellte, gehörten auch Miliza und Pjotr. Der Archimandrit Feofan und die Schwarze Prinzessin waren beide von der, wie er es ausdrückte, „mystischen Seite des Lebens“ fasziniert, und sie kamen einander näher. Miliza begann Feofan zu sich nach Hause einzuladen, und später bat sie ihn, als ihr persönlicher Beichtvater zu fungieren. Bei einem seiner Besuche erzählte er ihr von einem Mann Gottes namens Grigori Rasputin. Miliza war sofort interessiert und lud „Bruder Grigori“ ein. Rasputin nahm die Einladung an, und schon bald war er in Milizas Haus ein häufiger und gern gesehener Gast. Dort lernte Rasputin auch Stana und Nikolascha kennen, die von dem sibirischen Starez genauso angetan waren.3 Durch diese Bekanntschaft stand ihm der Weg zum Thron offen.

Nach der Revolution, als Feofan in Sofia im Exil lebte, war er von Schuldgefühlen geplagt – letztlich war er es gewesen, der Rasputin zum Aufstieg verholfen hatte. Dennoch bestritt er vehement, den Sibirier den Schwarzen Prinzessinnen oder dem Zaren vorgestellt zu haben; damit habe er überhaupt nichts zu tun gehabt. Er behauptete sogar, er selbst habe Rasputin bei den Schwarzen Prinzessinnen zum ersten Mal gesehen, was eindeutig gelogen war, denn er hatte ihn in Sergeis Wohnung kennengelernt. Doch zu diesem Zeitpunkt war ohnehin fast niemand mehr zuzugeben bereit, dass er jemals mit Rasputin befreundet gewesen war oder an seine spirituellen Gaben geglaubt habe.4 Nach dem Sturz der Monarchie teilte Wladimir Wojeikow, Adjutant des Zaren und letzter Kommandant des Zarenpalasts (1913–1917), den Ermittlern mit, Nikolascha sei es gewesen, der Rasputin zum ersten Mal in den Palast mitgebracht habe und die Schwarzen Prinzessinnen hätten ihn dazu überredet. Andere dem Hof nahestehende Quellen bestätigten, die Schwarzen Prinzessinnen selbst seien verantwortlich gewesen, sie hätten darauf spekuliert, mit Rasputins Hilfe ihre eigene Stellung am Hof zu stärken. Offenbar glaubten die Schwestern, ein einfacher Bauer wäre das perfekte Werkzeug in ihren Händen: Über ihn hofften sie an Informationen über das Leben im Palast zu gelangen, und das würde ihnen dann dabei helfen, ihren Einfluss auf Nikolaus und Alexandra zu vergrößern.5 Um Rasputin besser kontrollieren zu können, wies Miliza ihn offenbar an, Zar und Zarin nicht ohne sie und ihre Schwester aufzusuchen – der Hof sei ein Ort der Intrigen, des Neides und der Versuchungen, und ohne ihre Begleitung sei er dort verloren. Aber er hörte nicht auf sie, und am Ende mussten die Schwarzen Prinzessinnen einsehen, dass sie sich in Rasputin gründlich getäuscht hatten: Er war viel klüger und unabhängiger, als sie geglaubt hatten. Und er hatte überhaupt nicht die Absicht, für irgendjemanden als Werkzeug herzuhalten.

Andere sind der Meinung, eine Gruppe orthodoxer Geistlicher habe Rasputin zum Aufstieg verholfen, um dem ihrer Meinung nach übermäßigen Einfluss ausländischer „heiliger Männer“ am Hof, wie Papus und Monsieur Philippe, etwas entgegenzusetzen. Wojeikow beispielsweise war überzeugt, dass Feofan Rasputin einzig und allein deshalb den Schwarzen Prinzessinnen vorstellte, damit diese ihn bei Nikolaus und Alexandra einführten. Der Zar des Heiligen Russland, so glaubten Kirchenführer wie Feofan, sollte sich russisch-orthodoxe Christen als spirituelle Wegbegleiter suchen und nicht französische „Magnetisierer“.6 Mit der Zeit entwickelte sich dieser Gedanke zu einer gut organisierten Intrige. Im Jahr 1914 zitierte der Petersburger Kurier einen „gewissen hochgestellten Würdenträger“, der die mysteriösen Umstände um Rasputins Weg zum Thron mit den Worten kommentierte: „Ein paar Geistliche nahmen einen einfachen Bauern, verwandelten ihn in einen mystischen ‚Propheten‘ und bedienten sich seiner, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Insofern ist Rasputin lediglich ein Resultat unserer ‚Kirchenpolitik‘.“7 Man muss bedenken, dass Feofan von Rasputins Aufstieg durchaus profitierte. Es ist kein Zufall, dass er binnen zwei Wochen, nachdem Nikolaus und Alexandra Rasputin kennengelernt hatten, selbst am Hof vorgestellt wurde und dass die Romanows ihn zu ihrem „persönlichen Beichtvater“ auserkoren.8

Man erzählte sich, die Schwarzhunderter oder andere nationalistische Gruppierungen hätten Rasputin unterstützt und sie hätten noch weitere Kandidaten „präpariert“, unter anderem den Mystiker Sergei Nilus. Letzterer stammte aus einer wohlhabenden Großgrundbesitzerfamilie, hatte aber nach einem religiösen Erweckungserlebnis sein Zuhause verlassen, um als strannik durch die Lande zu ziehen. Er schrieb seine religiösen Erkenntnisse in einem Buch mit dem Titel Das Große im Kleinen oder Der Antichrist als dräuende politische Gefahr nieder, dessen zweite Auflage von 1905 von besonderer historischer Bedeutung ist, da Nilus darin den gesamten Text der berüchtigten antisemitischen Fälschung Die Protokolle der Weisen von Zion mit aufnahm. Die erste Ausgabe von Nilus’ Buch (ohne die Protokolle) fand innerhalb der Kirche und in konservativen Kreisen ein positives Echo. Eine der Verehrerinnen des Mystikers war Ella, die Schwester der Zarin, und angeblich war sie es, die Nilus nach Zarskoje Selo holte mit der Absicht, ihn den Majestäten als potenziellen Nachfolger von Monsieur Philippe vorzustellen. Daraus wurde jedoch nichts, und möglicherweise ist auch an der ganzen Geschichte gar nichts dran; als Jahre später General Alexander Mossolow, der ehemalige Leiter der kaiserlichen Hofkanzlei, davon hörte, tat er es als „Märchen“ ab.9

Für die einen war Rasputin ein Werkzeug der Rechten, für die anderen ein Werkzeug der Linken. Nach der Revolution argumentierte Fürst Schewachow, auf den einige der besonders verwegenen Verschwörungstheorien zurückgehen, Rasputin sei eine Marionette des „internationalen Judentums“ gewesen, das ihn ohne sein Wissen benutzt habe, um das christliche Russland zu zerstören. Die Juden hätten Rasputin aus der Versenkung geholt und dafür gesorgt, dass er als Mann Gottes galt; es sei von Anfang an ihr Plan gewesen, ihn mithilfe der Schwarzen Prinzessinnen in den Palast einzuführen, um die Monarchie zu zerstören. „Unsichtbare Agenten der Internationale fingierten Rasputins Ruhm, und sie bedienten sich dazu niederer Juden und wagemutiger Kollaborateure, die Rasputin umgarnten. Sie kurbelten ein subtiles und ziemlich kompliziertes Spiel an und setzten dadurch ihr längst ausgearbeitetes revolutionäres Programm in Gang.“10

Es gab tatsächlich eine Verbindung zwischen Rasputins erstem Auftritt am Hof und der Revolution, doch sie hatte nichts mit dem zu tun, was Schewachow sich mit seiner kranken Fantasie ausmalte. In den Jahren 1904 und 1905 führte Russland einen erfolglosen und wenig populären Krieg gegen Japan, der mit dem beschämenden Vertrag von Portsmouth endete, während in den Städten im gesamten Zarenreich die Arbeiter streikten. Am 9. Januar 1905 wurden vor dem Winterpalais Hunderte friedlicher Demonstranten erschossen. Dieser sogenannte „Petersburger Blutsonntag“ führte letztlich zur Revolution von 1905, bei der beinahe die Monarchie gestürzt wurde. Millionen Arbeiter verließen ihre Arbeitsplätze, das gesamte Eisenbahnsystem kam zum Stillstand, Studenten gingen auf die Straße, um zu protestieren, es kam zu Unruhen im Heer und bei der Marine (am bekanntesten wurde die Meuterei auf dem Schlachtschiff Potemkin im Schwarzen Meer), und im ganzen Land griffen die Bauern zu den Waffen, steckten die Herrenhäuser in Brand und attackierten die Stellvertreter des Zaren und seiner Macht.

Als die Krise im Herbst 1905 ihren Höhepunkt erreichte, war Nikolaus endlich zu Zugeständnissen bereit. Er unterzeichnete das Oktobermanifest, das seinen Untertanen bürgerliche Grundrechte wie Rede‑, Versammlungs- und Religionsfreiheit zusicherte, die Bildung politischer Parteien erlaubte und der kürzlich eingerichteten Staatsduma echte gesetzgeberische Befugnisse und Kontrollrechte an die Hand gab. Das Oktobermanifest machte aus Russland eine konstitutionelle Monarchie. Der Zar besaß noch immer die „höchste autokratische Macht“, aber diese Macht hatte jetzt Grenzen, und die Staatsgrundgesetze von 1906 schufen ein Machtgleichgewicht zwischen Krone und Duma, das nicht ganz leicht auszubalancieren war. Das Volk reagierte euphorisch auf das Manifest, und die revolutionären Umtriebe ließen schlagartig nach. Nikolaus jedoch war am Boden zerstört: Bei seiner Inthronisierung hatte er gelobt, die autokratische Herrschaft zu schützen, und dieses Versprechen hatte er jetzt brechen müssen.11 Er schämte sich so sehr dafür, dass er während der verbleibenden Jahre seiner Regentschaft alles dafür tat, die Einschränkungen seiner Macht wieder rückgängig zu machen.

Den ganzen Oktober 1905 über trafen sich Nikolaus und Alexandra regelmäßig mit den Schwarzen Prinzessinnen und Nikolascha. Gemeinsam überstanden sie die schwersten Tage und Stunden von Nikolaus’ Herrschaft. Wahrscheinlich hat Miliza damals das Zarenpaar darauf vorbereitet, dass sie ihnen bald einen neuen Mann Gottes aus Sibirien vorstellen werde. Sie wird seine bemerkenswerten spirituellen Fähigkeiten gepriesen und erzählt haben, dass sie selbst ihn über Feofan kennengelernt habe, der sich für die Heiligkeit des Mannes verbürge. Mag sein, dass Alexandra hier bereits glaubte, dies müsse der neue Freund sein, den Philippe ihr versprochen hatte – der Mann, den sie nun dringender brauchten denn je zuvor. Die Prophezeiung erfüllte sich.

Wir wissen nicht, worüber Rasputin und Nikolaus bei ihrem ersten Treffen sprachen. Feofan sagte später aus, Rasputin habe ihm erzählt, die Zarin sei ihm bereits an jenem Abend verfallen, beim Zaren habe es etwas länger gedauert. Ein wenig über ihr Gespräch können wir dem ersten Brief entnehmen, den Rasputin Nikolaus schrieb, und zwar am 5. November, vier Tage nach ihrem Treffen:

Großer Kaiser, Zar und Autokrat ganz Russlands! Ich grüße Dich! Möge Gott Dir seinen weisen Rat geben. Wenn ein Rat von Gott kommt, freut sich die Seele, unsere Freude ist echt, aber wenn er steif und förmlich ist, dann wird die Seele mutlos und unser Kopf ist verwirrt. Ganz Russland sorgt sich, ist in einen schrecklichen Streit abgeglitten, zittert vor Freude und lässt seine Glocken erklingen für Gott, und Gott schickt uns Barmherzigkeit und ängstigt unsere Feinde mit furchterregenden Bedrohungen. Und sie, die Verrückten, sitzen nun auf einem zerbrochenen Schiff und haben nur Torheiten im Kopf, und wie das Sprichwort sagt: „Der Teufel hatte eine ganze Zeitlang zu tun, aber am Ende kam er unter der Veranda hervorgeflogen“ – so ist es auch mit der Kraft Gottes und Seinen Wundern! Missachte unsere einfachen Worte nicht! Du als unser Herr und wir, Deine Untertanen, müssen unser Bestes tun, wir müssen zittern und zu Gott beten und Euch vor allem Übel bewahren, vor allen Verwundungen schützen, jetzt und in Zukunft, damit Dein Leben für immer fließen wird wie der lebensspendende Frühling.12

Dieser Brief, der früheren Biografen entgangen ist,13 ist unglaublich wichtig, denn er zeigt, dass sich Rasputin von Anfang an nicht scheute, Politisches und Staatsangelegenheiten mit dem Zaren zu besprechen. Er traute sich sogar, Nikolaus zu sagen, welcher Art von Ratschlägen er in jenen unruhigen Zeit folgen sollte: solchen, die von Gott kämen, und nicht solchen, die „steif und förmlich“ seien – ein deutlicher Seitenhieb auf die Minister des Zaren. Wenn er über seine Untertanen herrsche, teilte Rasputin Nikolaus mit, so müsse er nur auf das Wort Gottes hören. Was er nicht explizit sagt, ist, dass er einen „Mann Gottes“ brauchte, um das Wort Gottes zu vernehmen – und als einen solchen „Mann Gottes“ hatte Nikolaus Rasputin bezeichnet, als er ihn zum ersten Mal in seinem Tagebuch erwähnte. Der Brief weist noch auf eine weitere Facette der Beziehung hin, die sich zwischen den beiden entwickeln sollte. Rasputin versuchte unermüdlich, Nikolaus das zum Regieren nötige Selbstvertrauen einzuflößen; er ermutigte ihn, Stärke zu zeigen und an sich und seine Herrschaft zu glauben. Kurz nach Rasputins Tod kam die Geschichte auf, er habe seinen Platz am Hof der Tatsache zu verdanken gehabt, dass er den Zaren im Herbst 1905 auf dem Höhepunkt der Unruhen überredete, nicht aus dem Land zu fliehen; er habe Nikolaus versichert, alles würde gut enden und er und seine Familie hätten keinen Grund, um ihr Leben zu bangen.14 Die Ochrana, die zaristische Geheimpolizei, berichtete 1915, Rasputin habe den Zaren während der Revolution von 1905 sogar in spezifischen politischen Fragen beraten; beispielsweise habe er Nikolaus gesagt, es sei „noch zu früh“, um Russland eine Verfassung zu geben.15 Ob diese Behauptung stimmt, lässt sich kaum beurteilen.

Rasputins Brief ist auch aufschlussreich im Hinblick auf das, was nicht darin vorkommt: Mit keinem Wort erwähnt er Geld für einen Kirchenbau. Und vor allem fällt kein einziges Mal der Name Alexei. Lange Zeit glaubte man, Rasputin habe des kranken Thronfolgers wegen Zugang zum kaiserlichen Hof erhalten, weil die Zarenfamilie einen Wunderheiler für Alexei suchte. Die Wirklichkeit war um einiges komplizierter. Rasputin hatte nicht nur weise Worte parat, was den Zustand von Alexei betraf, sondern den Zustand des Russischen Reichs, und für beides waren Nikolaus und Alexandra ihm gleichermaßen dankbar – für Letzteres vielleicht sogar noch mehr. Das Land schien zu zerfallen, und da kam dieser bescheidene Bauer daher, der Nikolaus genau das sagte, was er hören wollte: Er müsse nur auf den wundertätigen Gott vertrauen. Er sei nun einmal der rechtmäßige Herrscher Russlands, und seine Untertanen hätten sich ihm zu unterwerfen und ihm zu gehorchen. Nur wenn es dem Zaren gut gehe, gehe es auch Russland gut.

Und die Erde wird zittern

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