Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1 - Dr. Hermann Baumgart - Страница 5
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Bei dem Versuche, die "Poetik", als eine "Theorie der Dichtkunst", wissenschaftlich darzustellen, wird man es immer noch nicht wagen können, den direkten Weg rein systematischer Begriffsentwicklung einzuschlagen. Denn wie es hier an einem allgemein anerkannten Grundprinzip der theoretischen Betrachtung fehlt, so wäre auch jeder Schritt jenes Weges mit einer Menge der dornigsten Probleme besät, von denen keines ganz losgelöst von den Zeitverhältnissen und -Anschauungen, die es in den Vordergrund drängten, und ganz unabhängig von den verschiedenen Stadien der Erörterung, die es erfahren, erwogen, ja nur verstanden werden kann. Der Gegenstand verlangt daher neben der abstrakt-begrifflichen gebieterisch eine historisch-kritische Behandlung; beide müssen eng verbunden werden und, wo möglich, sich gegenseitig völlig durchdringen. Wie die theoretischen Begriffe der Poetik auf dem Hintergrunde ihrer geschichtlichen Entwicklung angeschaut werden müssen, so kann andrerseits die Darstellung der letzteren nirgends der kritischen Prüfung entraten, und wieder, wie könnte diese in einheitlich zusammenhängender und übereinstimmender Weise erfolgen, ohne dass eine gemeinsame prinzipielle Grundlage gewonnen würde, auf welche überall die einzelnen Sätze zurückzuführen wären?
Nicht anders ist auch in der Tat der Komplex von Vorschriften, Gesetzen, Definitionen und Beobachtungen entstanden, welchen wir mit dem Namen einer deutschen Poetik bezeichnen. Da hierzu eine Vereinigung von literar-historischem Bewusstsein mit gelehrter Kritik und ästhetischer Spekulation erfordert wurde, so zeigen sich die ersten Spuren nicht vor dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Aber sowohl Opitz und seine Mitstrebenden als die sehr zahlreichen nachfolgenden "Poetiken" dieses Jahrhunderts haben für die Theorie der Dichtkunst sehr wenig geleistet, sie beschränken sich fast ausschließlich auf Vorschriften für die praktische Übung der Poesie. Erst das "philosophische" achtzehnte Jahrhundert fand für die Lösung der Aufgabe die höheren und allgemeineren Gesichtspunkte; anknüpfend an die kunst-philosophischen Schriften der Franzosen, Italiener und Engländer entstand in Deutschland der berühmte literarische Streit, der, obwohl im Grunde um wenige, vereinzelte und verhältnismäßig untergeordnete Fragen sich bewegend, doch die Veranlassung wurde, dass aus dem gesteigerten Interesse an der literarischen Kritik die Untersuchung nun den Aufschwung zu den höchsten Zielen gewann: zu der Frage nach dem Wesen des Schönen überhaupt und was in den einzelnen Künsten dafür zu gelten habe. Wenn schon die Streitschriften der Schweizer diese Richtung eingeschlagen hatten, so erfuhr um die Mitte des Jahrhunderts die neue Wissenschaft auf dem Boden der Wolffschen Philosophie eine systematische Bearbeitung und erhielt zugleich den Namen, den sie seither getragen hat, durch die "Ästhetica" des Frankfurter Professor Baumgarten. Seine Schriften und die seines Schülers und Anhängers Meier bildeten das Fundament, auf welches noch eine lange Zeit die Untersuchungen über die Theorie der Dichtung gegründet wurden. Aber bleibenden Wert und absolute Geltung vermochten sie so wenig zu behaupten als die Wolffsche Philosophie selbst, aus welcher ihre obersten Prinzipien geschöpft waren. Die Baumgartensche Theorie lieferte weder unmittelbar praktisch verwendbare Gesetze und Regeln, welche direkt zur Bekämpfung der Mängel der deutschen Dichtung, wie sie um die Mitte des Jahrhunderts sich entwickelt hatte, geeignet gewesen wären, noch war sie tief genug gegründet, um in den folgenden Jahrzehnten den ungemein erweiterten und bereicherten Anschauungen vom Wesen der Poesie standhalten zu können.
Hier treten nun Lessing und Schiller ein, der eine auf der Aristotelischen, der andere auf der Kantschen Philosophie Fuß fassend. Soweit die heute geltende "Poetik" auf einigermaßen festem Boden steht, stützt sie sich in den Fundamentalsätzen überall auf die von Lessing und Schiller gewonnenen Resultate. Sie beginnt erst recht eigentlich mit dem "Laokoon", und der Laokoon mit der "Hamburgischen Dramaturgie" liefert ihr noch heute den größten Teil ihres Besitzstandes.
Eine historisch-kritische Darstellung der deutschen Poetik wird also nicht umhin können sich zunächst mit den Fragen auseinanderzusetzen: Wie weit sind die in den genannten Schriften aufgestellten Fundamentalsätze noch heute in Geltung? Mit welchem Rechte sind sie zum Teil bestritten oder bestreitbar? Sofern sie fehlerhaft sind, wo sind diese Fehler zu suchen, in den Voraussetzungen oder in den Schlussfolgerungen? Ist demnach die Methode der Untersuchung oder sind die Grundprinzipien zu verwerfen?
Mit einem Worte: ehe die eigentliche Darstellung begonnen werden kann, wird der Versuch zu machen sein, einen möglichst objektiven und absoluten Maßstab der Beurteilung zu konstruieren, und jener Versuch wird notwendig von der Prüfung jener mit Recht in ihren Hauptresultaten als kanonisch geltenden Schriften seinen Ausgang nehmen müssen. Zunächst also von Lessings Laokoon. In den folgenden einleitenden Abschnitten soll dieser Versuch gemacht werden.