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4. Monsieur Philippe

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Viele verschiedene Namen dachte man sich für sie aus. Man nannte sie die Schwarzen Damen, die Schwarze Gefahr, die Spinnen von Montenegro, die Schwarzen Seelen, die Schwarzen Krähen und die Schwarzen Prinzessinnen. Miliza und Anastasia kamen 1866 und 1868 in der montenegrinischen Stadt Cetinje zur Welt. Sie waren die Töchter des dort regierenden Fürsten und späteren Königs von Montenegro („Schwarzer Berg“), Nikolai I. Petrović-Njegoš. Zar Alexander III. lud die Schwestern nach St. Petersburg ein, damit sie das Smolny-Institut besuchen konnten, eine höhere Bildungsanstalt für adlige Mädchen. Schon bald bewegten sie sich in den exklusivsten Kreisen der Hauptstadt. Im Sommer 1889 heiratete Prinzessin Miliza Großfürst Pjotr Nikolajewitsch, einen Cousin des späteren Zaren Nikolaus II., und Anastasia, genannt Stana, heiratete Fürst (und später Herzog) Georg von Leuchtenberg, einen entfernten Verwandten der Romanows. Stana hatte mit ihrer Ehe kein Glück, Georg verließ sie (und Russland) und zog zu seiner Geliebten nach Biarritz. Allzu unglücklich war Stana darüber indes nicht, schließlich hatte sie bereits selbst einen Geliebten.

Die zwei Schwestern waren unzertrennlich. Stana verbrachte die meiste Zeit auf den diversen Anwesen ihrer Schwester und ihres Schwagers, in der Villa in der Petersburger Galernaja-Straße oder im weitläufigen Snamenka-Schloss am Finnischen Meerbusen, nahe des Zarenschlosses Peterhof. Im Haus ihrer Schwester lernte Stana Pjotrs älteren Bruder, Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, kennen, und sie verliebte sich in ihn. Nikolascha, wie seine Familie ihn nannte, war eine eindrucksvolle Gestalt – ein Riese von einem Mann mit stechend blauen Augen und einem hölzern soldatischen Auftreten. Als Heeresoffizier war er berüchtigt dafür, ständig seine Untergebenen zu maßregeln, die ihn entsprechend fürchteten. Es hieß, er habe bei einem festlichen Abendessen seinen eigenen Hund, einen Barsoi, entzweigeschlagen, um den geschockten Gästen zu beweisen, dass er das schärfste Schwert des russischen Militärs besaß. „Onkel Angst“ nannten ihn manche Leute hinter seinem Rücken, sogar seiner Familie galt er als der „gefürchtete Onkel“. Maria Fjodorowna, die Mutter von Zar Nikolaus II., sagte, Nikolascha leide „unter einer unheilbaren Krankheit – er ist dumm“. Der Aussage eines von Russlands größten damaligen Staatsmännern zufolge war Nikolascha davon ganz gerührt.1 Es dauerte ein paar Jahre, aber Ende 1906 willigte Nikolaus schließlich in Stanas Scheidung ein, und im Jahr darauf heiratete sie Nikolascha. Sie hatten sich gesucht und gefunden. Stana wurde eine von Alexandras engsten Freundinnen, und auch mit Nikolaus verstand sie sich prächtig. Viele Aristokraten hatten den Eindruck, Stana und ihr Mann übten ungebremsten Einfluss auf den Zaren aus.

Beide Großfürsten, Pjotr und Nikolascha, gaben ihren Ehefrauen gerne nach. Vor allem die schwarzhaarige und resolute Miliza, eine selbsternannte Expertin für das Übernatürliche, bekam immer ihren Willen. Sie war äußerst belesen, hatte die persische Sprache studiert, beschäftigte sich eingehend mit allen Spielarten von Mystik und Okkultismus, und es gelang ihr, auch ihren Mann sowie Stana und Nikolascha dafür zu begeistern. Im September 1900 wurde Miliza von der Hochschule für Hermetische Wissenschaften in Paris der Titel „Doktorin der Hermetik (ad honorem)“ verliehen. Leiter der Hochschule war der bedeutendste Protagonist der französischen Okkultismus-Szene, Gérard Encausse (1865–1916), besser bekannt unter dem Namen Papus. Der studierte Mediziner beschäftigte sich schon lange intensiv mit esoterischem Wissen, von dem er glaubte, es stamme direkt aus den antiken Kulturen von Ägypten, Babylon und sogar Atlantis und sei in verschiedenen Symbolen und Traditionen überliefert. Seine diesbezüglichen Studien veröffentlichte er in mehreren äußerst populären Bücher. Doch Papus war nicht nur Lehrer und Schriftsteller, sondern auch ein prominenter Freimaurer und der Leiter zweier französischer Orden, des Ordre du Martiniste und des Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix. Um die Jahrhundertwende war Papus mehrmals in Russland. Im Winter 1900/01 gab er Privatvorlesungen vor einer Reihe von Großfürsten und -fürstinnen, zu denen auch die Schwarzen Prinzessinnen und ihre Gatten zählten. Dabei ging es um verschiedene obskure Themen wie die Archäometrie. Man nimmt an, dass Papus zu jener Zeit in St. Petersburg eine Loge des Martinisten-Ordens einrichtete (eines Zweigs der französischen Freimaurer, dessen Wurzeln bis ins 18. Jahrhundert reichten), zu deren Mitgliedern Pjotr und Nikolascha zählten. Einige Quellen geben an, Nikolascha habe Papus bei Zar Nikolaus eingeführt und jener sei der Loge ebenfalls beigetreten. Laut dem späteren französischen Botschafter in Russland, Maurice Paléologue, hielt Papus während der Revolution von 1905 am Hof eine Séance ab, bei der er den Geist von Alexander III. anrief. Der verstorbene Herrscher riet seinem Sohn, angesichts der Gefahr standhaft und besonnen zu bleiben und die Revolution um jeden Preis niederzuschlagen. Papus teilte Nikolaus mit, er selbst werde all seine Macht dafür einsetzen, eine weitere Revolution in Russland zu verhindern, allerdings halte seine Macht nicht über seinen Tod hinaus an. Papus starb Ende Oktober 1916, vier Monate vor dem Zusammenbruch der Romanow-Dynastie.2

Zurück in Frankreich, stellte Papus dem russischen Militäragenten Graf Valerian Murawjow Amurski einen mysteriösen Franzosen mit Namen Monsieur Philippe vor, der damals gerade die High Society für sich einnahm. „Er ist ein weiser Mann“, rief Papus aus. „Wenn er spricht, ruht das große Geheimnis seiner Macht in jedem seiner Worte!“3 Sein voller Name lautete Philippe Nazier-Vachot (mitunter finden sich in den Quellen auch Anthèlme Nizier Philippe und Nizier-Anthèlme Vachod), und er war 1849 in Savoyen als Sohn einer bäuerlichen Familie zur Welt gekommen. Philippe ging zunächst bei seinem Onkel, einem Metzger, in die Lehre, siedelte dann nach Lyon um, wo er eine Zeitlang Medizin studierte. Ob er die Universität freiwillig verließ oder exmatrikuliert wurde, ist unklar; auf jeden Fall erhielt er keinen Abschluss. Doch das hinderte ihn nicht daran, Karriere zu machen: Schon im Alter von 13 Jahren habe er, so behauptete Philippe, heilende Kräfte besessen, und nach seinem Studium konzentrierte er sich darauf, seine Gabe auf eigene Faust weiterzuentwickeln. Er tauchte tief in die Welt des Okkulten, der Hypnose und – angeblich – der Magie ein. Im Jahr 1881 richtete er sich ein eigenes Labor ein und begann, Patienten zu empfangen. Er behandelte sie mit einer Vielzahl von Methoden und Substanzen, unter anderem solchen, die er als „psychische Flüssigkeiten und Astralkräfte“ bezeichnete. Keine europäische Bildungsinstitution verlieh ihm jemals ein Diplom, aber einem Bericht zufolge reichte er 1884 bei der University of Cincinnati eine Dissertation zum Thema „Grundsätze der Hygienevorschriften bei Schwangerschaft, Geburt und Kindheit“ ein.4 Diplom hin oder her: Monsieur Philippe wurde schnell in ganz Frankreich bekannt, und er gewann im Handumdrehen eine große Anhängerschar in der Oberschicht. Auch wenn er rein physisch nicht allzu attraktiv war – dunkles Haar, eine dickliche Figur, durchschnittlich groß, ein etwas übertriebener Schnurrbart und Augen mit großen, schweren Lidern –, so schwärmte doch jeder, der ihn kennenlernte, von „seinem Charme“, und selbst die Presse feierte ihn als „Cagliostro unserer Tage“.5

Ein Zeuge einer seiner Séancen merkte an, welch große Wirkung er auf Frauen hatte. Er ging in Pantoffeln, auf die ein Pfeife rauchender Hund aufgestickt war, im Raum umher und begrüßte alle Anwesenden mit sanftem Händedruck. Dann kam eine Frau nach der anderen auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr, „avec un air de confiance amoureuse“. Er sagte ihnen, er habe leider nicht genug Zeit, sich um jede von ihnen einzeln zu kümmern, aber wenn sie nur wirklich glaubten, würden sie alle geheilt. Dann lächelte er die Frauen an, und sie schienen unter seinem Blick geradezu dahinzuschmelzen. Im Anschluss sprach er vage über Gott und den Magnetismus und dass er selbst ein Nichts sei – was seine Zuhörer noch mehr davon zu überzeugen schien, dass er über einzigartige Kräfte verfügte. Graf Amurski nahm an einer von Philippes Séancen in Paris teil, die am Jahrestag der Hinrichtung von König Ludwig XVI. stattfand. Den Besuchern wurde einiges geboten: Philippe rief den Geist des Königs an, und zu aller Erstaunen erschien wie durch ein Wunder ein grausiger abgeschlagener Kopf. Bluttriefend schwebte er mitten in dem abgedunkelten Raum, und bevor sie wussten, wie ihnen geschah, verschwand er wieder in der Dunkelheit.6

Möglicherweise lernten die Schwarzen Prinzessinnen Monsieur Philippe zu Beginn des Jahres 1900 über Graf Amurski kennen. Stana suchte damals Abhilfe für ihre Migräne, und Miliza und Pjotr wollten ihren kranken Sohn Roman behandeln lassen. Sie waren allesamt dermaßen beeindruckt von Philippe, dass sie ihn nach Russland einluden, wo sie ihn am Hof einführen und insbesondere der Zarin vorstellen wollten.7 Die Schwestern gehörten zu den wenigen Menschen am Zarenhof, die Alexandra nach ihrer Ankunft in Russland mit offenen Armen empfangen hatten. Sie taten alles, was ihnen möglich war, um ihr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, und sie sorgten dafür, dass sie mit dem Respekt behandelt wurde, der ihr gebührte. Miliza unterhielt sich mit Alexandra ausführlich über Okkultismus und Mystik. Sie sprach ganz glaubhaft von wahren Männern Gottes, von Propheten und Sehern aus dem gemeinen Volk und überzeugte die Zarin davon, dass solche Männer tatsächlich existierten – Männer, die frei waren von der Eitelkeit und Verderbtheit, die am Hof und in der feinen Gesellschaft herrschten. Miliza war sich nicht nur sicher, dass der Antichrist existierte, sondern auch, dass er die zeitgenössische Gesellschaft fest im Griff hatte. Alexandra hörte ihr zu, und sie glaubte ihr. Laut Anna Wyrubowa, der engsten Freundin der Zarin, sah Alexandra in Miliza praktisch eine „Prophetin“ und hing an ihren Lippen. Miliza gelang es sogar, Alexandra davon zu überzeugen, dass Elena, die Königin von Italien und Schwester der Schwarzen Krähen, von einem bösen Geist besessen war.8 Nach ihrer Rückkehr aus Frankreich erzählten Stana und Miliza dem Zarenpaar von dem bemerkenswerten Mann, den sie kennengelernt hatten und den beiden nur allzu gerne vorstellen würden.

Nikolaus hielt ihr erstes Zusammentreffen in seinem Tagebuch fest und schrieb am 26. März 1901: „Ich traf mich mit einem bemerkenswerten Franzosen, Monsieur Philippe! Wir sprachen eine ganze Weile miteinander.“ Philippe blieb rund drei Monate in Russland, und im Hochsommer kam er wieder. Nikolaus und Alexandra suchten ihn direkt am Tag seiner Ankunft, dem 9. Juli, auf und verbrachten den Abend mit Philippe, den Schwarzen Prinzessinnen, Pjotr und Nikolascha im Snamenka-Schloss. Sie hörten ihrem exotischen Besucher stundenlang zu und waren völlig hingerissen. Gleich am nächsten Abend trafen sie Monsieur Philippe erneut. „Was für wunderbare Stunden!“, schrieb der Zar nach dieser Begegnung in sein Tagebuch. Am 11. Juli aß Philippe mit der Zarenfamilie zu Mittag. Er führte ein langes Gespräch mit Alexandra unter vier Augen, und anschließend stellte ihm das Paar seine vier Töchter vor – auch Anastasia, die erst im Monat zuvor auf die Welt gekommen war. „Wir zeigten ihm unsere Töchter“, schrieb Nikolaus ganz beseelt, „und beteten mit ihm zusammen im Schlafzimmer!“ Inzwischen bezeichneten sie ihn schon als ihren „Freund“.

Bis zu seiner Abreise am 21. Juli sahen Nikolaus und Alexandra Philippe jeden Tag. Vor allem Nikolaus fühlte sich zu ihm hingezogen. Am 12. Juli saßen die beiden im Snamenka-Schloss mehr als drei Stunden lang ungestört zusammen. „Die Wege des Herrn sind unergründlich!“, vermerkte Nikolaus an diesem Abend in seinem Tagebuch. Alles drehte sich um den Franzosen, Nikolaus und Alexandra dachten an nichts anderes mehr. Am 15. Juli verließen sie eine Theateraufführung in der Pause, um Philippe zu treffen; bis halb drei Uhr in der Früh hingen sie an seinen Lippen. Monsieur Philippe sprach stundenlang von den Wundern Gottes, und ein paar Mal erreichte er dabei vor den Augen seiner Freunde einen Zustand religiöser Ekstase. Sie erledigten all ihre offiziellen Verpflichtungen, so schnell es ging, um so viel Zeit mit ihm zu verbringen wie nur möglich. Ein Besuch bei Monsieur Philippe war der Höhepunkt eines jeden Tages. Der Zar lud ihn sogar ein, ihn bei öffentlichen Zeremonien zu begleiten, wie am 14. Juli, als Nikolaus in der Nähe von Krasnoje Selo seine Truppen inspizierte, und noch einmal drei Tage später eben dort, anlässlich eines feierlichen Marschs. Am Abend des 18. Juli führten sie im Snamenka-Schloss ein „wichtiges Gespräch“ (so Nikolaus’ Worte), und zwei Tage später beteten sie zusammen. Schließlich mussten sich Nikolaus und Alexandra am späten Nachmittag des 21. Juli von Philippe verabschieden. „Wir alle fühlen uns, als wären wir verwaist!“, schrieb der niedergeschlagene Nikolaus an jenem Abend in sein Tagebuch. Als er eine Woche später wieder nach Snemanka fuhr, kam es Nikolaus „seltsam“ vor, dass „unser Freund“ nicht mit von der Partie war.9

Doch auch wenn Monsieur Philippe fort war: Sein Einfluss blieb. Als Nikolaus auf der kaiserlichen Jacht „Standart“ nach Danzig reiste, um sich mit dem deutschen Kaiser Wilhelm zu Gesprächen über die Situation in Fernost zu treffen (Wilhelm suchte die Unterstützung der Russen) und sich ein deutsches Marinemanöver anzusehen, schrieb ihm Alexandra am 27. August: „Meine Gedanken und Gebete sind die ganze Zeit über bei dir. Und ich weiß, dass dies auch für M. P[hilippe] gilt, und das allein tröstet mich, sonst wäre diese Trennung zu schrecklich. […] Vergiss nicht, Samstagabend um 10:30 – alle unsere Gedanken sollen sich auf Lyon richten. Wie reich unser Leben geworden ist, seit wir ihn kennengelernt haben. Es scheint, alles ist viel leichter zu ertragen.“10

Von Danzig aus fuhr Nikolaus weiter nach Frankreich. Er reiste gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Émile Loubet mit der Eisenbahn nach Compiègne nordöstlich von Paris, wo er mit Alexandra zusammentraf. Dort stattete Monsieur Philippe ihnen am 6. September einen Überraschungsbesuch ab. Schon am nächsten Tag sahen sie ihn wieder, und er stellte ihnen seinen Schwiegersohn Dr. Emmanuel Henri Lalande vor, der unter dem Pseudonym „Marc Haven“ okkultistische Bücher schrieb. Während seines Aufenthalts in Frankreich erwähnte Nikolaus Monsieur Philippe in einem Gespräch mit Außenminister Théophile Delcassé, und er drängte den Minister, seinem Freund das französische Arztdiplom zu verleihen. Delcassé und Loubet waren ebenso schockiert von der Bitte des Zaren selbst wie von der Hartnäckigkeit, mit der er sie vorbrachte. Für sie war Monsieur Philippe ein absoluter Scharlatan. Nikolaus’ Bitte ignorierten sie geflissentlich.11

Bedeutsame Gespräche, Gebete und Andachten, Forderungen an den französischen Präsidenten … Von Anfang an war offenkundig, wie groß der Einfluss war, den Monsieur Philippe auf Zar und Zarin ausübte. Dies war keine amüsante Ablenkung von den Bürden der Herrschaft. Ganz im Gegenteil. In ihrem neuen Freund hatte das Paar endlich jemanden gefunden, der ihnen half, die Last der Regierung zu schultern. Philippe war praktisch über Nacht zu einem der wichtigsten Vertrauten des Zaren geworden, und ganz offensichtlich nutzte er seinen Einfluss dazu, den Monarchen in Regierungsangelegenheiten zu beraten. Vermeintlich von Miliza stammende Notizen, die sie sich nach einer Séance in Snamenka gemacht hatte, enthalten ein paar Einschätzungen, die er Nikolaus gegenüber äußerte: „Krieg wird nach England kommen“, prophezeite er ihm, und: „Witte wird für Ärger sorgen.“ Auf Graf Sergei Witte, den Finanzminister und späteren Premierminister, der Maßnahmen zur Industrialisierung und Modernisierung der Wirtschaft und der politischen Strukturen Russlands durchsetzte, schien Monsieur Philippe es besonders abgesehen zu haben. Den Schwarzen Prinzessinnen gegenüber soll er Witte einmal als tödliche „Spinne“ bezeichnet und behauptet haben, ein unreiner Geist habe von seiner Seele Besitz ergriffen. Monsieur Philippe tat, was er konnte, um Nikolaus dazu zu bringen, keinerlei politischen Reformen zuzustimmen, die die autokratische Macht des Zaren schwächen würden. Er teilte dem kaiserlichen Paar mit, eine Verfassung werde sowohl Russland als auch Nikolaus persönlich in den Ruin stürzen – diese Worte sollten weder Nikolaus noch Alexandra jemals vergessen. Philippe versuchte den Zaren davon zu überzeugen, dass ihm nicht das gleiche Los beschieden sei wie den vielen konstitutionellen Monarchen, nein, er sei zu Höherem bestimmt. Er werde einmal der „alles überstrahlende Kaiser des Ostens“ sein und die Interessen ganz Europas im Orient verteidigen. Der Zarin teilte Philippe mit, sie besitze die unfehlbare Fähigkeit, andere Menschen zu lesen, und könne ganz intuitiv Freund und Feind unterscheiden.

Doch Monsieur Philippes Einfluss ging noch weiter, er erstreckte sich sogar auf Alexandras Uterus. Eines von Philippes angeblichen Talenten bestand darin, das Geschlecht eines Fötus zu bestimmen. Wie er dabei vorging, wissen wir nicht genau. Einige behaupteten, er vollführe „hypnotische Handbewegungen“ über dem Bauch der Schwangeren, andere meinten, er bediene sich einer Mischung aus Astronomie, Hermetischer Medizin und Psychurgie.12 Die Geburt von Anastasia in jenem Frühjahr war eine herbe Enttäuschung gewesen – schon wieder ein Mädchen, das vierte inzwischen. Alexandra, Nikolaus und das ganze Zarenreich warteten verzweifelt auf einen männlichen Thronfolger. Philippe war ihre letzte Hoffnung, und Nikolaus und Alexandra vertrauten sich ihm nur allzu gerne an.

Im November 1901 kehrte Philippe nach Russland zurück und bezog ein kleines Haus in Zarskoje Selo in der Nähe des Alexanderpalasts, der Residenz der Romanows außerhalb von St. Petersburg. Den Abend des 7. November verbrachte er mit Nikolaus sowie Nikolascha, Pjotr und ihren Frauen, die alle vor Kurzem von der Krim zurückgekehrt waren, wo er die Freunde auch schon besucht hatte. Am 9. November traf sich die ganze Runde im Snamenka-Schloss und empfing dort außerdem Philippes Tochter Victoria und seinen Schwiegersohn Lalande. Nikolaus hatte gute Nachrichten für seinen Gast: Am selben Tag hatte er für Philippe von der Militärmedizinischen Akademie ein Medizinerdiplom ausstellen lassen. Um die Auszeichnung abzurunden, orderte Nikolascha noch eine Militärarzt-Uniform dazu. Philippe blieb zwei Monate, und bis dahin war es ihm offenbar gelungen, Alexandra davon zu überzeugen, dass sie wieder schwanger war, und zwar dieses Mal mit einem Jungen. Es hieß, Alexandra habe sich so gefreut, dass sie ihm die Hand küsste. Bevor er abreiste, wies Philippe Alexandra an, diese Neuigkeit bis auf Weiteres geheim zu halten; sie solle es weder ihren Ärzten mitteilen noch sich von ihnen untersuchen lassen. Nachdem er fort war, kannten Nikolaus, Alexandra, die Schwarzen Prinzessinnen und ihre Ehemänner kein anderes Gesprächsthema mehr als den wundertätigen Monsieur Philippe.

Als sie sich im März 1902 wiedersahen, war Alexandra tatsächlich schwanger. Ihr Bauch war bereits dicker geworden, und sie hatte aufgehört, ein Korsett zu tragen. Die Prophezeiung des Freundes wurde wahr. Ende des Monats verbrachten Nikolaus und Alexandra drei Abende mit Philippe. Am 29. März blieben sie bis ein Uhr morgens wach, um ganz verzückt seinen „Lehren“ zu lauschen – um Nikolaus zu zitieren: „Für immer und immer könnte ich ihm zuhören“, seufzte er. Sie luden Philippe ein, seine letzten Stunden in Russland im Garten des Winterpalais zu verbringen. Tags darauf verabschiedeten sie ihn „voll Trauer“, aber die Wärme seines Besuchs blieb ihnen nach seiner Abreise noch eine Weile erhalten.13

Spätestens im Frühjahr 1902 hatten auch andere Mitglieder der Familie Romanow und die übrigen Angehörigen des Zarenhofs Notiz von dem mysteriösen Fremden genommen, und man hatte zu reden begonnen. Am 8. Mai notierte Staatssekretär Alexander Polowzow in seinem Tagebuch, er wisse aus sehr zuverlässiger Quelle, dass Ihre Majestäten dem Okkultisten aus Lyon vollkommen verfallen seien. Die Schwarzen Prinzessinnen hätten ihn nach Russland eingeladen, wo er für Zar und Zarin Séancen veranstaltet habe. Dabei beschwor er diverse Geister, und zwar meistens denjenigen Alexanders III., der seinem Sohn Regierungsratschläge geben sollte. Witte hatte gehört, Philippe versuche Nikolaus davon zu überzeugen, sich als Herrscher von niemand anderem mehr beraten zu lassen als von hochstehenden Kirchenmännern, die er, Philippe, dem Zar vorstellen werde. Es war von einer von Philippe eingerichteten geheimen okkulten Loge am Hof die Rede, und man erzählte sich, Philippe sei im Auftrag von Juden und Freimaurern nach Russland geschickt worden, die den Zar unter ihre Kontrolle bringen wollten.14

Zu denen, die diesen und anderen Gerüchten Glauben schenkten, zählte die Zarinmutter. Monsieur Philippes Einfluss auf ihren Sohn bereitete ihr solche Sorge, dass sie den Palastkommandanten, General Pjotr Gesse, anwies, sich mit der Vorgeschichte dieses Mannes zu befassen; sie hielt ihn für einen „Satanisten“ und einen Vertreter der internationalen Freimaurerei, die die Monarchie zu Fall bringen wollte. Gesse delegierte die Angelegenheit an Pjotr Ratschkowski, den Leiter der in Paris stationierten zaristischen Auslands-Geheimpolizei. Er musste nicht lange warten, bis Ratschkowski ihm berichtete, Philippe sei eine „obskure und verdächtige Gestalt“, beschäftige sich amateurhaft mit Schwarzer Magie und sei ein „Jude“ mit Verbindungen zu einer Loge namens „Grande Alliance Israélite“. Er fügte einen Artikel aus Le Temps bei, der Philippe einen Scharlatan und Möchtegern-Magnetiseur nannte und diverse Informationen aus Kreisen der französischen Polizei enthielt. Es wurde gemunkelt, Nikolaus habe, als Gesse ihm diesen Bericht vorlegte, bloß einen kurzen Blick darauf geworfen, den Bericht zerrissen, auf den Boden fallen lassen und sei mit den Füßen darauf herumgetrampelt. Dann, so hieß es, habe Nikolaus seinen Innenminister Wjatscheslaw von Plehwe angewiesen, Ratschkowskis Untersuchung ein sofortiges Ende zu bereiten, und Alexandra habe Miliza gebeten, Philippe ihre aufrichtigsten Entschuldigungen für die Unannehmlichkeit zu übermitteln, die Ratschkowski ihm und seiner Familie bereitet hatte.15 Plehwe feuerte Ratschkowski im Oktober, vor allem, um beim Zaren Schönwetter zu machen. Die Affäre „Monsieur Philippe“ muss bei Ratschkowskis Sturz eine wichtige Rolle gespielt haben, auch wenn es noch weitere Faktoren gab, die vielleicht sogar mehr ins Gewicht fielen. Das änderte aber nichts an den Gerüchten, die besagten, Philippe habe Ratschkowski zu Fall gebracht. Großfürst Sergei Michailowitsch, Sandros Bruder, erzählte herum, dass Nikolaus binnen 24 Stunden nach Lektüre des Berichts befohlen habe, Ratschkowski zu entlassen. Es hieß, Philippe habe dem Zaren über Miliza eine Nachricht zukommen lassen, angeblich lautete sie, „der Himmel“ fordere Ratschkowskis Entlassung.

Im Juli bekam Alexandra Besuch von ihrer Schwester Ella, die versuchte, mit ihr über Monsieur Philippes schlechten Leumund zu reden. „Sie hat sehr viel Unvorteilhaftes über ihn gehört“, schrieb Alexandra am 23. Juli an Nikolaus, „und, daß er nicht vertrauenswürdig sei. Ich wollte gar nicht wissen, was man sich so erzählt, sondern erklärte ihr, das alles hänge nur mit Eifersucht und Neugier zusammen. Sie sagte, es gäbe da so viel Geheimniskrämerei, worauf ich entgegnete, daß das nicht zutreffe, daß wir alles ganz offen täten und daß sich in unserer Position ja sowieso nichts verheimlichen ließe, da wir permanent unter den Blicken der ganzen Welt leben.“16 Alexandra ließ nicht zu, dass Ella sich einmischte. Noch am Tag zuvor hatte sie Nikolaus, der sich auf dem Weg nach Reval (heute Tallinn) zu Gesprächen mit Kaiser Wilhelm befand, einen geradezu schockierenden Brief geschrieben, der beweist, wie abhängig sie tatsächlich von Philippe waren: „Es ist furchtbar, dich so ganz allein gehen zu lassen und zu wissen, welche Probleme auf dich warten. Aber unser lieber Freund wird an deiner Seite sein, und er wird dir helfen, Wilhelms Fragen zu beantworten.“ Offenbar lag die russische Außenpolitik in den Händen eines französischen Betrügers.

Monsieur Philippe kehrte Anfang August nach Russland zurück, und Nikolaus und Alexandra waren ganz begeistert, ihn endlich wiederzusehen. „So ein glücklicher Tag“, schrieb Nikolaus am 12. August 1902 in sein Tagebuch. „Um 5 Uhr herum traf ‚unser Freund‘ in Snamenka ein. […] Wir dinierten zusammen und verbrachten den ganzen Abend im Schloss in der Gesellschaft ‚unseres Freundes‘. Was für eine Freude es ist, ihn zu sehen!“ Doch während des Aufenthalts des Franzosen erlebte die Familie eine schwere Krise. Schon im Sommer hatte sich abgezeichnet, dass mit der Zarin etwas nicht stimmte: Ihr Bauch war seit Monaten nicht dicker geworden, und es gab auch sonst keine Anzeichen dafür, dass der Fötus wuchs. Dennoch fuhr man im Palast mit den Vorbereitungen für das mit großer Spannung erwartete Kind fort und bereitete die kaiserliche Erklärung vor, mit der dem Volk die Geburt des Thronfolgers verkündet werden sollte. Nach einigem Zögern ließ sich Alexandra schließlich doch von Dr. Dmitri Ott, dem führenden Gynäkologen in Russland, untersuchen, und der stellte fest, dass die Zarin überhaupt nicht schwanger war. Es war ein furchtbarer Rückschlag. Um das Gesicht der Familie zu wahren, verkündete der Palast, die Zarin habe eine Fehlgeburt erlitten.17

Am 18. August beichtete die verlegene Alexandra der Zarinmutter und dem Rest der Familie die Wahrheit. Dann fuhr sie mit Nikolaus nach Snamenka, wo sie sich mit Philippe trafen. Der tat sein Bestes, das Paar zu trösten, und versuchte, ihre Trübsal zu zerstreuen. Nikolaus fand Philippes Worte „wunderbar“. Doch der Rest der Familie war nicht willens, das Ganze einfach so zu vergessen. Am 20. August kamen Nikolaus’ Mutter und seine Schwester Xenia in den Palast, um endlich zu erfahren, was genau hinter ihrem Rücken mit diesem komischen Franzosen vor sich ging. Das Paar beharrte darauf, es sei nichts Ungewöhnliches an ihrer Beziehung zu Philippe und dass sie niemals auch nur versucht hätten, irgendetwas zu vertuschen, viel mehr aber war aus ihnen nicht herauszubekommen. Xenia war frustriert. Sie schrieb an jenem Tag in einem Brief an Fürstin Alexandra Obolenskaja, die langjährige Ehrendame der Zarinmutter: „Doch die Ungewißheit bleibt bestehen – wir haben noch immer nicht herausgefunden, was er eigentlich ist! Sie sagten, er sei ein sehr bescheidener Mann, und es sei ein Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten, da er so viel Verständnis besäße und Dinge sagte, ‚die einem guttun‘! Wie auch immer, es ist wenigstens gut, daß la glace est rompue [das Eis gebrochen ist]!“18 Ein wütender Nikolaus schrieb am 21. August in sein Tagebuch: „Die Leute reden solch einen Unsinn über ihn, dass man kaum zuhören kann, und ich verstehe nicht, wie sie glauben können, was sie da palavern.“ Viel von dem, was da „palavert“ wurde, war in der Tat Unsinn. Nikolaus’ Onkel, Großfürst Konstantin Konstantinowitsch (auch bekannt als KR), vermutete beispielsweise, dass Philippe an den Sitzungen des Staatsrats teilnahm.19 Und er schenkte den Gerüchten Glauben, Nikolaus erteile seine Regierungsanweisungen nur auf Basis dessen, was Philippe ihm riet – was, berücksichtigt man Nikolaus’ und Alexandras eigene Äußerungen, durchaus der Fall gewesen sein könnte. Staatssekretär Polowzow fand die Geschichte mit der falschen Schwangerschaft, die – davon war er überzeugt – das Produkt der Hypnose durch den „Abenteurer“ Philippe war, zutiefst beschämend. „Das alles könnte durchaus amüsant sein, wäre es nicht so furchtbar traurig“, schrieb er in sein Tagebuch.20

Nikolaus ließ sich überhaupt nicht davon beeindrucken, welche Sorgen sich seine übrige Familie machte. Am 29. August kam er nach Kursk, wo er sich ein Manöver ansehen wollte. „Ich weiß nicht, aber ich bin so ruhig vor meiner Ankunft hier und heute“, schrieb er an Alexandra, „das macht die Erfüllung des Versprechens unseres Freundes.“21 Was genau er versprochen hatte, wissen wir nicht, aber die Worte des Zaren machen deutlich, dass er vollkommen auf Philippes Fähigkeit vertraute, die Zukunft vorherzusagen. Am selben Tag, als Nikolaus in Kursk eintraf, berichtete Ella der Zarinmutter über ihr Gespräch mit Alexandra und darüber, welche Sorgen es ihr bereitete, dass sich der Zar mit jemandem wie Philippe traf. Sie konnte nachvollziehen, dass er sich gerne mit interessanten Menschen „ohne jede Position“ unterhielt, aber sie war der Ansicht, dies sollte nur in Anwesenheit anderer Personen geschehen, denn sonst begännen die Leute zu reden. Gott bewahre, dass ein solches Treffen auch nur den Anschein von etwas Geheimem erwecke, fuhr sie fort, denn das könne „fatale Folgen“ haben. Ella blieb Philippe gegenüber misstrauisch. Sie verstand nicht, welche Art Beziehung er zu ihrer Schwester und ihrem Schwager unterhielt, und schalt die Schwarzen Prinzessinnen dafür, ihn überhaupt erst nach Russland gebracht zu haben. Man erzähle sogar, die Schwestern, die sie als „Kakerlaken“ bezeichnete, bedienten sich des Spiritualismus, um Zar und Zarin zu kontrollieren. Nikolaus‘ Mutter beschrieb die Situation am Hof mit den Worten: „C’est une crime.“22

Am 31. August schrieb Xenia noch einmal an Fürstin Obolenskaja:

Für mich besteht kein Zweifel mehr daran, daß das, was A. F. [Alexandra] passiert ist, mit Suggestion zu tun hat, obwohl ihnen das selbst nicht klar ist. Immerhin hat sie gegenüber ihrer Schwester zugegeben, daß sie zumindest bei einer Gelegenheit mit Ph.[ilippe] gebetet hat. Es ist alles höchst seltsam und erschreckend, weiß Gott wie das noch alles enden soll! Ich fürchte ihre Freudschaft [sic!] und Verbindung zu diesen Leuten wird anhalten – alles wird beim alten [sic!] bleiben, und wir werden wie Narren dastehen. Wir werden aber nicht länger dazu schweigen, allerdings müssen wir es richtig anpacken, was nicht leicht ist – sie sind völlig unter seinen Einfluß geraten. Ich hätte viel zu erzählen, aber ich will nicht darüber schreiben.23

Im Herbst beschränkte sich das Gerede über Monsieur Philippe schließlich nicht mehr nur auf den Hof des Zaren und die adlige Gesellschaft, sondern war bis zum gemeinen Volk vorgedrungen. Die russischsprachige Zeitschrift Befreiung, die in Paris und Stuttgart erschien, brachte im Oktober einen Artikel, in dem es hieß, Philippe sei inzwischen so einflussreich, dass der Zar ohne sein Placet überhaupt keine Entscheidungen mehr treffe, weder im Privatleben noch in den Staatsgeschäften. Das Land werde von einem Mann regiert, der behauptete, er könne mit den Seelen der Toten reden und der Zarin mittels „psychologischer Behandlungen“ zur Schwangerschaft verhelfen.24 Zwar war die Zeitung in Russland verboten, doch einige Exemplare wurden über die Grenze geschmuggelt und herumgereicht.

Am 1. November suchte der altehrwürdige Fürst Wladimir Meschtscherski, ein erzkonservativer Verteidiger der Monarchie und persönlicher Freund Alexanders III., Nikolaus und Alexandra auf, um ihnen klarzumachen, welche Gefahr ein Mann wie Philippe für die Monarchie darstellte. Er widmete seine Aufmerksamkeit vor allem Alexandra, warnte sie davor, welche Blüten der Klatsch treiben würde, wenn sie sich weiterhin mit ihrem französischen Freund träfen, und dass sich gefährliche Gerüchte bereits im ganzen Land ausbreiteten. Alexandra wollte nichts davon wissen: „Ich erteile niemandem das Recht, darüber zu sprechen. Niemand soll es wagen, in mein Privatleben einzugreifen.“ Meschtscherski sagte der Zarin, sie könne seine Worte gerne ignorieren und ihn fortjagen, müsse sich aber klarmachen, dass das Seelenleben der Zarin von Russland keine Angelegenheit sei, dem ihre Untertanen gleichgültig gegenüberstanden – und das dürften sie auch gar nicht. Dann erzählte er ihr Einzelheiten der kursierenden Gerüchte: unter anderem, dass Philippe im Hause von Großfürst Pjotr und Miliza praktisch als Gott galt, dass sie sich in seiner Gegenwart niemals setzten und sogar vor ihm niederknieten. Ein anderes Gerücht besagte, dass die drei Alexandra so weit gebracht hätten, aus der Russisch-Orthodoxen Kirche auszutreten, und dass sogar der Zar mittlerweile an seinem Glauben zweifele. Die einfacheren Leute sprachen davon, dass Ausländer einen „Zauberer“ geschickt hätten, der die Zarin verhext und Kontrolle über ihren Leib ergriffen hatte. All das sei natürlich blanker Unsinn, gab er zu, doch was, wenn ihre Feinde dieses Gerede für ihre Zwecke missbrauchten? Wenn sie solche Gerüchte gezielt innerhalb der gebildeten Schichten und des narod, des einfachen Volkes, verbreiteten? Sie solle sich nur einmal vorstellen, bat der alte Fürst Alexandra, welche Gefahr das für die Sicherheit und das Ansehen der Autokratie bedeuten würde. Alexandra schlug seine Warnungen in den Wind.

Ganz anders Nikolaus: Auch wenn unklar ist, wann und wie er zu dieser Entscheidung kam, so scheint er doch eingesehen zu haben, dass er sich angesichts des Skandals von seinem Freund abwenden und alle Verbindungen zu ihm abbrechen musste. Möglicherweise war der entscheidende Auslöser ein Brief des wichtigsten Kirchenmannes jener Zeit, Johannes von Kronstadt, der Nikolaus anwies, mit Monsieur Philippe zu brechen. Bevor Philippe nach Frankreich zurückkehrte, tauschten sie noch Geschenke aus. Nikolaus übergab ihm ein sehr kostspieliges dampfbetriebenes Automobil der Marke Serpollet, das er bei einer früheren Reise nach Europa gekauft hatte. Philippe schenkte Alexandra ein paar Trockenblumen, von denen er behauptete, Jesus Christus persönlich habe sie berührt, sowie eine Ikone und ein Glöckchen. Er erzählte ihr, das Glöckchen würde wie von Zauberhand zu läuten beginnen, sobald sich ihr jemand nähere, der ihr Böses wolle; auf diese Weise könnten sie sich vor Feinden schützen. Alexandra ließ die Blumen rahmen und hängte sie in ihrem Schlafzimmer auf, und sie vergaß niemals die magischen Kräfte des Glöckchens, das sie und ihre Familie während ihrer weiteren Herrschaft schützte.25 Victoria Lalande schrieb Stana einen wehleidigen Brief, in dem sie sich darüber beklagte, dass man sie fortschickte, und gegen das angebliche Unrecht wetterte, das ihrem Vater widerfahren war.26 Alexandra und Nikolaus waren traurig und verstört, beim Abschied brach die Zarin in Tränen aus, doch Philippe verließ sie mit einer hoffnungsvollen Nachricht: Sie werde stets Lehrmeister finden, die ihr bei der spirituellen Suche helfen würden. „Seid ruhig und besonnen, Majestät“, wies er Alexandra an, „Ihr werdet einen neuen Freund finden, wenn ich nicht mehr hier bin, und er wird Euch beschützen.“27 Für die Zarin waren seine Worte nichts weniger als eine Prophezeiung, und sie konnte sie offenbar auch nicht für sich behalten, denn sie machten schnell die Runde. Großfürst Konstantin schrieb in sein Tagebuch, er habe gehört, „Philippes Mission nähere sich jetzt dem Ende, er werde bald sterben und danach in Gestalt eines anderen Mannes wieder in dem Kreis von Freunden auftauchen. So ein Quatsch!“28

Lew Tichomirow, der ehemalige Revolutionär, der sich zu einem der führenden konservativen Ideologen gewandelt hatte, fasste Mitte November 1902 die öffentliche Meinung über die Affäre wie folgt zusammen: „Dieser Philippe ist das Beschämendste, was der Zarenfamilie je passiert ist. Er ist so etwas wie ein ausländischer Scharlatan, ein Hypnotiseur, Magnetiseur und Zauberer, der so tut, als besitze er okkulte Kräfte.“ Tichomirow war überzeugt, dass Johannes von Kronstadts Warnung die Familie vor dem Ruin bewahrt hatte, und er hoffte, sie hätten ihre Lektion gelernt und würden diesen Philippe aus ihrem Gedächtnis löschen.29 Aber sie vergaßen Philippe nicht. Noch im Jahr 1907, als Stana und Nikolascha endlich heiraten durften, hielt Nikolascha ihre Hochzeit für ein Wunder, das nur durch Philippes Einfluss „über das Grab hinaus“ möglich gewesen sei.30

Genau wie unter Katharina der Großen viele junge Offiziere am Hof davon träumten, der offizielle Favorit der Zarin zu werden und sich so eine goldene Zukunft zu sichern, so hofften nun unter Nikolaus zahllose Mystiker, stranniki und Starzen, zum persönlichen Propheten des Herrscherpaars aufzusteigen. Nachdem Philippe fort war, erschien eine ganze Reihe russischer Prätendenten am Hof, unter anderem die stranniki Wasja (Tkatschenko) und Matrjona der Barfüßige. Auch der heilige Narr Mitja Koselski, bekannt als „der Näselnde“, tauchte auf. Von Kindheit an war Mitja nicht in der Lage, verständlich zu sprechen, und doch war er für seine Prophezeiungen und seine inspirierten Worte bekannt: Er hatte nämlich stets einen Dolmetscher namens Elpidifor bei sich, der seine seltsamen Laute und sein undeutliches Gebrüll für die Zuhörer übersetzte. Mitja hatte sich im Volk einen guten Ruf als ein einfacher Mann Gottes erworben. Offenbar war ein hochgestellter Beamter auf ihn aufmerksam geworden; er holte ihn aus dem Optina-Kloster und brachte ihn an den Hof. Mitja und sein Dolmetscher wurden dem Zaren vorgestellt, und Nikolaus war von dem heiligen Narren sogar recht angetan. Seine herausragende Stellung am Hof war jedoch nicht von Dauer, denn bald tauchte Rasputin auf. Nachdem Mitjas Dienste nicht mehr benötigt wurden, sah man ihn barfuß durch die Straßen der Hauptstadt wandeln, sogar im Winter, gekleidet in eine schwarze Soutane und mit Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte.31

Und die Erde wird zittern

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