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IV.

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"Es sei Fabel oder Geschichte, dass die Liebe den ersten Versuch in den bildenden Künsten gemacht habe: so viel ist gewiss, dass sie den großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden." Aus diesem Lessingschen Satze lässt sich ein weiter gehender Schluss ziehen als der, welchen er selbst daraus folgerte: "der weise Grieche hatte die bildende Kunst bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränkt." Die unbekannte Größe des Begriffs der Schönheit, der doch erst als das Resultat einer Rechnung sich uns ergibt, deren Faktoren zunächst festzustellen sind, hemmt auch hier den Fortgang der Untersuchung.

Wenn wir mit Aristoteles annehmen, dass die ersten Anfänge des Kunsttriebes aus der Freude an der Nachahmung entstanden sind, wie wir dieselbe an den Kindern noch täglich beobachten können, so ergibt sich sogleich, dass, da naturgemäß diese ersten, rohesten Nachahmungsversuche sich solchen Gegenständen und Vorgängen zuwandten, die durch ein irgendwie beschaffenes Interesse die Seele zur Tätigkeit erregten, in den fortgesetzten, ausgeführteren Versuchen mit der zum frei wählenden Können gesteigerten Technik sich der Kreis der die Nachahmung auf sich ziehenden Gegenstände mehr und mehr auf dasjenige einschränken musste, was die Seele stark und in erwünschter Weise bewegte, was sie zu lebhafter, von Lust gefühlsbegleiteter, Tätigkeit erhöhte. Daraus folgt aber weiter, und gleichfalls schon auf Grund jener aristotelischen Analogie, dass es ein ganz uneigentlicher Ausdruck ist, wenn man in beiden Fällen von der Nachahmung der Naturobjekte selbst spricht. Nicht diese, nicht die wirklichen Vorgänge sind der eigentliche Gegenstand der im Spiele tätigen Kinderphantasie oder der primitiven Kunstübung der Naturvölker; was sie bei ihrer Nachbildung als unbewusst wirkender Antrieb leitet, ist vielmehr: diejenigen Seelenbewegungen, welche sie als Wirkungen der sie interessierenden Naturobjekte und Vorgänge erfahren haben, durch die eigene Tätigkeit aufs neue hervorzubringen, und zwar zunächst in sich selbst, auf einer höheren Stufe, dann auch bei andern. Wir sehen diese Art von nachahmender Produktion als ihrer Mittel sich denn auch keineswegs einer getreuen oder irgendwie vollständigen Wiederholung der sie erregenden Objekte bedienen; das kleinste Bruchstück davon, ja sehr abweichende Formen und Prozeduren können ihr völlig genügen, sofern sie nur geeignet sind, den aus der Wirklichkeit erfahrenen Seelenvorgang in selbständiger Erneuerung wieder anzuregen, die einmal erklungene Saite zu demselben Ton wieder in Schwingung zu setzen. Die Erfahrung zeigt sogar, dass die äußerlich getreue und vollständige Nachahmung der Wirklichkeit — bei den Kindern wie bei den Naturvölkern — der Erreichung dieses einzig und allein wesentlichen Hauptzweckes oft mehr hinderlich als förderlich ist; weit stärker und sicherer wirkt bei ihnen die einseitigste Wiederholung und die dadurch bedingte Hervorhebung des einzigen Zuges oder Momentes, an welche der interessierende Seelenvorgang sich knüpfte. Dieser Umstand ist es, auf welchem die Symbolik der Märchenwelt recht eigentlich sich aufbaut, und auf dessen Grunde sie sich zuweilen zu einer einfachen Großartigkeit zu erheben vermag, die der tiefsten Weisheit und dem feinsten Kunstsinn in gleicher Weise Genüge leistet wie dem naiven Kinderverstande.

Was aber hier als unbewusster Zweck die primitive Kunstübung erzeugt, das ist das bewusste Ziel der eigentlichen Kunst, bei der es sich überall nur um das Eine handelt, dass sie dasjenige nachahmend hervorbringt, was in der ganzen Welt allein uns sowohl wahrhaft zu interessieren vermag als auch allein uns dauernd interessieren soll: die Wirkungen, welche die Dinge, Personen, Begebenheiten in unserer Seele hervorbringen. Und zwar nicht alle solche Seelenbewegungen, sondern diejenigen, die ihrer Natur nach als die rechten Platz greifen sollen, auf denen das gesunde Leben der Seele beruht, so dass sie in solcher Bewegung und Tätigkeit des Wahrnehmens und Empfindens die ihr zuerteilte Natur und Bestimmung erfüllt, zugleich aber mit der solchergestalt erweckten Seelenenergie als Begleitung und Krönung derselben jenes Lustgefühl (ἡδονή) entsteht, welches der Seele den höchsten Genuss ihrer selbst verleiht, während es die angeregten Kräfte noch steigert und ihnen die Dauer gewährt!

Wie entstehen nun aber diese Seelenbewegungen, die zunächst hier mit einem allgemeinen Namen als psychische Empfindungen bezeichnet sein mögen, im gewöhnlichen Leben? Wie vermag demgemäß die Kunst sie nachzuahmen?

Überall, wo die Empfindungen über das bloße physische Behagen oder Unbehagen, über die sinnliche Lust und Unlust hinausgehen, überall also, wo unsere Seele bewegt wird und wir im Stande sind diese Bewegungen deutlicher zu analysieren, entsprechen dieselben entweder direkt der Einwirkung einer fremden psychischen Energie auf unsre Seele oder sie entstehen, indem wir, bewusst oder unbewusst, ein Analogon solcher Einwirkung annehmen. Für Handlungen und ebenso für die bloße Erscheinung von Menschen und auch von Tieren bedarf dieser Satz keines Beweises;1 er gilt aber nicht weniger für die unbelebte Natur. Ganz direkt findet er seine Anwendung, sofern die Natur uns von Menschenhand und -Sinn modifiziert entgegentritt, mögen sie nun ordnend oder zerstörend auf sie eingewirkt haben; sie ist da gewissermaßen eine Zeichensprache, durch welche seelische Kräfte sich uns kundtun. Wo wir aber der unberührten Natur und ihren Gewalten gegenüberstehen und sie nicht etwa zum Gegenstand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis machen, sondern uns dem Eindrucke überlassen, den sie in unserm Empfinden hervorbringt, da werden diese Eindrücke umso deutlicher und stärker sein, je mehr wir geneigt und imstande sind, in unserer Vorstellung dieselben als Analoga von Wirkungen bewusster Energien und beseelter Individualitäten aufzufassen. In der Religionsgeschichte aller Völker ist diese Naturanschauung einer der mächtigsten Faktoren, und dem lebhaft empfindenden Menschen ist sie heute wie ehedem, unbeschadet aller Aufklärung des Verstandes, unabweisbar; mag er nun in der Natur die Gottheit schauen oder das Naturganze selbst als Wirksamkeit erfassen, immer wird er, je empfänglicher sein Empfinden ist, auch im Einzelnen dazu vorschreiten, sich Himmel und Meer, Berg und Wald, bis hinab zum Baum und zur Blume, je mehr im liebevollen Beobachten und Verkehren ihm das Einzelne vertraut geworden, jedes für sich mit einer Art geheimnisvoller Persönlichkeit begabt, mit einer Analogie von Wollen und Empfinden ausgestattet zu denken und so zu ihm in seelische Beziehung zu treten. Die wahrgenommenen Eigenschaften, Bewegungen und Veränderungen übersetzen wir uns mit mehr oder weniger Kraft der angeborenen Phantasie in Lebensäußerungen einer der unseren ähnlich gearteten Seele, und so werden auch bei uns die entsprechenden Seelenbewegungen erweckt. Die Sprache selbst liefert den Beweis, die gar keine anderen Mittel besitzt, Natureindrücke darzustellen, als welche sie dieser Fiktion entnimmt; die freundliche Landschaft, das friedliche Tal, das erhabene Gebirge, der heitere oder drohende Himmel, die majestätische See und der wütende Sturm, die stolze Eiche und die altehrwürdige Linde bis hinab zu dem bescheiden versteckten Veilchen, sie alle und noch unzählige andere Wendungen geben Zeugnis, dass auch die Sprache des gewöhnlichen Lebens, sobald sie nur einigermaßen durch den Ausdruck der Empfindung sich färbt, den Satz bestätigt: nur seelisches Leben erweckt auch unsere Seele zu Leben und Bewegung; die bloßen Naturobjekte vermögen das an sich zunächst noch nicht! Sie werden dazu erst dadurch befähigt, dass wir ihnen ein Analogon jener seelischen Energien beilegen oder doch die Vorstellung davon unmittelbar mit ihnen verknüpfen.

Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen Keimen erfüllt ist, wie muss es erst die Sache des Dichters sein, diese Keime zu voller Entwicklung zu bringen! Das Materielle an den Naturdingen wird er überall nur insoweit darzustellen haben, als es dazu dient, das zu vergegenwärtigen oder schließen zu lassen, was allein die Seelen bewegt und daher der eine Gegenstand aller Kunst ist: Leben und Wirksamkeit.

Von diesem Gesichtspunkte aus zeigt sich auch am deutlichsten der Grund, warum die Vorstellungen der griechischen Mythologie so unwiderstehlich in unsre Poesie und in unsre gesamte Kunst eingedrungen sind. Die Antwort, weil sie eine Fülle schöner Gebilde enthält, ist auch hier nicht ausreichend; die unvergleichliche und unvergängliche poetische Kraft dieser Schöpfungen beruht vielmehr darin, dass das geborene Künstlervolk der Griechen die Fähigkeit, welche allen Völkern in ihrem dichtenden Kindesalter eigen ist, zur höchsten Vollendung brachte: in allem, was ihre Seele bedeutend erregte, die wirkende Energie aufzufassen, diese zu objektivieren und ihr eine psychisch und physisch entsprechend ausgebildete, ganz selbständige Individualität zu verleihen, mit der sie sich fortan auseinanderzusetzen hatten. So verfuhren sie nicht allein den Naturdingen gegenüber, den Elementen und ihrer Kraft, sondern auch Zeit und Schicksal mit ihren wechselnden Verhängnissen erschienen ihnen in solcher Verdichtung zu plastisch-objektivierten Persönlichkeiten.2 Überall tritt durch diese Fiktionen an die Stelle der toten Schilderung des Materiellen die unmittelbar die Seele bewegende Darstellung des lebensvoll Wirkenden, und das ist der Grund, der sie der Kunst so wert macht, weil er mit dem Grundprinzip aller Kunst zusammenfällt. Es ist einer der größten Züge Goethescher Lyrik, dass er es verstanden hat, hier den Spuren der Griechen nachzugehen und mit gewaltig schaffender Kraft, in der Natur wie im Reiche des Geistes, Dinge, Erscheinungen und Begriffe zu lebensvollen Wesen zu gestalten. Man denke an Gesänge wie "Meine Göttin" oder "Schwager Kronos"; und, speziell für die dichterische Erhöhung und Verklärung der Natureindrücke, an solche wie der "Gesang der Geister über den Wassern", an das ganze Heer seiner Lieder, und, um zwei klassische Beispiele zu nennen, in denen das höchste dieser Gattung erreicht ist, an die ganze erste Szene im zweiten Teile des Faust ("Anmutige Gegend." "Faust auf blumigen Rasen gebettet u. s. w.") und an den Dithyrambus "Ganymed". Aus jeder Strophe, aus jedem Verse für sich lässt sich hier die im Obigen ausgesprochene Theorie ablesen und entwickeln; und wie viel bewegt sich hier der Dichter in reiner Schilderung, freilich nie ohne den übergeordneten Zweck, in solcher Schilderung die malenden Züge wie die Strahlen in einem Brennspiegel zu versammeln und den Brennpunkt uns in die Seele zu werfen, um mit unfehlbarer Wirkung dort die von ihm gewollte Empfindung zu entzünden. So in der Schilderung der Nacht, mit ihrer heiligen Zauberkraft, Vergessenheit zu gewähren von "des Herzens grimmem Strauß" und "des Vorwurfs glühend bitt'ren Pfeilen" und Erquickung zu erneuter Hoffnung und rasch entschlossenen Taten:

Wenn sich lau die Lüfte füllen

Um den grünumschränkten Plan,

Süße Düfte, Nebelhüllen

Senkt die Dämmerung heran;

Lispelt leise süßen Frieden,

Wiegt das Herz in Kindesruh,

Und den Augen dieses Müden

Schließt des Tages Pforte zu.


Nacht ist schon hereingesunken,

Schließt sich heilig Stern an Stern;

Große Lichter, kleine Funken

Glitzern nah und glänzen fern;

Glitzern hier im See sich spiegelnd,

Glänzen droben klarer Nacht;

Tiefsten Ruhens Glück besiegelnd,

Herrscht des Mondes volle Pracht.


Eine völlig malerische Strophe und poetisch wie malerisch gleich vollkommen! Und nicht minder folgende Stelle aus Fausts Monolog:


In Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen,

Der Wald ertönt von tausendstimm'gem Leben,

Tal aus, Tal ein ist Nebelstreif ergossen;

Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen,

Und Zweig' und Äste, frisch erquickt, entsprossen

Dem duft'gen Abgrund, wo versenkt sie schliefen;

Auch Farb' an Farbe klärt sich los vom Grunde,

Wo Blum' und Blatt von Zitterperle triefen,

Ein Paradies wird um mich her die Runde.

Hinaufgeschaut! — Der Berge Gipfelriesen

Verkünden schon die feierlichste Stunde;

Sie dürfen früh des ew'gen Lichts genießen,

Das später sich zu uns hernieder wendet.

Jetzt zu der Alpe grüngesenkten Wiesen

Wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet,

Und stufenweis herab ist es gelungen; —

Sie tritt hervor! — und, leider schon geblendet,

Kehr' Ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.


Mit einem Wort lässt sich so die Frage nach der Berechtigung der "Landschaftspoesie" entscheiden, welche Schiller in der Abhandlung "Über Matthissons Gedichte" aufwirft. Er hat vollkommen recht, wenn er dort sagt: "Das Reich bestimmter Formen geht über den tierischen Körper und das menschliche Herz nicht hinaus; daher nur in diesen beiden ein Ideal kann aufgestellt werden. Über dem Menschen (als Erscheinung) gibt es kein Objekt für die Kunst mehr, obgleich für die Wissenschaft; denn das Gebiet der Einbildungskraft ist hier zu Ende. Unter dem Menschen gibt es kein Objekt für die schöne Kunst mehr, obgleich für die angenehme, denn das Reich der Notwendigkeit ist hier geschlossen." Allein der Beweis, dass, ungeachtet "bei den weisen Alten die Poesie sowohl als die bildende Kunst nur im Kreise der Menschheit sich aufhielten", dennoch die moderne Landschaftsmalerei und Landschaftsdichtung ihr volles Bürgerrecht in der Kunst haben, kann, unmittelbar aus den oben aufgestellten Prämissen, weit kürzer und klarer geführt werden, als es dort mit Berufung auf die Kantsche Lehre von den "ästhetischen Ideen" geschieht.

Alle lediglich materielle Schilderung und Darstellung ist tot — oder doch, im besten Falle, nur matt, insofern ja freilich auch schon mit der bloßen Reminiszenz bei der Aufzählung von gewissen Naturgegenständen, und noch mehr mit dem Anblick ihrer Nachbildung, sich Regungen wohlgefälliger Empfindung, und zwar mitunter in ganz bestimmter Ausprägung, verknüpfen können.3 Ein höchst anmutiges Beispiel derart ist Uhlands "Lob des Frühlings":


Saatengrün, Veilchenduft,

Lerchenwirbel, Amselschlag,

Sommerregen, linde Luft!

Wenn Ich solche Worte singe,

Braucht es dann noch großer Dinge,

Dich zu preisen, Frühlingstag?


Ist hier auch freilich durch die zweite Strophe der Empfindung noch bestimmter die Richtung angewiesen, so entsteht doch das eigentlich sie erregende Bild durch die bloße, rhythmisch geschmückte Aufzählung einfacher Naturdinge.

Aber ihre eigentliche und höchste Wirksamkeit erhält die künstlerische Naturdarstellung doch nur, sobald sie psychisches Leben atmet, d. h. also, sobald sie dem Dichter lediglich das Mittel für den Empfindungsausdruck ist; je gesunder und reicher diese Empfindung ist, und je bestimmter er sie nachahmend zu erwecken weiß, desto vollkommener ist sein Gedicht. Das erreicht er, indem er den Naturgegenständen die Analogie des Empfindens, Wollens und Handelns leiht, wodurch er sie in unmittelbaren Rapport mit dem ganzen Reich unsers eigenen seelischen Lebens setzt, und sie eben damit in jene menschliche "des Ideals fähige" Sphäre erhebt.

Und hiermit wäre der gesuchte tiefere Grund gefunden, warum der Dichter, sobald er den Zweck seiner Nachahmung durch das Mittel der Körperdarstellung erreichen will, sich nicht begnügen darf, an die einzelnen äußeren Züge der Gestalten uns zu erinnern, die bei ihm die Sprache nicht sprechen, die sie der Maler zu uns reden zu lassen vermag, sondern ihnen jene beseelte Bewegung erteilen muss, die, von innen heraus wirkend und unser Inneres wiederum bewegend, gleichsam — wenigstens unserem Empfinden nach, das eben dadurch erst ein poetisches Empfinden ist — jene äußeren Züge geschaffen hat, welche der Maler uns sehen lässt und durch welche er seinerseits allein die Nachahmung jener erreichen kann.

Auch der Maler wird dazu noch nicht in den Stand gesetzt selbst durch das treueste Studium der Natur, durch welches er ihre Erscheinungen bis in die kleinsten Züge kennen lernen muss, ohne doch den Blick für das Ganze dadurch zu verlieren. Das allein würde ihn doch nur zum Kopisten machen, der bei der bloßen Virtuosität in der Hervorbringung der Kunstmittel stehen bliebe: zum Künstler wird er erst dadurch, dass er durch die sicherste Beobachtung der Wirkung jedes der tausend Züge des großen Antlitzes der Natur auf das eigene Innere es nun versteht, in absichtsvoller Komposition dieselben zu dem einheitlichen Ausdruck eines selbst erfahrenen Seelenvorganges oder -Zustandes zu gestalten; zu einer Nachahmung desselben, die eben darum auch unfehlbar denselben Vorgang bei ihm ähnlich Gearteten hervorbringen muss. Der große Künstler aber ist der, dessen Empfinden zugleich das stärkste und reichste und das gesundeste ist, deshalb für die ganze Gattung gültig, einen Jeden bewegend und sein individuelles Empfinden erweiternd, läuternd und zu dem allgemein menschlichen erhebend.

Das Gesetz also ist ein und dasselbe für die Poesie wie für die bildenden Künste:

Das Materielle der Körperwelt ist nicht Gegenstand der künstlerischen Nachahmung, sondern Mittel.

Ihr Gegenstand ist geistiger Natur und einheitlich, mag sie sich nun des Mittels der Körperwelt bedienen oder anderer, die ihr zu Gebot stehen, seien es Handlungen oder Bewegungen oder Töne oder ganz frei erfundene Formen.

Alle Kunst hat die Aufgabe, seelische Vorgänge im weitesten Sinne darstellend hervorzubringen oder, wie die Alten sagten, sie nachzuahmen. Was das Leben erfüllt als sein wesentlichster Inhalt in allen seinen Vorgängen und Erscheinungen, das reproduziert die Kunst selbständig, sie stellt es dar, dem Leben folgend, diesen seinen wesentlichen Inhalt nachahmend mit den Mitteln, die sie jedes Mal aufzuwenden hat: ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσιν, τέλος δ'ἅπασιν \̔εν ὑπόκειται.

So ist es denn auch ganz unberechtigt, obwohl es überall geschieht, des Aristoteles Theorie der Mimesis damit bekämpfen zu wollen, dass man sagt: Mag also die Poesie Handlungen, die Plastik Körper nachahmen, welche Naturobjekte liegen denn aber der Musik oder der Architektur zu Grunde? Damit meint man die Nachahmungstheorie kurzerhand beseitigt zu haben und an ihre Stelle tritt der unbestimmte Begriff des "Ideals in der Seele des Genies". Nein! alle Künste ahmen, jede auf ihre Weise, dasselbe nach: die Seelenvorgänge, von denen doch zuletzt alles uns Menschen fass- und darstellbare Leben ausgeht! Aber diese Einheit umfasst eine unendliche Mannigfaltigkeit, die es gilt nach ihren Hauptgattungen zu zerlegen und im Einzelnen genau zu bestimmen. So ergibt sich mit der präzisen Bestimmung des Nachahmungsobjektes zugleich auch die ebenso bestimmte Feststellung des dadurch zu erreichenden Zweckes, woraus dann weiter die dazu anzuwendenden Mittel und die Art und Weise ihrer Verwendung mit Sicherheit abgeleitet werden können. Einzig und allein auf diese Weise kann ein fester und zuverlässiger Maßstab für die Beurteilung ästhetischer Fragen gewonnen werden; das einzige Gebiet, auf welchem dieser Maßstab eine konsequent durchgeführte Anwendung gefunden hat, ist zugleich das einzige, für das wir ein in den Grundzügen völlig ausgearbeitetes Gesetzbuch besitzen, die Tragödie und ihre Gesetzgebung in der aristotelischen Poetik!

Die Untersuchung gelangt also hier zu demselben Endziel, zu welchem sie auch in betreff der poetischen Nachahmung von Handlungen führte. Wie der Poesie die Darstellung der äußeren Handlung, der Vorgänge und Begebenheiten nur ein Mittel ist das geistige Moment der eigentlichen inneren Handlung zur Erscheinung zu bringen, diese also das Objekt der Nachahmung, jene die Art und Weise derselben (τρόπος μιμήσεως) ist, so ist auch die Schilderung der Körperwelt ihr nur eines von den Mitteln, das zweite Hauptobjekt ihrer Nachahmung, Empfindungen, darzustellen, also auch nur eine von den Arten und Weisen der Mimesis. Wenn die Poesie dabei mit Vorliebe die Körper durch zeitliche Sukzession in fortschreitender Bewegung zu veranschaulichen sucht, so liegt das allerdings an ihrem Material (ὕλη), der Sprache; der Grund dieser Vorliebe liegt aber nicht in dem äußeren Umstande, dass in der Sprache die Worte zeitlich aufeinander folgen, sondern in der innersten Natur dieser Art von Nachahmung, welche um ihren Zweck zu erreichen keineswegs der Vollständigkeit des koexistierenden Materials bei den von ihr als Mittel benützten Körpern bedarf, sondern nur der Hervorhebung der einzelnen die Empfindung erregenden Züge; das geschieht am sichersten und wirksamsten, wenn ihnen als den Resultaten bewussten Seins, Wollens und Bewegens durch die Poesie ein der Empfindung homogenes, psychisches Leben geliehen wird.

Dass es aber Fälle geben kann, wo die bloße Erwähnung der einzelnen Züge, die bloße Aufzählung der Körperobjekte für die poetische Schilderung ausreichen kann, wurde schon oben erwähnt. Die Erwägung, wann und wie das geschehen kann, gehört schon in die Beantwortung der zweiten, am Schlusse des vorigen Abschnittes gestellten Fragen: wie und in welchen Fällen ist es der Poesie möglich, die ruhende Körperwelt nach den im Obigen aufgestellten Gesichtspunkten als künstlerisches Mittel sich dienstbar zu machen?

Zu einem Teile ist die Antwort darauf in dem Gesagten schon enthalten. Überall, wo es angeht, die Veränderungen in der unbelebten Körperwelt oder auch die ruhenden Erscheinungen selbst als die Resultate von Vorgängen aufzufassen, denen eine Verwandtschaft mit seelischen Bewegungen und Willensakten supponiert werden kann, da sind sie zu den wirksamsten Gegenständen der Dichtung zu rechnen; ebenso auch der bildenden Kunst, sofern dieselbe durch die dargestellten Formen jene Supposition deutlich wahrnehmbar machen kann.

Es gibt aber zahlreiche Fälle in der poetischen und vollends unzählige in der bildnerischen Darstellung, in denen jene Operation fast unmerklich angewandt oder in denen sie gar nicht vorhanden ist, sondern wo die bloße Erwähnung und Aufzählung oder die einfache Nachbildung von Naturobjekten dem künstlerischen Zwecke vollkommen genügt. Wie sind diese mit dem oben ausgesprochenen allgemein gültigen Gesetze zu vereinigen?

Es wird auch hier auf die inneren Gründe der Sache zurückzugehen sein.

Bisher war von den deutlicher analysierbaren Empfindungen als den Gegenständen der Nachahmung die Rede; gewissermaßen als das Gegenstück derselben sind im Gemüte eine Reihe von Zuständen und Vorgängen zu unterscheiden, welche hier vornehmlich in Betracht kommen.

Noch vor den aus bestimmten Anlässen entstehenden Empfindungsvorgängen (πάθη) können in der Seele entsprechende, aber ihrer Natur nach weit unbestimmtere Bewegungen ganz spontan auch ohne den Eindruck oder die Vorstellung einer erregenden Energie stattfinden. Wie das Licht zwar nur deutlich wahrgenommen wird, wenn es auf Objekte trifft und von diesen reflektiert wird, aber doch auch ohne das vorhanden ist und leuchtet, so können jene Seelenbewegungen vorhanden sein, ohne dass wir an bestimmten Objekten uns ihrer deutlich bewusst werden und durch die mehr oder minder vollkommene Erkenntnis jener Objekte in den Stand gesetzt werden, uns von diesen Lebensäußerungen unserer Seele genauere Rechenschaft zu geben. Es macht sich da eben nur die Anlage, Neigung oder zeitweilig vorwaltende Gesamthaltung und Verfassung der Seele kund. Der Sprachgebrauch hat diese Tatsachen keineswegs unbeachtet gelassen; wir sprechen von Liebesdrang und Liebesbedürfnis, in dem Sinne dunkler Liebesempfindungen, die sich geltend machen ohne die Richtung auf einen bestimmten Gegenstand, ebenso von solcher Disposition für die Freundschaft; ganz ähnliche Gefühlserscheinungen treten der Natur gegenüber auf, oder auf religiösem Gebiete, und zwar nicht nur als bestimmten Lebensaltern vorzugsweise eigen, sondern auch als gewisse Epochen, ja ganze Zeitalter kennzeichnend. Nach allen diesen Richtungen liefern die Jugendoden Klopstocks sehr hervorragende Beispiele. Eben dahin gehört aber auch ehrgeiziger Tatendrang, der noch ganz ohne Ziel ist, Kraft- und Mutgefühl ohne Gelegenheit der Betätigung, gegenstandloses Trauern, Wehmut ohne Anlass und Sehnsucht ohne bestimmte Richtung, allgemeiner Enthusiasmus ohne inhaltlich bestimmte Form; kurz alle Empfindungen haben, ehe sie, so zu sagen, bei wirklichen Anlässen sich ereignen, in den dazu besonders gestimmten Seelen eine dunkle Präexistenz, ein undeutlicheres Abbild ihrer selbst, welches als bloße Kraft, bloßes Vermögen — δύναμις nennt es die aristotelische Ethik — dauernd vorhanden ist. Kommen nun gewisse äußere Anstöße hinzu, so geraten diese mehr oder weniger latenten Seelenkräfte oder Empfindungsvermögen auf einmal in die lebhafteste Tätigkeit.4 Ein angegebener Rhythmus, ein zufälliger Klang, eine Farbenerscheinung, z. B. ein so oder so bewölkter oder gefärbter Himmel, der bloße Anblick oder die bloße Erwähnung gewisser Gegenstände sind hinreichend einen ganzen Sturm von Empfindungen in solchergestalt disponierten Seelen hervorzurufen. Auf diese Weise können Gehörs- und Gesichtseindrücke von lediglich sinnlicher Natur ganz zufällig schon unser Empfindungsleben modifizieren;5 um wie viel mehr, wenn sie einem höheren Zwecke untertan gemacht, von einem ordnenden bewussten Willen zusammengestellt werden. Sie können dann dazu verwandt werden, geradezu den Zustand und das gegenseitige Verhältnis von solchen Empfindungsvermögen und -Dispositionen — δυνάμεις —, wie sie bei den Komponierenden vorhanden sind, nachahmend darzustellen und so wiederum bei andern zu erregen (in der Poesie wie in der Malerei und ganz besonders in der Musik und der Kunst des Tanzes); zumeist natürlich bei ähnlich Gestimmten, bis zu einem gewissen Grade jedoch bei allen, sofern nämlich die bei dem Einzelnen stark und übermächtig sich äußernde Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.

Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade in seinen mächtigsten Äußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen Willens anheimgegeben. Ihren Ursprung kennt auch der Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist, kann er souverän über sie verfügen. Sie wird missbraucht, wenn sie verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen, wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt.

Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte, welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt, eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen und weltschmerzlichen Poesie es liebt.

Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher die dunkleren Empfindungskräfte (δυνάμεις τῶν παθῶν), noch ungeklärt und ungesondert, die Seele bestürmen.6 Oder es mögen, um ein anderes klassisches Beispiel vor Augen zu stellen, hier einige Stanzen aus Byrons "Harold" stehen. In seinem Munde erreicht jenes spezifisch moderne Naturgefühl, welches die vertrauten Wechselbeziehungen zu der Natur weit über den Umgang mit den Menschen stellt, den höchst gesteigerten Ausdruck; so namentlich in der folgenden Strophe des dritten Gesanges von "Harolds Pilgerfahrt":7


Nicht in mir selber leb' Ich; nein,

Ich werde Ein Teil der Welt umher. Gebirg' und Flur

Sind mir Gefühl, die Städte dieser Erde

Sind Folter mir. Ich find' in der Natur

Nichts, was mir widrig ist, als eines nur,

Des Fleisches Kette, die auch mich umflicht,

Indes die Seele flieh'n kann zum Azur,

Zum Berg, zum Ozean, zum Sternenlicht, Und sich versenkt ins All — und, o, vergebens nicht!


oder der folgenden:


Sind nicht die Himmel, Meer' und Berg' ein Stück

Von meiner Seele, wie von ihnen Ich?

Ist sie zu lieben nicht mein reinstes Glück?

Und alles, was Ich ihnen je verglich,

Sollt' Ich es nicht verachten? Soll Ich mich

Aus Furcht vor Schmerzen dieser Lieb' entschlagen?

Soll dieses Herz in stummes Phlegma sich

Weltlich versenken, wie die Feigen, Zagen,

Die stets zu Boden schau'n und zu erglüh'n nicht wagen?


Diesem selben heißen, leidenschaftlichen Verschmelzen mit der Natur zu unauflöslichem Bunde entströmen auch die hinreißenden Stanzen, die schönsten, die je zu ihrem Lobe gesungen sind, — in denen er die zauberische Schönheit des Genfer Sees schildert oder die grandiosen Schrecken der umgebenden Alpenwelt (vgl. Ges. III, St. 85 ff.); nur zwei daraus mögen hier noch folgen:


Himmel und Erd' ist still, doch schlafend nicht,

Nur atemlos wie tiefste Wonn' und Qual,

Wann allzuvoll das Herz nicht seufzt noch spricht.

Himmel und Erd' ist still, — der Sterne Zahl,

Der eingelullte See, Gebirg und Tal,

All in ein einzig lebend Eins verfließt,

Darinnen jedes Lüftchen, Blatt und Strahl

Anteil am Dasein hat und mitgenießt,

Was schaffend all' erzeugt und schirmend all' umschließt.


Und weiter unten:


Himmel, Gebirge, Strom, See, Blitz und Winde

Und Nacht und Donner und der Wolken Schwall!

Dazu ein Geist, der alles dies empfinde, —

Wohl mag Ich wachen! Euer ferner Hall

Im Scheiden tönt mir wie Sturmglockenschall

Dessen, was schlaflos ist in meiner Rast.

Und du, o Sturm, wo ist dein Ziel im All?

Gleichst du dem Sturm im Herzen? Oder hast

Du Adlern gleich ein Nest im hohen Bergpalast?


Bei Byron finden sich alle Methoden, deren sich der Dichter bedienen kann, um körperliche Formen und Situationen, Naturdinge und Erscheinungen in voller Anschaulichkeit vor unser geistiges Auge zu bringen; von jener Art, die Natur als ein Ganzes und in jeder ihrer Kundgebungen zu beseelen bis zu dem Verfahren, sie mit dem eigenen Seelenleben völlig zu durchdringen, ja zu identifizieren und bis zu jener andern Art, den elementaren Bewegungen des Gemütes gewissermaßen einen Ausweg zu verschaffen in der Vergegenwärtigung wahlverwandter Naturszenen und -Gegenstände.

In allen Fällen aber, in denen körperliche Gegenstände als dichterisches Darstellungsmittel verwendet werden, und bei allen Methoden dieser Verwendung ist das Charakteristische des Verfahrens nicht die Umsetzung in Handlung, die Verwandlung des Koexistenten in ein Sukzessives, sondern die durch das oberste Prinzip aller Kunst, psychische Vorgänge nachzuahmen, gebotene Erfassung des Gegenständlichen als eines Beseelten oder doch unmittelbar auf Gemüts- und Seelenkräfte Wirkenden. Dabei wird das in der Praxis einzuschlagende technische Verfahren in der großen Mehrzahl der Fälle, wie sich aus der Natur der Nachahmung des Geistigen ergibt, die Darstellung von Leben und Bewegung, also Sukzession sein; aber jenes bloß äußerliche Verfahren, die Teile eines Gegenstandes, statt sie nebeneinander zu stellen, aufeinander folgen zu lassen, ist an sich weder ein obligatorisch für alle Fälle geltendes Gesetz, noch würde jener Handgriff an und für sich im entferntesten genügen, die Anforderungen des echten poetischen Kunstwerkes zu erfüllen, weil das Wesentlichste derselben darin noch gar nicht enthalten ist.

Das lediglich materielle, unbeseelte der Körperwelt, mag es nun in Koexistenz oder in einer durch eine äußerliche, mechanische "Handlung" erfolgenden Sukzession seiner Teile vorgeführt werden, ist und bleibt tot und darum unkünstlerisch, unpoetisch!

Solche Beispiele, wie sie Lessing im XVI. Abschnitt des Laokoon anführt, von dem Wagen der Juno oder der Bekleidung des Agamemnon, sind an und für sich gar sehr geeignet, irrezuführen. Die Beschreibung oder Malerei solcher Gegenstände hat poetisch an und für sich gar keinen Wert, mag sie nun mit minutiöser Kleinmalerei erfolgen oder nach der Vorschrift einer Umwandlung des Koexistenten in ein Sukzessives. Umgekehrt, führt der Dichter sie ein unter dem einzigen Gesichtspunkt, von welchem aus sie dichterischen und überhaupt künstlerischen Wert erhalten, nämlich insofern sie ein seiner Natur nach ethisches Moment, das darum auch wiederum eine psychische Regung bewirkt, nachahmend darstellen, so stehen auch dem Dichter beide Darstellungsarten zu Gebote und er ist keineswegs an die Befolgung des Gesetzes von der Umwandlung in Sukzession gebunden.

Als Beleg diene die sehr umständliche Beschreibung von Kleidung und Putz in der 15. Romanze des ersten Zyklus von Herders Cid. Die poetische Grundstimmung, der "ethische" Nachahmungszweck dieses ganzen, räumlich bedeutendsten Teiles der betreffenden Romanze ist in der dritten Strophe angegeben:


Herrlich ging am Hochzeittage

Auf die Sonne. Don Rodrigo,

Abgelegt die Waffenrüstung,

Kleidet sich mit seinen Brüdern

Hochzeitlich und fröhlich an.


Und nun folgt in sieben, sehr ausgedehnten, Strophen die sehr genaue Schilderung des Hochzeitsanzuges des Cid und der Donna Ximene, und zwar so, dass von dem durch Lessing vorgeschriebenen dichterischen Mittel, statt der Beschreibung der Kleidung die Handlung des Ankleidens zu erzählen, nur ganz beiläufig im Beginne Gebrauch gemacht ist; der bei weitem überwiegende Teil der Beschreibung erfolgt dann lediglich als Schilderung des Koexistenten. Nichtsdestoweniger wird niemand bezweifeln, dass der poetische Nachahmungszweck, in der Pracht der Zurüstungen die "hochzeitlich-fröhliche" Feststimmung verbunden mit der echt adeligen Grandezza und der durch alle, im besten Sinne vornehmen, Vorzüge geschmückten Art und Haltung der Gefeierten lebendig zum Bewusstsein zu bringen, mit anschaulichster Wirkung erreicht ist:


Echt walloner Pantalone,

Mit Scharlach gezackte Schuhe,

Fein an Leder; zween Stifte

Hefteten sie fest und enge

An den kleinen, netten Fuß.


Jetzo zog er an die Weste,

Eng anliegend, ohne Borten;

Dann die schwarze Atlasjacke,

Wohlgepufft, mit weiten Ärmeln

(Wenig hatte sie sein Vater

Nur getragen). Auf den Atlas

Fiel von ausgezacktem Leder,

Breit, anständig, das Kollett.


Und ein Netz von goldnen Fäden,

Eingewirkt in grüne Seide,

Schloss sein Haar ein. Auf dem Hute

Von Cortrayer feinem Tuche

Hob sich eine Hahnenfeder

Wunderbarlich hoch und rot.


Schön befranzt bis auf die Hüfte

Reichet ihm die Jazerine,

Und um seine Schultern spielet

Ausgeplüscht ein Hermelin.


Und der unverzagte Degen,

Tizonada war sein Name,

Er, der Schrecken aller Mauren,

Hängt in schwarzen Sammetbändern

An dem festen, tapfern Gurt.

Ausgezackt, gefasst mit Silber

War der Gurt; ein feines Schnupftuch

Wohlgefaltet hing an ihm.


Und weiter dann:


Sittsam stand sie da, Ximene;

Von elastisch feiner Leinwand

Puffte ihre Flügelhaube;

Von dem feinsten Londner Tuche

Wohl garniert, war ihre Kleidung,

Die von Schultern zu den Füßen

Barg und zeigte ihren Wuchs.

Auf zwei rosigen Pantoffeln

Stand als Königin sie da.

Ihren Hals umschlang ein Halsband;

An ihm hingen acht Medaillen,

Einer Stadt an Werte gleich;

Und die reichste unter ihnen,

Den Sankt Michael darstellend,

Schwer von Perlen und Juwelen,

Hing Ximenen an der Brust.


Ob der Hörer nach diesen Strophen imstande ist, sich ein vollständiges und richtiges Bild der Toilette des Paares zu machen, ist eine untergeordnete Frage; worauf es ankommt, und was ohne Zweifel erreicht ist, das ist der Eindruck der durch die Erscheinung des Seltenen, Außerordentlichen, hervorgerufenen gespannten Erregung, den solche Zurüstungen auch in der Wirklichkeit zum Zwecke haben, und welche hier überall die Vorstellung von höchstem Verdienst, ausgezeichneter Sitte und altangestammtem und persönlichem Adel erwecken.

Dagegen wird durch den Umstand, dass die Regel des Laokoon, die koexistenten einzelnen Züge in eine Sukzession einzelner Handlungen aufzulösen, in der Tat ganz konsequent beobachtet ist, eine Schilderung wie die folgende Dan. Kasp. von Lohensteins nicht um ein Haar über das tiefe Niveau des übrigen Schwulstes der Schlesier gehoben:8


Jetzt liebt die gantze welt! des Titans glut wird mächtig

Die erde zu vermählen, der himmel machet trechtig

Mit regen ihren schooß ....

.... der blumen sommer-haar

Bekleidet allbereits die unbelaubten wipfel:

...........

Ja selbst die zeit wird braut, die blumengöttin schmücket

Ihr selbst das braut-gewand, und ihre kunst-hand stücket

Der Tellus grünen Rock mit frischem rosen-schnee

Und weißen liljen aus. Hier wächset fetter klee

Auff Kyblens marmor-brust; dort bücken die narcissen

Sich zu den tulpen hin, einander recht zu küssen.

.........

Indessen feuchtet dort mit den bethauten flügeln

Der zuckersüße west die wiese, die fast lechst.

Das weiß-beperlte graß, das in den thälern wächst,

Bekränzt der sternen-thau u. s. w. u. s. w.


So geht es fort durch fast zweitausend Alexandriner ohne eine Spur von Poesie; die aufeinander gehäuften Massen der Materie bleiben tot trotz des erlogenen Scheines von Leben.


Fußnoten:


1. Vgl. Jakob Grimm, Kleine Schriften: "Über das Wesen der Tierfabel."

2. Vgl. hierzu: Lehrs "Populäre Aufsätze aus dem Altertum", 2. Aufl., Leipzig 1875; namentlich die Aufsätze: "Die Nymphen", "Die Horen", "Naturreligion".

3. "Eine Rose und ein Mondschein erregen immer eine angenehme Empfindung und was vermag nicht eine Palme." Vgl. Lehrs a. a. O. in dem Aufsatz: "Die Nymphen".

4. In solcher Weise hat man sich unzweifelhaft den "Enthusiasmus" vorzustellen, von dessen kathartischer Heilung durch die Olympuslieder Aristoteles in der bekannten Stelle der Politik handelt. (Vgl. hierüber Polit. III, c. 7. 1341b. 32. — 1342a. 12.)

5. In derartigen Eindrücken hat die gesamte Mantik ihren natürlichen Grund und Ursprung.

6. Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103). "Ich bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier — es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupresst! Wehe, wehe! Und dann schweife Ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit." "Gestern Abend musste Ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; Ich hatte gehört, der Fluss sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte Ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Tal hinauf und hinab. Eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich-herrlichem Wiederschein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand Ich gegen den Abgrund und atmete hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinabzustürmen! dahinzubrausen wie die Wellen. Oh! — ..... Wie gerne hätte Ich mein Menschsein drum gegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zu teil? —"

7. Vgl. Übersetzung von O. Gildemeister, Bd II. Harold, Ges. III, St. 72, 75.

8. Vgl. Hoffmannswaldaus und anderer Deutschen auserlesene Gedichte. Leipzig 1695, S. 240. "Venus" von D. C. V. L.

Handbuch der Poetik, Band 1

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