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III.

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Es wird erforderlich sein diese Sätze an der Erfahrung zu prüfen, um auch unabhängig von der entwickelten Schlussfolge zur Beantwortung der Frage zu gelangen, inwieweit die im Laokoon gegebene Definition der Poesie auf die Lyrik Anwendung finden kann.

Wie steht es also mit dem Lessingschen Sukzessionsbegriff, wenn es sich, wie in der Lyrik, um nachahmende Darstellung von Empfindungen, von Stimmungen und Seelenzuständen handelt? Ist nicht das wesentliche einer Seelenstimmung, eines Gemütszustandes vielmehr gerade etwas Stationäres? Und ist die nachahmende Darstellung solcher psychologisch-ethischen Zustände nicht gerade eine der Hauptaufgaben der Poesie? Und wenn auf dem Gebiete der Darstellung von bloßen Empfindungen das Moment der Entwicklung, der Wandlung, des Streites entgegengesetzter oder des Wechsels verwandter Affekte naturgemäß leichter Platz greift, kann denn in einem lyrischen Gedichte nicht auch eine einzelne Empfindung ganz ohne Veränderung kontinuierlich oder vielmehr stationär zur Darstellung gebracht werden, etwa wie ein einzelner, lang ausgehaltener Ton oder Akkord? Wie soll z. B. der Begriff des "Gegenstandes, dessen Teile aufeinander folgen", Anwendung finden auf Goethes "Wanderers Nachtlied"?


Über allen Gipfeln ist Ruh,

In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, bald ruhest du auch.


Durch die sinnliche Vorstellung des schweigenden Waldes, zugleich freilich durch die wunderbare Macht des rhythmischen Tonfalles, ist hier in unübertrefflicher Weise der Seelenzustand (das Ethos) still, fast heitergefasster Ergebung in den Todesgedanken nachgeahmt und zwar in einer Freundlichkeit der Stimmung und in einem Reichtum der Nuancen — die durch die Analogie des wunderschönen Bildes, das an alle Sinne zugleich sich wendet, mit Eins gegeben ist — wie sie keine abstrakte Schilderung zu wecken vermöchte. Aber wo ist hier ein Moment der Veränderung oder Folge? Nicht einmal in dem angewandten Bilde! Man müsste denn die "Folge" und damit die "Handlung" darin finden, dass auf die Schilderung des koexistenten Bildes die mit dem Anblick desselben sich verknüpfende Stimmung der Zeit nach folgend zur Erwähnung gelangt; aber dann wäre in allen derartigen lyrischen Gedichten ein und dieselbe Handlung, — ein Gedanke, den man Lessing nicht zutrauen darf.

Ein Gedicht wie dieses muss, wenn der rechte Künstler sich dazu findet, ganz gemalt werden können! Es ist die recht eigentliche Aufgabe der Landschaftsmalerei, wenn sie nicht lediglich die Formen der Natur kopiert, sondern ihre Wirkungen nachzuahmen trachtet, ein derartiges Ethos, wie es hier in den Schlussworten mit der Vorstellung des geschilderten Bildes verknüpft wird, nachahmend zu erwecken und diese Nachahmung zu ihrem eigentlichen Gegenstande und obersten Zwecke zu machen.

Freilich setzt das Lied den Ausdruck der Empfindung — "Warte nur u. s. w." — dem Naturbilde hinzu; aber doch nur, da in demselben der Anlass dazu gegeben ist. Verfährt nun der Maler nicht als Kopist, sondern als Künstler, so besteht seine Kunst eben darin, sein Bild so zu malen, dass es nicht bloße Vedute, sondern Mimesis eines Ethos sei, dass in ihm der Anlass zu jener Empfindungsweise mit eben der Kraft gegeben sei wie im Liede. Man muss es nicht betrachten können, ohne zu demselben Gefühl bewegt zu werden; es muss die Bereitschaft — δύναμις — zu demselben herzustellen, ganz ebenso alle Mittel in sich vereinigen wie das Lied. Freilich wendet sich dieses an mehrere Sinne zugleich, es nimmt auch den Gehörssinn in Anspruch — "die Vögelein schweigen im Walde" —, das kann die Malerei nicht; aber wie viel mehr vermag sie uns dafür zu zeigen und wie viel deutlicher! Mit tausend Stimmen reden Formen, Licht und Farben zu uns, alle übereinstimmend jenes eine Gefühl, zu einer Gesamtwirkung vereinigt, uns in die Seele zu gießen.

Die Alten gingen sogar im Liede so weit, sich auf die bloße Schilderung des Landschaftsbildes zu beschränken und den Ausdruck der Empfindung ganz fortzulassen, wie das kleine Gedicht des Alcman zeigt, welches mit Recht als eine überraschende Parallele zu Goethes "Über allen Gipfeln" herangezogen ist:


Εν῞δουσιν δ'ὀρέων κορυφάι τε καὶ φάραγγες,

πρώονές τε καὶ χαράδραι,

φύλλα θ'ἑρπετά θ'ὅσσα τρέφει μέλαινα γαῖα,

θῆρες ὀρεσκῷοί τε καὶ γένος μελισσᾶν

καὶ κνώδαλ' ἐν βένθεσι πορφυρέας ἁλός·

εὕδουσιν δ'ὀϊωνῶν

φῦλα τανυπτερύγων.


Schlafend liegen der Berge Gipfel und die Täler,

Uferklippen und Felsenschluchten,

Laubgezweig und alles Gewürm der schwarzen Erde,

Tiere des Bergwalds und das Volk der Bienen,

Und die Ungetüme der dunklen Meerestiefe,

Schlaf umfängt der Vögel

Breitgeflügelte Schwärme.


Überall wird in beiden Künsten dieser eigentliche Gegenstand und Zweck der Nachahmung von den dafür verwendeten technischen Mitteln scharf zu unterscheiden sein.

Eine einzige, die ganze Seele wie der Spiegel eines ruhenden Sees ausfüllende Stimmung ist es auch, nur scheinbare Bewegung in Bildern und Empfindung, was in Goethes Lied "An den Mond" nachgeahmt ist:


Füllest wieder Busch und Tal

Still mit Nebelglanz,

Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz;


Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick,

Wie des Freundes Auge mild

Über mein Geschick.


Jeden Nachklang fühlt mein Herz

Froh- und trüber Zeit,

Wandle zwischen Freud' und Schmerz

In der Einsamkeit.


Fließe, fließe, lieber Fluss!

Nimmer werd' Ich froh!

So verrauschte Scherz und Kuss

Und die Treue so.


Ich besaß es doch einmal,

Was so köstlich ist!

Dass man doch zu seiner Qual

Nimmer es vergisst!


Rausche, Fluss, das Tal entlang,

Ohne Rast und Ruh,

Rausche, flüstre meinem Sang

Melodien zu,


Wenn du in der Winternacht

Wütend überschwillst,

Oder um die Frühlingspracht

Junger Knospen quillst.


Selig, wer sich vor der Welt

Ohne Hass verschließt,

Einen Freund am Busen hält

Und mit dem genießt,


Was von Menschen nicht gewusst,

Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust

Wandelt in der Nacht.


Es ist der Zustand völliger, tiefster Stille der Seele, der aus diesen wundervollen Strophen sich uns mitteilt, aber einer Stille, die über die gedrängte Fülle stärkster Empfindungen und reichster Erinnerungen sich breitet; als ob die in rastlosem Wechsel zahllos tätigen, zu Genuss und Schmerzen immer erneut aufregenden Lebenskräfte nun dem rückwärtsgewandten Bewusstsein alle zugleich sich darbietend in ruhendem Gleichgewichte weithin sich ausbreiten, keine das Gemüt beherrschend, alle doch zugleich ihm gegenwärtig, ganz gelöst die Seele und doch zugleich schwellend von der unendlichen Fülle der regsten Energien! — Koexistenz in des Wortes striktester Bedeutung, in dem dargestellten Seelenzustande wie in dem Bilde des mondüberglänzten Thales mit seinen Gebüschen und mit seinem ruhig hingleitenden Fluss! Nur einen Augenblick wandelt die entrückte Phantasie sich das ruhende Bild zu einer Analogie künftiger Gesänge, um sogleich wieder dem Schweigen der Mondnacht hingegeben in sich selbst zu versinken. Allein auch dieses scheinbare "Nacheinander" ist doch im Grunde nur ein "Nebeneinander", und es ist lediglich das technische Moment der zeitlichen Wortfolge, welches zwingt, die zeitlich durchaus koexistenten Stimmungselemente in Sukzession vorzuführen. Will man das eine "Handlung" nennen, so ist in diesem Sinne ganz ebenso die "Folge von Gegenständen oder deren Teilen" in jeder Hallerschen, Brockesschen oder Hoffmannswaldauschen Beschreibung nachzuweisen.

Man sehe die ganze Reihe der Goetheschen Lieder an, z. B. "Meeresstille", "Herbstgefühl", "Frühzeitiger Frühling", Mignons "Kennst du das Land", oder welche man will, es ergibt sich immer dasselbe Verhältnis.

Zum Beweise diene ein Lied, welches auf den ersten Blick dem Lessingschen Begriff von Handlung auf das vollkommenste zu entsprechen scheint: "Auf dem See."


Und frische Nahrung, neues Blut

Saug' Ich aus freier Welt;

Wie ist Natur so hold und gut,

Die mich am Busen hält!

Die Welle wieget unsern Kahn

Im Rudertakt hinauf,

Und Berge, wolkig himmelan

Begegnen unserm Lauf.


Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?

Gold'ne Träume, kommt ihr wieder?

Weg, du Traum, so gold du bist!

Hier auch Lieb' und Leben ist.


Auf der Welle blinken

Tausend schwebende Sterne;

Weiche Nebel trinken

Rings die türmende Ferne;

Morgenwind umflügelt

Die beschattete Bucht,

Und im See bespiegelt

Sich die reifende Frucht.


Hier ist erstlich die äußere Handlung der Fahrt auf dem See und neben ihr und mit ihr verschlungen die innere des Streites der Empfindungen und des Obsiegens des freudigen Naturgefühls; dazu ist in dem entzückenden Landschaftsbilde, das sich vor uns entrollt, in dieser Sukzession von Worten, deren jedes dem Bilde einen neuen Zug hinzufügt, jeder dieser einzelnen Züge auf das kunstreichste in einem kleinen Bewegungsvorgange für sich zur Anschauung gebracht, von der den Kahn im Rudertakt "dahinwiegenden" Welle bis zu dem die Bucht "umflügelnden" Morgenwinde und den Früchten, die im See sich "bespiegeln".

Nun ist es doch aber ganz ohne Frage dieses Bild nicht, bei aller seiner Schönheit, um dessentwillen Goethe jenes Lied gesungen hat; und wie will man von dem Gesichtspunkte aus, dass sein Gegenstand eine "Handlung" sei, ohne pedantischen Zwang zu einer einheitlichen Auffassung desselben gelangen?

Wir wissen, Goethe hat das Lied am 15. Juni 1775 auf dem Züricher See gedichtet, nachdem er mit liebeerfülltem Herzen von Lili sich losgerissen, und es ist uns interessant diese individuellen Umstände zu kennen. Was aber dem Gedichte seinen unvergänglichen Zauber verleiht, ist doch etwas davon ganz Unabhängiges; es ist die Kraft und Frische, mit der es eine einzige Seelenstimmung so lebhaft hervorbringt, dass hier in der künstlerischen Nachahmung die Wirkung eine noch weit intensivere und vor allem gewissere ist, als wenn die Mittel, deren sie sich bedient, in der Natur selbst auf uns wirkten. Denn hier ist ihren Reizen Sprache verliehen, und von der Gewalt, mit der sie in einem hoch überragenden Geiste wirkten, empfangen wir die Richtung und Erhebung unsers eigenen Fühlens.

Eine einzige Seelenstimmung ist nachgeahmt, der Streit der Empfindungen ist nur diesem Zwecke dienstbar: die Tiefe und Freudigkeit des Goetheschen Naturgefühls, die glühende Liebe, mit der er jede ihrer Erscheinungen als die Äußerung eines beseelten Wesens sympathisch empfängt und jubelnd wiederklingen lässt, — sie wird nur gehoben durch die Kontrastierung mit der Befangenheit jener süßen Herzensirrungen, aus denen er mit entzücktem Aufschwunge zu der Gesundheit und Kraftfülle seines universellen Empfindens sich emporhebt.

Analysieren wir die Mittel genauer, mit welchen der Dichter die überwältigend stark wirkende Nachahmung dieses "Ethos" bewirkt hat, so lassen sich deren zwei sehr deutlich unterscheiden. Lassen wir die vier Eingangszeilen fort, die weiter nichts als einen Ausruf enthalten, in welchem die Grundtonart der Stimmung angegeben ist, und scheiden die vier Zeilen der mittleren Strophe aus, so behalten wir in den verbleibenden zwölf Zeilen ein bloßes Landschaftsbild übrig, dessen Haupt- und Detailzüge mit der größten Sorgfalt aus lauter einzelnen Bewegungsvorgängen zusammengefügt sind und zwar zu einem koexistierenden Ganzen, einem einzigen Totalbilde, in Wahrheit der ζωγραφία λαλοῦσα — dem "redenden Gemälde" — des Simonides. Nur müsste der Maler, der sich vermessen wollte "das Goethesche Gedicht gemalt" zu haben, es verstehen in seine Landschaft diejenige "Kraft" zu zaubern, dass sie unwiderstehlich und überwältigend mit demselben "Ethos" uns unmittelbar erfüllte, welches zu erzeugen der Dichter nun den anderen Teil seines Gedichtes hat zu Hilfe nehmen müssen. Der frische Hauch des Morgens müsste uns aus seinen Farben und Konturen entgegenwehen, dass wir in freier Welt an dem holden Busen der Natur uns fühlten! Mit so siegender Gewalt müsste das Entzücken an der verschwenderischen Fülle ihrer Schönheit, an der unvergänglich erfrischenden Kraft ihrer ewigen Jugend uns ergreifen, dass wir ein "Weg, du Traum, so gold du bist" allen lediglich individuellen und eben darum beengenden Empfindungen zurufen, die sich diesem Entzücken beeinträchtigend in den Weg stellen, und mögen es die uns teuersten sein! Dann wäre es dem Maler gelungen das Ethos der Naturwirkung nachahmend hervorzubringen; der Dichter musste den direkten Ausdruck desselben seinem Bilde hinzufügen und ebenso von der überwiegenden Gewalt des Naturgefühls über die stärkste individuelle Regung konnte er nur durch die direkte Vorführung jenes Streites uns überzeugen.

Mit Evidenz ergibt sich aus diesem Beispiel, bis zu welchem Grade es als ein Fehlgriff zu bezeichnen ist, welcher in der Praxis notwendig in die Irre führen muss, wenn man der Poesie generell als ihren Gegenstand "Handlungen" zuweist.

Mit Evidenz zeigt sich aber auch daran, in welchem Sinne Lessings Gesetz seine ganz unbestreitbare Richtigkeit hat; immer bleibt das Mittel der Dichtung die Bezeichnung von Bewegungen, Vorgängen, ihr Element ist das Sukzessive; immer das Mittel der Malerei die Darstellung von Körpern, Situationen, ihr Element ist das Koexistente; die Gegenstände können beiden Künsten gemeinsam sein.

Mit dem Takte des Genies hat Goethe dies erkannt, und in dieser Beschränkung, aber eben auch nur so weit, lässt sich die Befolgung des Lessingschen Gesetzes durch die gesamte Goethesche Dichtung als eines der wirksamsten Mittel seiner Kunst nachweisen.

Jeden Teil des koexistierenden Gesamtbildes, zu welchem der Maler eine gesonderte Gruppe von Körpern in sorgfältigst ausgewählter Haltung zueinander und in fein erwogener Beleuchtung gebraucht, zaubert er in souveräner Beherrschung der Sprachmittel durch die lebhafteste Bezeichnung des Bewegungsvorganges, welchem der eine Moment, den das Bild allein aufzufassen vermag, als Mittelpunkt angehört, vor unser geistiges Auge; ja, wo eine solche Bewegung fehlt, weiß er die ruhende Situation dennoch als das Resultat einer bewussten Energie des beseelten, tätigen Waltens, als welches ihm überall die Naturerscheinungen entgegentreten, aufzufassen und darzustellen. So, wenn es heißt: "Wie ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält;" "weiche Nebel trinken rings die türmende Ferne;" oder in "Willkommen und Abschied:" "Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing die Nacht;" "Schon stand im Nebelkleid die Eiche Ein aufgetürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah;" ebenso schon in dem ganz frühen Jugendliede "Die schöne Nacht:" "Luna bricht durch Busch und Eichen, Zephyr meldet ihren Lauf, Und die Birken streun mit Neigen Ihr den süßten Weihrauch auf." Ein kontinuierliches Beispiel und ein wahres Kabinettstück dieser Behandlung ist "Amor als Landschaftsmaler", wo das erquickende Gemälde einer reichen Landschaft, wie sie, da eben die Frühnebel weichen, in dem frischen Tau des köstlichen Sommermorgens vor dem entzückten Auge allmählich sich enthüllt, mit virtuoser Kunst als die sukzessiv entstehende Malerei des Liebesgottes auf dem ausgespannten grauen Nebeltuch durch eine Reihe von Bewegungsvorgängen zur sinnlichsten Anschauung und zur lebhaftesten Wirkung auf die Empfindung gebracht wird.

Nie und nirgends hat Goethe sich durch den Laokoon darin beirren lassen, Körperliches in seinen Dichtungen zu malen, Koexistentes zu schildern, und zwar keineswegs nur "andeutungsweise durch Handlungen", sondern geradezu und mit der recht eigentlichen Absicht zu malen und zu schildern. Dass es ihm gelungen, diese von Lessing im Prinzip verurteilte poetische Malerei und Schilderung überall so durchzuführen, dass sie den Erweis ihrer Berechtigung in sich selber trägt, das liegt daran, dass die Technik, mit welcher er die dazu erforderlichen Mittel zu den höchsten Wirkungen zu nutzen weiß, eben nicht ein bloß äußerliches Kunstmittel ist, sondern dass sie ihrem innersten Wesen nach aus den eigentlichen Grundgesetzen der Poesie organisch und mit Notwendigkeit hervorgeht.

Wo liegen nun die tieferen Gründe, welche jene Technik als eine dem wesentlichsten Prinzip der Dichtung entsprossene kennzeichnen?

Lessing begründet seine Regel, der Dichter solle das Koexistente in ein Sukzessives umwandeln, lediglich durch die Berufung auf die sukzessive Natur der Sprache, des poetischen "Mittels"; er bestreitet zwar nicht, dass diese Beschaffenheit an sich wohl die Beschreibung und malende Schilderung zulasse, doch behauptet er als einen Erfahrungssatz, dass ein solches Schildern niemals den Grad der Anschaulichkeit erreichen könne, welcher in der Poesie als ein Haupterfordernis der Körperschilderung verlangt werden müsse.

Selbst die Richtigkeit dieses Grundes zugegeben, so ist es doch ein fundamentaler Unterschied, ob der Poesie als ihr ausschließliches Gebiet Handlungen zugewiesen werden und Darstellungen des Körperlichen nur beiläufig und andeutungsweise durch jenen Kunstgriff, oder ob unter den Gebieten, welche die Poesie beherrscht, die Körperwelt einen ebenbürtigen Platz einnimmt als eines der wichtigsten Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke. Solch einen Rang behauptet sie bei Goethe, dessen Gedichte überall das malerisch auf das vollkommenste geübte Auge des Dichters erkennen lassen, dessen Schilderungen als malerisch gedachte, mit malerischem Geschick komponierte, weit ausgespannte Gesamtbilder einheitlich sich überschauen lassen und wirken. Lessings prinzipielle Forderung, der Dichter solle nicht malen, wird durch Goethe auf jeder Seite widerlegt; wir lernen von ihm, er kann malen, also soll er malen!

Nur ein starkes Beispiel aus Goethes spätester Zeit, aus dem Jahr 1827! Es ist das achte Lied aus den "Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten":


Dämm'rung senkte sich von oben,

Schon ist alle Nähe fern,

Doch zuerst emporgehoben

Holden Lichts der Abendstern.

Alles schwankt ins Ungewisse,

Nebel schleichen in die Höh';

Schwarzvertiefte Finsternisse

Wiederspiegelnd, ruht der See.


Nun am östlichen Bereiche

Ahn' Ich Mondenglanz und -Glut,

Schlanker Weiden Haargezweige

Scherzen auf der nächsten Flut.

Durch bewegter Schatten Spiele

Zittert Luna's Zauberschein,

Und durchs Auge schleicht die Kühle

Sänftigend ins Herz hinein.

Man möchte das Lied für die genau sich anschließende Beschreibung eines Landschaftsgemäldes halten, wüssten wir nicht, dass die "ganze Szenerie der Örtlichkeit konkret entnommen ist," der Aussicht über Garten, Park und Wiesen, die sich dem Dichter von seinem Gartenhause aus darbot (vgl. die Anmerkung von Loeper, Hemp. Ausg. III, S. 156).

So bleibt nur die technische Forderung Lessings: das Ruhende, Gleichzeitige durch Verwandlung in ein Bewegtes, Fortschreitendes der lebhaften Anschauung fähig zu machen, die in der Dichtung — weil die Wahrnehmung die in der Wortfolge nacheinander namhaft gemachten Teile eines komplizierteren Ganzen erfahrungsmäßig nicht zu einer übersichtlichen Gesamtheit zu vereinigen vermöge — auf keine andere Weise erreicht werden könne.

Für die nähere Untersuchung ergeben sich hier also zwei Fragen: gibt es außer der Erfahrung innere, im Wesen der poetischen Kunst liegende Gründe dafür, dass die Darstellung der Bewegung und des Fortschreitenden lebendiger wirkt als die einfache Beschreibung?

Und: in welchen Fällen und auf welche Weise wird demgemäß eine solche Umwandlung der Beschreibung in Darstellung des Bewegten möglich sein?

Die Beantwortung dieser Fragen kann nur gefunden werden auf dem Boden der im Obigen gewonnenen Resultate, dass weder "Handlungen" noch "Körper" die Gegenstände der Künste sind, sondern beides nur Mittel, die eigentlichen Gegenstände nachahmend zu verkörpern; dass diese Gegenstände, die der Poesie und Malerei gemeinsam sein können, dem inneren Seelenleben angehörig, psychologisch-ethischer Natur sind und darum an sich selbst weder nach dem Prinzip der Koexistenz noch nach dem der Sukzession zu unterscheiden, sondern dass diesen Prinzipien nur die Mittel ihrer Nachahmung durch diese oder jene Kunst unterworfen sind.

Umgekehrt wird die Untersuchung nach der inneren Begründung jenes technischen Haupterfahrungssatzes für das verschiedene Verfahren der Poesie und der bildenden Kunst geeignet sein, die Erkenntnis der eigentlichen Gegenstände der künstlerischen Nachahmung von einer neuen Seite noch klarer ins Licht zu setzen.

Handbuch der Poetik, Band 1

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