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V.

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Es bleibt dabei: der Gegenstand der Poesie wie aller Kunst ist die Nachahmung psychischer Zustände und Vorgänge; doch ist der Kreis derselben durch die Handlungen, in dem strengeren Sinne von inneren Entschließungen, und Empfindungen, von welchen bisher die Rede war, noch nicht erschöpft. Wie oben schon erwähnt, kommt eine dritte Hauptgattung hinzu, welche dort unter dem Begriffe des griechischen "Ethos" zusammengefasst wurde und die noch eine gesonderte Betrachtung verlangt.

Wenn ein großer Teil der Lyrik mit dem Satze, Handlungen seien ihr Gegenstand, sich auf keine Weise vereinen lässt, so nimmt doch unter den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, um ihren Zweck, Nachahmung von Empfindungen, zu erreichen, die Erzählung oder auch die bloße Andeutung einer Handlung den weitaus bedeutendsten Rang ein. Gerade die hervorragendsten Lyriker bedienen sich dieses Mittels am meisten und sie folgen darin dem unverwerflichen Muster des Volksliedes, welches fast immer irgendeinen kleinen Vorgang, eine, wenn auch noch so flüchtig skizzierte, Handlung entrollt.

Dass hier allenthalben die Handlung nur einem höheren Zwecke dient und nirgends um ihrer selbst willen erzählt wird, bedarf keines Beweises; wie ist aber das Verhältnis bei der Ballade, die, auf der Grenze der Epik und Lyrik stehend, der Handlung gar nicht entraten kann? Die Untersuchung dieses Verhältnisses muss für die Grenzbestimmung der beiden Gebiete sehr förderlich sein.

Wie oben festgestellt, sind die als Mittel der Nachahmung von Handlungen angewandten "Folgen von Veränderungen" keineswegs auch immer Nachahmungen von Handlungen selbst; für diese ist das geistige Moment der produzierenden Entschließung allein maßgebend, welches den Namen der Tätigkeit weit eigentlicher verdient als das äußere Tun. Es kann jemand eine zusammenhängende, eine Einheit bildende Gruppe von Veränderungen, also eine äußere Handlung bewirken, ganz ohne den Prozess des eigentlichen Handelns, den inneren Willensakt, in sich erfahren zu haben; umgekehrt kann die höchste Tätigkeit sich ohne alle Veränderungen in der Körperwelt, etwa durch ein einziges Wort, vollziehen. Gerade solche Handlungen aber, gleichviel ob sie in einem Moment oder in einer beliebig langen Reihe von Veränderungen sich vollziehen, sind erforderlich, wenn sie um ihrer selbst willen der Gegenstand der künstlerischen Nachahmung werden sollen; im andern Falle sind sie nur Mittel derselben. Denn jene bringen durch ihr Bild unmittelbar die Seele des Wahrnehmenden in dieselbe Bewegung, welcher sie selbst entstammen, während diese zunächst nur ein buntes Vorstellungsmaterial zu erzeugen vermögen, welches erst durch die Kunst die Kraft erlangt, verwandte psychische Bewegungen mittelbar nachahmend zu bewirken; jene sind entschieden epischen Charakters, diese ein Hauptmittel der lyrischen Dichtung. Es sind Fälle denkbar, wo die Grenze zwischen beiden fast unkenntlich wird, in der weit überwiegenden Mehrheit der Fälle aber werden sie scharf voneinander zu unterscheiden sein.

Es mag an einer Reihe von Dichtungen, die man gewöhnlich als "Balladen" bezeichnet, die Probe gemacht werden.

Überall, wo in einem solchen Gedicht eine eigentliche Handlung dargestellt wird, lässt sich das Moment der entscheidenden, bewussten Willensäußerung als ihr Gipfelpunkt in ein Wort zusammenfassen; man darf den betreffenden Vers nur zitieren, um die Summe der Handlung zu ziehen. So z. B. "Da setzt' ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd"; "Hier bin Ich, für den er gebürget"; "Da treibt's ihn den köstlichen Preis zu erwerben"; "Still legt er von sich das Gewand"; "Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht"; "Dem Zöllner werd' euer Geld zu teil"; "Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt"; die Beispiele lassen sich beliebig vermehren.

Hier überall ist entschieden epischer Charakter; alle diese Gedichte enthalten die Nachahmung wirklicher Handlung.

Nun aber versuche man dasselbe Verfahren bei der echten Volks- Ballade, oder man stelle die Goetheschen Balladen auf dieselbe Probe!

Ist in Goethes "Fischer" der erzählte Vorgang der Gegenstand, der um seiner selbst willen, wie die Handlungen der vorerwähnten Gedichte, nachgeahmt wird, oder ist es nicht vielmehr die vermittelst desselben hervorgebrachte, ganz bewegungslose, κατ' ἐξοχήν stationäre Stimmung des ohne alle bestimmte Empfindung, ganz gedankenbefreit dem träumerisch wiegenden Wohlgefühl des Elementes Hingegebenen? Und ist es mit dem "Erlkönig" etwa anders? Auch hier tritt das gegenständliche Interesse des Vorganges an und für sich völlig zurück hinter dem eigentlichen Zweck — τέλος — des Gedichtes, vermittelst dieses Vorganges die Nachahmung einer Stimmung zu erreichen. Sowie man diesen Schwerpunkt verrückt und als den "Gegenstand" der Nachahmung den Handlungsgehalt selbst ansieht — wie man das z. B. in den Schillerschen sogenannten Balladen durchweg tun muss — so ist man mitten in der philiströsesten Plattheit. Dort handelt es sich in der Tat um die Selbstüberwindung des Johanniter-Ritters, die einen schwereren Kampf verlangt als den Kampf mit dem Drachen, um die durch Ehre und Liebesgewalt bis aufs höchste gesteigerte Kühnheit, welche den äußersten, kaum überwundenen Schrecken todverachtenden Trotz bietet, um die felsenfeste Treue, die, in der Gefahr die heilige Verpflichtung nicht einlösen zu können, die erschöpften Kräfte bis ins Wunderbare zu erhöhen vermag —; dieselbe Betrachtungsweise auf den "Erlkönig" angewendet lässt als einzigen Inhalt das Verderbliche übrig, mit einem zart nervösen Kinde nachts bei starkem Winde durch den Wald zu reiten. Seinen Sinn und seine mächtige Wirkung hat das Gedicht schlechterdings nur als die vermittelst eines zu diesem Zweck erfundenen äußeren Vorganges verkörperte Nachahmung psychischer Stimmungsgewalt. Das gleiche findet beim "Hochzeitslied des Grafen" statt; hat dort das geheimnisvolle Grausen des nächtlichen Waldes einen dämonischen Ausdruck gefunden, so ist hier das gemütlich liebevolle Behagen an der altererbten, durch die Tradition geheiligten häuslichen Heimat zu freundlich-heiterer Fiktion verdichtet. Derselbe Nachweis lässt sich ebenso für die "wandelnde Glocke" führen und für den "Zauberlehrling", diese klassische Darstellung der Ruhe und Erfolgssicherheit, mit der das seiner Kraftfülle sich bewusste Genie gegenüber dem Fiasko der pfuschenden Lehrjungengeschäftigkeit in seine Rechte tritt; und so die ganze Reihe der Goetheschen Balladen durch.

Vollends der Volksgesang! Wo er irgend sich rein erhalten hat, da tritt die Nachahmung der Handlung, die Erzählung des Vorganges völlig zurück, ja sie wird fast verflüchtigt zu Gunsten des Sanges- und Liedzweckes, die ganz und gar nach einer einzigen Richtung hin bewegten Gemütskräfte auf das eindringlichste darzustellen. Die wirkliche epische Erzählung hat außer dem Interesse der Handlung selbst noch hundert anderen Forderungen zu genügen: alle wichtigen näheren Umstände müssen gekannt werden, der Schauplatz soll lebhaft vors Auge gebracht werden, die Motive, aus denen die Taten nicht allein der Hauptpersonen, sondern auch der mittelbar Beteiligten entstehen, verlangen mehr oder minder eingehenden, charakterisierenden Bericht. Hier wird breiter Fluss und Vollständigkeit der Erzählung erfordert und das sich unabweisbar herzudrängende dekorative Element nimmt einen großen Raum ein; wo immer der Volksgesang durch die Kunstpoesie verfälscht oder gar ganz verdrängt ist, sind dies die Kennzeichen der Entartung. Dagegen dort an Stelle der Vollständigkeit der Handlung die sprung- und lückenhafteste Skizze des Verlaufs, anstatt sorgfältiger psychologischer Charakteristik die schroffste Einseitigkeit und die grellste Betonung immer nur des einzigen Motivs und zwar bis zu einem Grade der Herbigkeit und äußerster Übertreibung, welcher in der Erzählung, und mag sie immerhin das Reich des Wunderbaren umschließen, niemals ertragen wird, weil dadurch das Interesse und damit ihr Zweck vernichtet würde, sondern der einzig und allein als ein Mittel die Stimmungsgewalt nachzuahmen verstanden und ertragen werden kann. Endlich die Dekorationsmalerei, worin die Kunstballade luxuriert, kennt die Volksballade gar nicht.

Man vergleiche auf alle diese Kennzeichen hin nicht allein Stücke wie "Herr Oloff", "Wassermann", "Ulrich und Ännchen", sondern auch solche wie "Das nussbraune Mädchen", "Das Lied vom jungen Grafen", "Die Nonne", "Vom eifersüchtigen Knaben", oder "Das Lied vom Pfalzgrafen oder dem grausamen Bruder", "Graf Friedrich" und unzählige andere, während solche wie "Albertus Magnus" oder "Die Herzogin von Orlamunt" in ihrer Breite und Umständlichkeit und freilich auch in ihrer ganzen sonstigen Haltung schon die deutlichen Spuren einer ihres Zieles nicht mehr gewissen Kunstrichtung tragen.1 Ein sehr interessantes Beispiel ist Bürgers "dem Altenglischen nachgedichtete" Ballade "Graf Walter", welche zwar alle Merkzeichen der echten Volksballade an sich trägt, aber durch die übel angebrachte Sorgfalt des alle Gelegenheit zum Effekt ausnutzenden Dichters allenthalben in epische Breite gewandelt und mit störendem Detail belastet.

Eben wegen seiner Anlehnung an den alt-englischen Volksgesang ist Bürger in einigen seiner Dichtungen der echten Balladen nahe gekommen, doch bleiben auch diese auf der Grenze stehen. Der "wilde Jäger" ist solch ein Stück; wie die Sage jener fürchterlichen Ausartung der Jagdlust entsprungen ist, die unter all seinen unerträglichen Lasten den mittelalterlichen Bauernstand am heftigsten empörte, so ist es dem Dichter in der Tat gelungen, jenen bis zum grausigen Wahnwitz erhitzten, wildesten Frevelmut in ergreifender Nachahmung darzustellen, aber doch nur an einzelnen Stellen. Statt nach dieser einzigen Richtung auf sein Ziel loszugehen, hierzu alle stärksten Züge, in kürzester Andeutung zusammengedrängt, zu vereinigen, alles andere ganz fortzuwerfen oder höchstens durch ein Wort dem Hörer ins Gefühl zu rufen, bringt er neben der ausgeführten Haupthandlung noch eine ganze Reihe von Nebenhandlungen in nachdrücklich eingehendstem Vortrage vors Auge und zerstreut damit das Interesse nach den verschiedensten Gesichtspunkten, so dass in solchem Zusammenhange der breit moralisierende Schluss freilich nichts Auffallendes mehr hat, so sehr er dem Wesen der Ballade widerspricht.

Auch die "Lenore" verdankt ihre weit hervorragende Stellung dem vorwiegend lyrischen Stimmungscharakter und Sangeston des Ganzen, dessen schattenhafte Vorgänge, ganz ohne eigentliche (innere) Handlung, nur Seelenzustände zu vergegenwärtigen dienen sollen. Will man recht klar erkennen, was das bedeutet, so vergleiche man mit diesen Gesängen Stücke wie die "Entführung" ("Knapp', sattle mir mein Dänenross") oder "Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain," oder "Das Lied von Treue," in welchen in der Tat Handlung, und zwar um ihrer eigenen epischen Bedeutung willen, bei dem letztgenannten vielleicht wegen der anekdotenhaften Schlusswendung, nachgeahmt ist. Aber dennoch! wie weit steht auch Bürgers "Lenore" von der alt-schottischen Ballade ab, welche einen ähnlichen Inhalt, die todbringende Gewalt bis ins Grab getreuer Liebe, unendlich viel reiner, tiefer und wahrer ausdrückt. Es ist das schöne Lied "Wilhelms Geist" in Herders "Stimmen der Völker", das achte im dritten Buche:


Da kam ein Geist zu Gretchens Tür

Mit manchem Weh und Ach!

Und drückt' am Schloss und kehrt' am Schloss

Und ächzte traurig nach.


"Ist dies mein Vater Philipp?

Oder ist's mein Bruder Johann?

Oder ist's mein Treulieb Wilhelm,

Aus Schottland kommen an."


"Ist nicht dein Vater Philipp,

Ist nicht dein Bruder Johann!

Es ist dein Treulieb Wilhelm,

Aus Schottland kommen an.


"O Gretchen süß, o Gretchen lieb,

Ich bitt' dich, sprich zu mir;

Gib, Gretchen, mir mein Wort und Treu',

Das Ich gegeben dir!"


"Dein Wort und Treu' geb' Ich dir nicht,

Geb's nimmer wieder dir,

Bis du in meine Kammer kommst

Mit Liebeskuss zu mir."


"Wenn Ich soll kommen in deine Kammer —

Ich bin kein Erdenmann,

Und küssen deinen Rosenmund,

So küss' Ich Tod dir an.


"O Gretchen süß, o Gretchen lieb,

Ich bitt' dich, sprich zu mir;

Gib, Gretchen, mir mein Wort und Treu',

Das Ich gegeben dir!"


"Dein Wort und Treu' geb' Ich dir nicht,

Geb's nimmer wieder dir,

Bis du mich führst zum Kirchhof hin

Mit Bräut'gamsring dafür."


"Und auf dem Kirchhof lieg' Ich schon

Fernweg, hin über'm Meer!

Es ist mein Geist nur, Gretchen,

Der hier kommt zu dir her."


Ausstreckt sie ihre Lilienhand,

Streckt eilig sie ihm zu:

"Da nimm dein Treuwort, Wilhelm,

Und geh und geh zur Ruh!"


Nun hat sie geworfen die Kleider an,

Ein Stück hin unter das Knie,

Und all die lange Winternacht

Ging nach dem Geiste sie.


"Ist Raum noch, Wilhelm, dir zu Haupt

Oder Raum zu Füßen dir?

Oder Raum noch, Wilhelm, dir zur Seit',

Dass ein Ich schlüpf' zu dir?"


"Kein Raum ist, Gretchen, mir zu Haupt,

Zu Füßen und überall,

Kein Raum zur Seit' mir, Gretchen,

Mein Sarg ist eng und schmal."


Da kräht der Hahn, da schlug die Uhr,

Da brach der Morgen für:

"Ist Zeit, ist Zeit nun, Gretchen,

Zu scheiden weg von dir!"


Nicht mehr der Geist zu Gretchen sprach,

Und ächzend tief darein,

Schwand er in Nacht und Nebel hin

Und ließ sie steh'n allein.


"O bleib', mein ein Treulieber, bleib',

Dein Gretchen ruft dir nach" —

Die Wange blass, ersank ihr Leib

Und sanft ihr Auge brach.


Nicht allein, dass hier vermieden ist, was in Bürgers "Lenore" so sehr verletzt: die Rohheit des Ausdrucks und die maßlose Heftigkeit in den Äußerungen des Schmerzes, welche statt den Seelenadel starker Empfindungen zu bekunden, vielmehr die Vorstellung der Ungebärdigkeit einer vulgären Natur hervorrufen; der Grund, warum die alte schottische Ballade so hoch über der modernen deutschen steht, liegt tiefer. In jener ist, wie in allen den herrlichen alten Stücken derart, die visionäre Handlung wie die Schilderung der Körperwelt auf das strengste und diskreteste lediglich nur als Darstellungsmittel des überwältigenden Gemütszustandes verwendet; daher hält sich beides so glücklich und sicher in den Grenzen der einfachen Wahrheit und Natur. Man kann die Dichtung als eine symbolische auffassen, wenn man, im Goetheschen Sinne, darunter eben nur versteht, dass ein Höheres, Allgemeines, Abstraktes durch ein Einzelnes, Konkretes vergegenwärtigt wird; ein jeder Zug der im Liede verwandten Handlung erweist sich unter diesem Gesichtspunkte als von dem Liedeszweck gefordert und für denselben bedeutsam, keiner ist überflüssig oder durch irgendein anderes Interesse eingegeben und bedingt. Ganz ist der Vorgang in die Seele des liebenden Mädchens gelegt; von Seiten des toten Geliebten geschieht nichts, als was eben nur die Konsequenzen des Faktums seines Todes versinnlicht. In der Nacht erscheint sein Geist der sehnenden Braut, durch seinen Tod ist das Band der Treue gelöst, er fordert das Wort zurück, das er nicht einlösen kann; doch will sie von der Treue nicht lassen, und das Wort, das sie endlich dem irrenden Geiste, um ihm die Ruhe im Grabe zu gewähren, zurückgibt, behält für sie selbst die bindende Kraft; der Tote weigert ihr die Vereinigung und mit dem Morgengrauen schwindet die Erscheinung dahin; die Sehnsucht nach dem einzig und für immer Erwählten raubt auch ihr das Leben: "O bleib', mein ein Treulieber, bleib', dein Gretchen ruft dir nach" — "Die Wange blass, ersank ihr Leib, Und sanft ihr Auge brach."

Und nun vergleiche man damit, wie die "Lenore" überall den Nachahmer zeigt, und zwar den Nachahmer der bloßen Manier, der in den Nebendingen seine Stärke sucht und darüber den Hauptzweck aus dem Auge verliert! Was das Gedicht so berühmt gemacht hat, ist die Virtuosität in der Behandlung des dekorativen Beiwerks. Und um dieser spukhaften Szenerie, um jenes Todesgrauens willen, das in der schottischen Ballade sich nur mit leisem Anklang in die äußere Darstellung mischt, aber ganz ohne die Seele der handelnden Hauptperson zu berühren, ist bei Bürger die Handlung in eine Breite ausgesponnen, mit einem Detail ausgestattet, welche schon allein mit ihrem Charakter als Darstellungsmittel im Widerspruch stehen. Aber weil ihm das Bewusstsein dieser Bestimmung der Handlung fehlt und er sie daher ganz als Selbstzweck betrachtet, geht ihr auch jener enge, symbolische Anschluss an die zugrunde liegenden Gemütszustände und -Vorgänge verloren, sie büßt mit der Einfachheit auch die Wahrheit ein. Statt durch getreue Nachahmung ergreifenden Seelenlebens zu bewegen, beschränkt sich die Dichtung darauf, durch eine effektvoll vorgetragene Spukgeschichte rein äußerliche Sensation hervorzurufen!

Bürger stellt den Gegenstand unter einem veränderten Gesichtspunkt dar; die Übergewalt der Liebe kehrt sich über den Verlust des Geliebten in Verzweiflung, die mit Gott und der Vorsehung hadert, die Entführung durch den Geist des Bräutigams und der Tod Lenores erscheinen dann gewissermaßen als göttliches Strafgericht. Darauf deutet der moralisierende Schlussgesang, den das im Mondenschein tanzende Geistergesindel als Hochzeitslied "heult": "Geduld! Geduld! wenn's Herz auch bricht! Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei der Seele gnädig!" Und doch hat es der Dichter nicht vermocht den Sturm in der Seele seiner Heldin in der Handlung selbst zu verkörpern, sondern er greift zu dem poetisch weit unwirksameren Mittel ihn geradehin zu beschreiben, wobei die Mattigkeit des Verfahrens durch das Exzessive des Ausdrucks aufgewogen werden soll. Die Handlung selbst aber behält, trotz der Dekorationskunst, die darauf gewandt ist das Zwielicht des Geisterreiches herzustellen, den Charakter eines von außen hereinbrechenden Ereignisses, bei welchem die innerlich allein Beteiligte sich passiv, ja zögernd und halb widerwillig verhält, während der Vollzug der Aktion ganz ohne innere Motivierung dem Gespenste des toten Bräutigams und dem gräulich spukhaften Geistergesindel von Kirchhof und Hochgericht zufällt. Soll darin eine Symbolik gefunden werden — und wie anders erhält der ganze Vorgang überhaupt irgendeine Bedeutung? — so kann es nur diese sein: die tödliche Wirkung des "in Gehirn und Adern wütenden" Fieberparoxysmus; ein singulärer und noch dazu hässlich pathologischer Vorgang, statt, wie in "Wilhelms Geist," der Offenbarung kraftvollster und zugleich zartester Gemütsart, die, obwohl im einzelnen Falle vergegenwärtigt, doch in typischer Allgemeinheit die Macht der Kräfte verkündet, deren das menschliche Herz fähig ist.

Nicht die Liebesempfindung selbst ist in der schönen Ballade dargestellt, sondern die Gesamthaltung des Gemütes und Charakters gegenüber dieser Empfindung ist ihr Gegenstand; wie in den unzähligen Balladen, in denen von Liebesverhältnissen gesungen wird, es sich in gleicher Weise nirgends um den bloßen Empfindungsausdruck handelt, der die Sache des lyrischen Liedes ist, sondern überall um die Nachahmung des so vielfach unterschiedenen "ethischen" Verhaltens gegen jene Leidenschaft, von Treue und Untreue, Eifersucht und felsenfestem Vertrauen, Ernst und Leichtfertigkeit, selbstvergessener Demut und stolzester Strenge, grenzenloser Hingebung und heroischem Entsagen und wie die zahllos wechselnden Zustände des menschlichen Geistes und Herzens alle benannt werden mögen.

Das also ist jenes Dritte, womit neben den "Handlungen" und "Empfindungen" der Kreis der für die Künste vorhandenen Gegenstände sich schließt: Stimmungen, Gemütsarten, aber auch zugleich Gemütszustände, ja Charakterbeschaffenheiten. Wie schon oben bemerkt, die deutsche Sprache hat keine scharf begrenzte, alle diese verwandten Begriffe unter einer klar bestimmten logischen Kategorie versammelnde Bezeichnung ausgeprägt, aber die griechische besitzt eine solche in dem Begriff des "Ethos", welcher alle jene Äußerungen der Seelentätigkeit umfasst.

Als die Gegenstände der Mimesis durch die Kunst bezeichnet Aristoteles diese drei: πάθος, ἦθος, πρᾶξις — Empfindung, Ethos, Handlung.

Ein kurzer Nachweis wird genügen um zu zeigen, wie viel klarer und philosophisch bestimmter der griechische Sprachgebrauch auf diesem Gebiete ist, als die schwankende deutsche Ausdrucksweise. Vor allem freilich ist von vornherein das Missverständnis fernzuhalten, als ob unter "Ethos" Sittlichkeit zu verstehen sei, und als ob mit der Erzielung ethischer Wirkungen die Vorstellung moralischer Besserung verbunden werden müsste. Etwas ganz anderes ist es, dass allerdings auf dem Gebiete des Ethos die Elemente liegen, aus denen die sittliche Beschaffenheit sich konstituiert, aber eben nach allen Seiten hin. Die ethischen Vorgänge (ἤθη) an sich sind von selbständiger Bedeutung und in dieser Beziehung den einfachen Empfindungen (πάθη) gleichgestellt, welche ja auch an sich absoluter Natur sind; die Relation auf das Sittlich- Gute erhalten beide erst durch die hemmende oder anfeuernde Oberleitung der Vernunft (νοῦς).

Unter sich sind sie nun aber sehr verschieden. Es ist etwas ganz anderes, ob durch einen bewegenden Anlass die einfachen Empfindungen, wie Liebe, Hass, Furcht, Mitleid, Zorn, Neid u. s. w., in der Seele hervorgerufen werden, sei es, dass sie durch besonders starke Erschütterung plötzlich hervorbrechen, sei es, dass die Neigung und das Vermögen dazu (δύναμις) durch individuelle Anlage in der Seele schon vorhanden ist, oder ob durch öfters wiederholtes Gewährenlassen oder Zügeln einer einzelnen solchen Empfindung oder mehrerer ihrer Natur nach leicht zu einem Komplex sich vereinender, sich eine mehr oder minder dauernde Gewöhnung herausbildet, welche dem Individuum ein eigenartiges Gepräge verleiht. Für "Ethos" in diesem Sinne, für die Bezeichnung also der dem Einzelnen sowohl als ganzen Nationen eigenen, besonders hervorstechenden, Gemütsbeschaffenheit lieben wir Modernen den andern griechischen Ausdruck "Charakter" anzuwenden; so sprechen wir von der leidenschaftlichen Empfindungsenergie des altjüdischen Volkes, die seine religiöse Lyrik auszeichnet, von dem Schönheitssinn der Griechen und dem nüchtern scharfsinnigen Realismus der Römer, von der Kampfesfreudigkeit der alten Deutschen und der Ruhmsucht der Gallier, vom Phlegma des Holländers und der phantastischen Hitzköpfigkeit des Jren. Überall aber handelt es sich dabei keineswegs um ein Urteil über die moralische Handlungsweise der Nationen, sondern um eine in Volksart, Wohnplätzen, Klima und Geschichte begründete, typisch ausgeprägte Art sich geistig zu verhalten — ein Ethos!

Ebenso jedoch bedeutet Ethos diejenige Empfindungsweise oder Seelenhaltung, welche sich nach einer bestimmten Richtung hin, einem bestimmten Anlass gegenüber, temporär, aber nicht zufällig, sondern wieder der Anlage und Gewöhnung der Seele gemäß geltend macht. Aus dem gewohnheitsmäßigen Vorherrschen nicht nur einer einzelnen Empfindung, sondern ganzer koordinierter Gruppen, aus dem gleichzeitigen Zurücktreten anderer, geht eine stationäre allgemeine Seelenhaltung und -Stimmung hervor, welche latent, ihrer Möglichkeit nach, bei dem Individuum dauernd vorhanden ist, um dann bei jedem dazu gearteten Anlass zeitweilig in die Erscheinung zu treten. So sind Andacht, Frömmigkeit, Pietät (womit wir im Deutschen ja noch einen engeren Sinn verbinden) als Ethos zu bezeichnen, nicht als einfache Empfindungen, ebenso Frohsinn, Freudigkeit und ihr Gegenteil, Schwermut, Verzagtheit; ferner Übermut oder Besonnenheit, Zuversicht und Kleinmut, Zufriedenheit, Glück und Seligkeit oder Ungenügsamkeit, Reue und Verzweiflung, und so fort, wofür wir im Deutschen vorzugsweise den Ausdruck Stimmung gebrauchen.

Aus den verschiedenartigen Kombinationen charakteristischer Eigenart des Empfindens und vorwaltender Stimmungen ergeben sich ferner Gefühlsweisen und -Richtungen, wie sie ganze Epochen, sie vor allen andern kennzeichnend, beherrschen. Auch diese fallen unter den Begriff des Ethos: so das Romantische, das Naive und Sentimentale, Idyllische und Heroische, Satire und Ironie, künstlerischer oder religiöser Enthusiasmus, Fanatismus, Askese und wieder auf der andern Seite Skepsis und Rationalismus und vieles ähnliche, sofern nämlich alles dieses außer in dem Verstande auch im Gemüte seinen Sitz hat und als Gesinnung sich äußert.

Die Menge dieser gesamten unter den Begriff des Ethos zu rechnenden Gemütsvorgänge mit allen ihren verschiedenen Graden, Färbungen, Ausartungen nach der einen und der andern Seite hin, die unendliche Zahl der hier möglichen und vorhandenen Erscheinungsformen, hat bei weitem nicht die entsprechende Anzahl von Bezeichnungen in den Sprachen gefunden, vieles ist "anonym" geblieben, unnennbar oder doch unbenannt, obwohl die Sprachen, je nach dem verschiedenen Genius der Nationen, auf diesem Gebiete sich ergänzen. Um nur ein Beispiel hervorzuheben: man denke an die große Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, welche das eine Ethos der Andacht anzunehmen fähig ist, wie verschieden es bei Juden, Griechen und Römern erscheint und bezeichnet wird, wie wechselvoll in seiner Entwicklung, Entartung und Wiedererweckung bei den modernen Völkern!

Wie unendlich weit ist das Gebiet, welches in diesem dritten Gegenstande der Nachahmung für alle Künste offen steht! Und wenn es dem Künstler gelingt mit den Mitteln, welche ihm seine spezielle Kunst gewährt, das ihn selbst erfüllende Ethos nachahmend darzustellen, so muss es wenigstens vorübergehend bei jedem irgend Empfänglichen durch seine Darstellung erweckt werden, stärker natürlich bei den ohnehin schon entsprechend disponierten, umso sicherer aber und umso bedeutender in seiner Wirkung bei allen, je höher geartet es ist und je mehr in Übereinstimmung mit der vollkommensten Ausgestaltung des seelischen Lebens.

Es ist klar, dass der Poesie das ganze weite Feld der Nachahmung sowohl von Handlungen als von Empfindungen und Ethos jeder Art zugehört; dagegen werden die bildenden Künste ihre Hauptstärke in der Nachahmung der beiden letzteren haben und nur bedingungsweise auch die ersten umfassen können, während die Musik vorzugsweise Ethos nachzuahmen und erst unter gewissen Bedingungen auch die Empfindungen in ihren Bereich zu ziehen vermag.2

Die Kunst aber, welche ganz und gar mit ihren Mitteln auf die nachahmende Erweckung des Ethos gewiesen ist, und welche hier ihre ganze Stärke entfaltet, ist die Architektur.

"Und in Poseidons Fichtenhain tritt er mit frommem Schauder ein": es ist ein Ethos, welches hier bezeichnet wird, wie es ein Ethos ist, was den Germanen in seinen Wäldern überkommt, ein anderes im Eichenwald, im Buchenhain und in der Kiefernheide, wie es wieder ein anderes ist unter Palmen oder Zedern des Libanon! Was die Kunst so im Leben findet, macht sie nun ihrem plan- und gesetzmäßigen Verfahren dienstbar, und wieder wirkt hier jener unmittelbare Zusammenhang der Formen und ihrer Komposition mit dem Bewegungsleben der Seele. In Hainen und Wäldern verehrte der Grieche wie der Germane seine Götter, aber das Ethos frommer Scheu und andachtsvollen Schauders ist ein anderes bei diesem wie bei jenem; und als sie dem, was sie empfanden, in bewussten Schöpfungen Ausdruck gaben, erzeugte die verschieden beschaffene ethische Haltung sehr verschiedene Baustile. Was aber ist an diesen das innerlich Verschiedene, also künstlerisch Wesentliche, wenn nicht der verschiedene Bewegungsvorgang, den sie beide in der Seele erzeugen? Was ahmen sie nach als diesen? Und gilt nicht dasselbe wie von den übrigen kirchlichen Baustilen so auch von der gesamten weltlichen Architektur, sofern sie nur künstlerisch frei behandelt wird, also von Monumenten, Palästen, Burgen und Schlössern, ja von Zimmereinrichtungen, Möbeln und Geräten? Welche bunte Menge ethischer Stimmungen kann sich hier verkörpern, von der erhabenen Majestät und ihren Ausartungen, dem Sinn für Zeremoniell und Etikette, bis zur heiteren Prachtliebe oder dem Behagen an Ordnung und Wohlanständigkeit, oder von abenteuerlichem Trotz, stolzer Kühnheit und von romantischer Phantastik bis zu idyllischem Genügen und maßvoller Freude an harmonischem Dasein.

Ist das Reich der Poesie ein innerlich viel weiteres, ja universelles, so ist die Wirkung der Architektur dafür desto unmittelbarer, weil sie ganz sinnlich ist, während jene sich an die Vorstellungskraft wenden muss. Mit stiller Gewalt bemächtigt sie sich der Seele des willig hingegebenen Beschauers und in ihren größten Hervorbringungen hat sie die Macht ihn ungeteilt mit dem einen Ethos zu erfüllen, das sie in unvermischter Reinheit darstellt, oder doch, wo sie sich geringere Ziele steckt, vermag sie unmerklich das gesamte Fühlen und Sinnen in den Bann der durch sie verkörperten ethischen Haltung zu ziehen.

Auch hier kann die Poesie nachfolgen; wie sie malerische Formen sich dienstbar zu machen vermag, so kann sie auch architektonische Gebilde in ihren Bereich ziehen, freilich nur Vorstellungen davon, welche immer der Kraft sinnlicher Wirkungen nachstehen werden. Aber was hier verloren gegeben werden muss, weiß der Dichter durch den richtigen Gebrauch seiner Mittel auf einer anderen Seite einzubringen. Der bildende Künstler hängt mit seiner Wirkung ganz von der Empfänglichkeit des Beschauers ab, dieser muss die stummen Züge in sich lebendig werden lassen, sie reden die Sprache, die er aus ihnen zu vernehmen vermag; der Dichter hingegen begleitet die Vorstellungen, die er hervorruft, mit dem beredtesten Ausdruck der Empfindung, des Ethos, die ihn selbst beleben; ihre ganze Kraft, ihren ganzen Reichtum, die ganze Gedankenwelt, die, an tausend Fäden sich anknüpfend, um den durch sie gegebenen Mittelpunkt aufsteigt, überträgt er durch die Zaubermacht des dichterischen Wortes in die Seelen der Hörer, die durch ihn zu erhöhtem Leben erweckt, nun auch der Natur selbst und den Werken der bildenden Künste mit aufgeschlossenem Sinn, mit bereiterem Empfangen gegenübertreten. Ein unvergleichliches Beispiel derart ist Goethes "Wanderer".

Doch das sind Nebenwirkungen der Poesie; ihr Hauptmittel für die Nachahmung des Ethos, wo sie dasselbe nicht geradehin sich aussprechen lässt, wie etwa im Monolog des Dramas, ist immer die Handlung. Und im Drama ist der erregende Anlass ja durch die Gesamthandlung des Stückes gegeben; jedoch die poetische Nachahmung tiefgreifender ethischer Gemütszustände an und für sich wird immer die Skizzierung eines äußeren, anstoßgebenden Vorganges zur Voraussetzung haben müssen, wenn dieselbe auch nur flüchtig und in den äußersten Umrissen gegeben wird. So verfährt die Ballade, und in den weitaus meisten Fällen genügt dies Verfahren für ihren Zweck; nur wo es etwa gilt die charakteristische Art und Stimmung eines ganzen Volksstammes, die Signatur einer ganzen Epoche kenntlich zu machen, wo also das nachzuahmende Ethos nicht in einer Hauptfigur vorhanden ist, sondern erst in einer Menge von Personen kollektiv zur Erscheinung kommt, wird eine etwas breitere Ausführung erfolgen müssen.

Zwei der hervorragendsten Balladen aus Herders "Stimmen der Völker" — im dritten Buche die sechzehnte und siebzehnte — können als typische Beispiele für die eine und die andere Gattung gelten. In der denkbar kürzesten Weise ist die Situation in der altschottischen Ballade "Edward" ("Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot") gezeichnet; aber der Sturm angstvoller Reue, wilder, hoffnungsloser Verzweiflung in dem Herzen des Vatermörders kann markerschütternder nicht vorgestellt werden, als es in diesem schaurigen Liede geschehen ist.

Die andre Ballade ist das aus zwei Liedern bestehende, scheinbar so ganz epische Stück "Die Chevy-Jagd", von welchem Herder in den vorangeschickten "Zeugnissen über Volkslieder" das Wort Philipp Sidneys anführt: "Nie hörte Ich den alten Gesang: ‚Percy und Douglas‘, ohne dass Ich mein Herz von mehr als Trompetenklang gerührt fand." Obwohl darin von Anfang bis zu Ende erzählt wird, so ist die Erzählung doch von Anfang bis zu Ende ausschließlich durch den Liedzweck bestimmt und diesem untergeordnet; nirgends will sie für sich selbst gelten, wie im Epos durchweg. Demgemäß verfährt sie auch nur andeutend, gleichsam alles von sich wegweisend, was nicht dazu dient die doppelte Stimmung, die den Sänger beherrscht, den Zuhörern mitzuteilen: die unbezähmbar vordrängende Lust am Streit und Kampf der von Uralters her feindlichen Grenznachbarn, "wie das Necken Zorn ward", und dann die tieftraurige Klage über das geschehene Unheil, diese das Ganze durchdringend und beherrschend. Daher ganz konsequent auch die Darstellung in zwei "Sätzen", wie man in Analogie der musikalischen Form fast sagen möchte. In dem ersten die ungeduldig und ungestüm hervorbrechende altenglisch-schottische Streitlust und Kampfbegier, doch schon hier der Vordersatz des Hauptthemas: "Das Kind wehklagt's noch ungebor'n! Es ward sehr jammrig noch"; in dem zweiten Liede dann die entfesselte Wut des Wechselmordens und die Trauer über das nutzlos vergossene edle Blut: "Sie hoben einander auf, und stehen konnt' mancher, mancher nicht." "Das Kind wehklagt's noch ungebor'n, die Jammerklaggeschicht'!" Es geschieht ja in dieser Ballade sehr viel, aber der springende Punkt des Darstellungsinteresses (das τέλος μιμήσεως) liegt nicht in der Mitteilung des historischen Ereignisses — wie in den Homerischen Gesängen Taten und Kämpfe um ihrer selbst willen und um des Anteils der einzelnen Helden willen vorgetragen werden —, sondern in der Verkörperung der Sinnesart, die der Epoche den Charakter verlieh und die in der Geschichte der feindlichen Nachbarvölker eine so verhängnisvolle Rolle spielt. Alles einzelne und individuelle hat die Sage und der Volksgesang diesem ethischen Interesse — dem Liedzwecke — mit wahrhaft staunenswerter Kunst entweder ganz geopfert oder doch dienstbar gemacht.


Fußnoten:


1 Vgl. Herder: "Stimmen der Völker in Liedern" und "Des Knaben Wunderhorn", bearbeitet von Birlinger und Crecelius.

2 Die Musik an und für sich, μουσικὴ ψιλή, bloße Musik, also die instrumentale oder auch die vokale, sofern dieselbe selbständig, ohne Worte, auftritt, vermag freilich Empfindungen zunächst nicht nachzuahmen, weil der Empfindungsvorgang jedes Mal ein einzelner und demgemäß an bestimmte einzelne Umstände geknüpft ist, welche der Musik schlechthin undarstellbar sind. Dagegen hat sie die Nachahmung des Ethos völlig in ihrer Macht. Während die einfache Empfindung eines bestimmten, in einer fest begrenzten Situation befindlichen oder doch gedachten, Objektes bedarf, um sich zu verwirklichen, ist das Ethos an und für sich dauernd vorhanden, und statt dass die ihm entsprechenden Seelenvorgänge der Objekte bedürften, um in Tätigkeit zu gelangen, sind sie vielmehr imstande, durch ihre eigene Kraft jene in der Vorstellung hervorzubringen! Hier genügt also jene oben erwähnte geheimnisvolle Analogie zwischen den äußeren Bewegungen, Rhythmen und Klängen vollauf um die Nachahmung zu erreichen, und so entfaltet die Musik auf diesem unbegrenzten Gebiete ihre ganze, gewaltige Macht, unendlich weit hinaus über das, was Worte vermögen, die Stimmungen und Gemütszustände zu erregen, zu erhöhen, sie gegenseitig sich bekämpfen, sich komplizieren, sich ausgleichen und verschmelzen, mit einem Worte sich voll ausleben zu lassen mit einer Kraft und Tiefe, Mannigfaltigkeit und Fülle, und wieder mit einer Zartheit und Verfeinerung, welche nicht allein den Worten, sondern auch den Begriffen unerreichbar und unfassbar sind. Hier zeigt es sich nun aber, wie das, was vorhin in betreff der Nachahmung von Empfindungen aufgegeben werden musste, nun zu einem höchst wesentlichen Teile wieder einzuholen ist. Es wurde oben von dem auf bestimmten Anlass sich ereignenden Empfindungsvorgang die in der Seele dazu als Kraft, Vermögen vorhandene präexistierende Disposition (δύναμις) unterschieden; diese bloße Dynamis des betreffenden Pathos bedarf nun keineswegs der Erzählung eines Vorganges oder der Darstellung einer Situation, welche die individuell begrenzte Erregungsursache abgeben, sondern sie kann, genau wie das Ethos, dauernd vorhanden sein und vermag aus sich heraus die Vorstellung der ihr entsprechenden Objekte anzuregen. Solche Empfindungsdispositionen (δυνάμεις) kann daher die Musik, vermöge jener erwähnten Analogie der Rhythmen und Klänge mit den Seelenbewegungen, ganz unmittelbar und in höchster Intensität, wie keine andere Kunst, weil dies ihr eigentliches Gebiet ist (οἰκεῖον ἔργον), nachahmen und durch die Nachahmung bei dem Hörer wiederum erwecken. So bringt also die Musik, wie das Materielle und "praktisch" Geschehene für sie ja völlig undarstellbar ist, die Empfindungs-Dispositionen ganz unsubstantiiert hervor; der Hörer kann es dabei bewenden lassen und den künstlerischen Genuss, die Hedone, in dieser allgemeinen Energie seines Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens (τῆς αἰσθήσεως) finden: es ist ihm aber unbenommen, diese allgemeine Disposition, welche durch die Nachahmung der Musik in ihm hervorgebracht wird, zu substanziieren, in einer nach seinen individuellen Verhältnissen ins Einzelne gehenden Weise in Tätigkeit zu setzen, d. h. also zu einer nun erst bestimmt modifizierten Empfindung werden zu lassen. Das wird umso mehr geschehen, je mehr Zeit, Umgebung, Umstände, Anlässe ihn direkt darauf hinweisen, wie z. B. in Kultus, Festfeier, beim Drama (als Ouvertüre, Zwischenmusik) u. s. w. Es ist diese Operation zum vollen Genuss der "reinen" Musik keineswegs erforderlich; auch wäre es ein Missverständnis zu glauben, dass mit dieser Einschränkung der musikalischen Wirkung auf die allgemeinen Gefühls-Dispositionen ihre Bedeutung herabgesetzt würde. Ganz im Gegenteil ist jene Operation etwas Akzidentielles, die Wesenheit der Musik liegt nicht auf diesem Gebiet: die Musik leistet das Höchste der Kunst, wenn sie mit ihren Mitteln, und also nach ihren eigenen autonomen Gesetzen, in und mit der Nachahmung einer solchen "Empfindungsdisposition" der Seele nach der betreffenden Richtung den Genuss ihrer höchsten Kraft und die reichste und doch zugleich gesetzmäßige Bewegung verleiht, sei diese Bewegung nun eine einheitliche oder in Streit und Sieg, Gegensatz und Ausgleich sich vollziehende. Ob daraus nun im wirklichen Leben auch für den gegebenen Anlass ein erhöhtes Empfinden und weiter ein entsprechendes Handeln hervorgeht, ist nicht die Sache der Musik, wie überhaupt nicht die der Kunst, die überall nur imstande ist, was sie auch allein nur will, die Seele mit dem Genuss und dem Bewusstsein eines Maximums ihres Vermögens zu erfüllen. Wenn nun aber die reine Musik doch die Möglichkeit gewährt, die nachgeahmte Empfindungsdisposition individuell zu substanziieren, so erklärt sich daraus die Fähigkeit und die Neigung der Musik sich dem Worte zu gesellen. Freilich liegt darin offenbar eine Beschränkung, die umso größer ist, je singulärer die im Texte ausgesprochene Empfindung ist, woraus weiter folgt, dass die edelste Vokalmusik sich gerade an die Texte vom allgemeinsten Empfindungsgehalt anschließen wird, wie z. B. die Kirchenmusik. Je spezieller der Text ist, desto mehr verengert sich das unbegrenzte Gebiet der Dynamis des betreffenden Pathos, das alle Fälle ihrer Möglichkeit nach umfasst, auf einen besonderen Bezirk oder gar nur einen einzelnen Fall. Umgekehrt erklärt sich hieraus der weite Spielraum in der sogenannten Deutung der reinen Musik! Es sind aber viele solche "Deutungen", oder richtiger individuelle Substantiierungen durchaus zulässig, sofern sie nur derselben allgemeineren Empfindungs- Disposition angehören, was bei scheinbar höchst verschiedenen Deutungen sehr wohl der Fall sein kann. Freilich kommt dabei der ganz unberechenbare Faktor der in jedem Falle urteilenden Individualität ins Spiel.

Handbuch der Poetik, Band 1

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