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Tokolosh
2004

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Es ist dunkel, kalt und seit Tagen regnet es. In der Luft liegt ein Geruch aus angebranntem Essen und Lebensmittelresten, die in Mülleimern vor sich hin faulen. Der Matsch auf den Straßen ist samtig weich und klebrig, der Traum eines jeden Kindes, wenn es sich im Garten daran austoben darf. Uns macht er bei der Arbeit das Leben schwer. Er klebt an den Schuhen, von denen er nur mit Mühe abzubekommen ist, er klebt im Fußraum des Krankenwagens und manchmal bekommen wir die Seitentür fast nicht zu, nachdem wir einen Patienten mühsam eingeladen haben, weil der Matsch jede Ritze verstopft. Bloß nicht stecken bleiben, denke ich, während ich mich auf der Suche nach der Hausnummer, die uns über Funk mit der Information, dort habe eine junge Frau ihr Bewusstsein verloren, durchgegeben wurde, aus dem Seitenfenster des alten Mercedes-Krankenwagens lehne und mit der Taschenlampe die Wände der Wellblechhütten ableuchte. Die Sanitäterin am Steuer versucht, den Krankenwagen immer in Bewegung zu halten und die Untiefen der ungepflasterten Straße zu umfahren.

»Wenn wir jetzt stecken bleiben, kommen wir hier nie wieder weg«, sagt sie eher zu sich als zu mir und der anderen Rettungssanitäterin.

Ihre Kollegin, ebenfalls jung, aber in Dienstjahren noch deutlich hinter der Fahrerin, rollt mit den Augen und entgegnet: »Ach was, das sagst du jedes Mal und dann bekommst du den Blechhaufen doch immer wieder raus.«

»Letztes Mal mussten ja auch nur um die 20 Leute anschieben. Glaubst du, dass bei diesem Wetter irgendwer auch nur einen Schritt aus dem Haus macht?«

Die Nummern, wenn sie denn auf die Wand geschrieben sind, ergeben kein Muster und Straßennamen sind in diesem Teil des Townships auch nicht mehr zu finden. Wir befinden uns in der wohl ärmsten Gegend und der gefährlichsten. Den größten Teil der Strecke eskortierte uns ein kleiner Polizeiwagen, der aber vor wenigen Minuten beidrehte und uns der Dunkelheit überließ. In letzter Zeit häufen sich die Meldungen über Polizeiwagen, die in einen Hinterhalt geraten sind, nachdem sie die beleuchteten asphaltierten und wie mit einem Lineal gezogenen Straßen verlassen haben.

Das ist auch der Grund, warum man mich als deutscher Medizinstudent dem einzigen weiblichen Team der Rettungswache zugeteilt hat. Ich würde meine Kolleginnen schon irgendwie beschützen, so die zuversichtlichen Worte des Schichtführers. Davon bin ich ja weniger überzeugt, aber zu meiner Überraschung habe ich festgestellt, dass mein alter olivgrüner H&M-Parker, auf dessen linken Ärmel ich als Witz mein in der Vorschule erworbenes Seepferdchenabzeichen genäht habe, als militärische Uniform wahrgenommen wird.

»Bist du aus einer Spezialeinheit bei der Marine?«, fragte mich einmal ein angetrunkener Mann mittleren Alters, nachdem ich ihm in den Wagen geholfen hatte und wir uns auf dem Weg zum Krankenhaus gegenübersaßen. Wenn der wüsste, dachte ich mir und antwortete: »Ja, so was in der Art.«

Der Wagen rutscht plötzlich seitlich auf dem Weg in Richtung Graben, der parallel zur Straße verläuft.

»Sorry!«, kommt es von der Fahrerin, während sie ihn geschickt wieder einfängt.

An Bord des Krankenwagens haben wir etwas Verbandszeug, ein paar Gummihandschuhe und eine Flasche Sauerstoff. Medikamente, Geräte oder anderes medizinisches Material gibt es nicht mehr. Denn kaum ist ein Wagen in der Zentrale frisch bestückt, verschwindet auch schon alles wieder und wird als Hehlerware verhökert. Die Sauerstoffflasche ist deshalb im wahrsten Sinne des Wortes angeschlossen, mit einer Kette und einem Vorhängeschloss. Die Gummihandschuhe sind wohl uninteressant und das Verbandsmaterial ist gut versteckt. Aber an alles, was wie ein Gerät oder nach Medikamenten aussieht, brauchen wir uns hier in Südafrika gar nicht erst zu gewöhnen.

Endlich leuchtet die Hausnummer im Schein meiner Taschenlampe auf. Wir halten an einer Stelle, wo die Straße einigermaßen befestigt aussieht, schnappen uns die Trage und tauchen in das Labyrinth der Gänge zwischen den Wellblechhütten ein. Hinter der ersten Ecke erwischt mich beinahe ein niedrig hängender Draht. Es ist kaum möglich, einen sicheren Tritt zu finden. Ich spüre, wie das Wasser der tiefen Pfützen langsam in meine Schuhe läuft. Wenn der Matsch wenigstens das Wasser abhalten würde … Hinter der nächsten Ecke flackert eine Glühbirne über einer blechernen Tür. Wir klopfen.

»Metro Ambulanz«, ruft die ältere der beiden Sanitäterinnen, wartet aber gar nicht erst auf eine Antwort und öffnet die Tür.

In der Hütte, reines Wellblech, blanke Erde am Boden und nur ein einziger Raum, müssen sich meine Augen erst an das schwache Licht gewöhnen. Es herrscht gespenstische Stille. Langsam erkenne ich Umrisse von Menschen, eine Großfamilie. Die meisten Mitglieder sitzen auf Schemeln oder kleinen Stühlen. In einer der Ecken steht ein alter Sessel, darauf thront das Familienoberhaupt, eine ältere Frau. Ihre Augen lassen sich vor lauter Falten kaum erkennen, unter dem aufwendig gewickelten Kopftuch, das wie eine Art Krone wirkt, blitzen graue Haare hervor. Sie schaut uns mit durchdringendem Blick und irgendwie vorwurfsvoll an. Na, das ist dann ja schon mal nicht unsere Patientin, denke ich und suche in dem schlecht beleuchteten Raum weiter nach der bewusstlosen Frau. Die Alte schreit die beiden Sanitäterinnen auf Afrikaans, der Landessprache, an. In einer anderen Ecke des Raumes entdecke ich eine junge Frau, die auf einer Art Pritsche liegt. Ich mache ein paar Schritte auf sie zu. Sie ist bewusstlos, atmet aber. Das ist schon mal beruhigend, mache ich mir selbst Mut, während ich mich zu ihr runterbeuge, um ihren Puls zu tasten.

»Das Mädchen hatte vermutlich einen Krampfanfall. Wir müssen sie mitnehmen, um ihr zu helfen«, sagt meine Kollegin zu mir und übersetzt das dann der Alten, die sofort wieder losschimpft.

»Die glauben, dass sie vom Tokolosh befallen ist«, erklärt mir die Sanitäterin, den Blick weiter auf die Alte gerichtet, die sich in ihrem Redeschwall nicht im Entferntesten bremsen lässt.

»Na super«, antworte ich und lasse noch einmal meinen Blick über die Menschenansammlung wandern. Im Krankenhaus hört man ab und zu Geschichten über diesen Tokolosh, ein böser Kobold, der Unglück über die Menschen bringt. Der Ausdruck auf den Gesichtern der Leute verrät, dass sie das wirklich glauben. Jeder Einzelne hier in dem Raum hat Angst, panische Angst, dass sich dieser mysteriöse Tokolosh als Nächstes einen von ihnen vornimmt.

Die Alte wird noch lauter, ihre Worte werden noch eindringlicher, sie hört sich an wie ein Exorzist, der die Inkarnation des Bösen aus dem Raum vertreiben will. Die Familienmitglieder zucken bei jedem Wort zusammen, jeder macht sich auf seinem Schemel noch kleiner. Sogar die sonst so selbstbewussten Sanitäterinnen wirken ernsthaft eingeschüchtert. Auf einmal stößt die alte Frau eine Art Fluch aus, während sie einen Arm hebt und mit dem Finger auf die junge Frau zeigt. Allerdings knie ich mittlerweile zwischen der Patientin und dem Zeigefinger der Alten, deshalb scheint es so, als würde der Fluch mich treffen. Dann verstummt die Alte. Wieder Totenstille im Raum. In mir macht sich Unbehagen breit. Irgendwie fühle ich mich beobachtet, als würde jemand sich aus einer Ecke des Raumes finster grinsend das Schauspiel ansehen und darauf warten, was geschieht. Ganz so leicht werde ich die junge Frau aber dem Aberglauben, der ihre Zukunft zu erdrücken scheint, nicht überlassen. Man sagt, dass das Gewicht der Zunge eine Existenz zerstören kann. Und die Zunge der Alten lastet bereits schwer auf der Seele dieser jungen Frau. So kampflos gebe ich hier nicht auf.

»Sie hat gesagt, der Tokolosh ist noch da«, übersetzt meine jüngere Kollegin.

»Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen«, entgegnet die andere. »Wir packen sie jetzt auf die Trage und dann los.«

Wenn wir sie nicht mitnehmen, ist ihr Schicksal als vom Bösen Befallene besiegelt. Das wissen wir alle drei.

»Wann hat sie das letzte Mal gegessen?«, richte ich mich auf Englisch an die Gruppe. Keine Antwort. Meine Kollegin wiederholt die Frage auf Afrikaans zwei weitere Male, bis endlich die Information kommt, auf die ich ein wenig gehofft habe.

»Vroeg vandag«, höre ich aus einer Ecke. Früh am Tag, so viel Afrikaans verstehe ich dann doch noch. Ich stelle mich aufrecht hin, gehe einen Schritt in die Mitte des Raumes und sage mit harscher Stimme: »Hier ist kein böser Kobold und auch kein Teufel im Spiel. Diese Frau hatte einen Krampfanfall, weil sie unterzuckert ist und wahrscheinlich auch zu wenig getrunken hat.«

Die Sanitäterinnen stellen sich mit der Trage, auf der die bewusstlose Frau mittlerweile liegt, zu mir und wiederholen meine Worte, um sicherzugehen, dass auch jeder verstanden hat. Wir drehen uns um, ich öffne die Tür und fixiere vor allem die Alte mit strengem Blick, bis meine Kolleginnen mit der Trage draußen sind. Wie ein Bankräuber, der sicherstellt, dass sich keiner rührt, bis die Komplizen mit der Beute weit genug entfernt sind, halte ich die Gruppe in Schach. Dann mache ich einen großen Satz rückwärts ins Freie, wo ich mit einem schlurfenden Geräusch knöcheltief in einer Pfütze lande, und werfe die Tür zu. Im Laufschritt hole ich die wenigen Meter zu meinen Komplizinnen auf, öffne den Krankenwagen und lade mit der jüngeren Sanitäterin die Patientin ein, während die andere im Fahrerhäuschen des Krankenwagens verschwindet und den Motor anwirft.

Als Erstes versorge ich die Frau mit ein wenig Sauerstoff über die Maske und decke sie zu. Meine Gedanken sind während der routinierten Handgriffe bei dem Tokolosh. Wie er wohl aussieht, dieser kleine Teufel, der nachts durch die Schlafräume und Wohnräume der Menschen schleicht und all jene befällt, die unvorsichtig sind und nicht hoch genug über dem Boden schlafen? Es ist schwer, ihn zu Gesicht zu bekommen, weil er so winzig ist und jede Menge Tricks aus dem Ärmel schüttelt, um sich zu verbergen. Nur denen, die etwa einen Meter über dem Boden schlafen, kann er wegen seiner Größe nichts anhaben. Aber kann ein so kleiner Kerl wirklich so viel Macht besitzen?

Jeder, der schon einmal eine touristische Werbung für Südafrika gesehen hat, kennt die sogenannten Rondavels, kleine rundliche Häuser mit spitz zulaufendem Strohdach und meist nur einer Tür, die so typisch für Südafrika sind. Um sich in kalten Winternächten zu wärmen, machen die Bewohner auf dem Fußboden ihres Rondavels Feuer und legen sich drum herum. Leider nimmt manchen die Wärme, nach der sie sich sehnen, die Luft zum Atmen. Immer wieder kommt es zu Kohlenmonoxidvergiftungen und einer wacht nicht mehr auf. Diejenigen, die etwas erhöht, zum Beispiel in einem Bett, schlafen, überleben mit etwas Glück. Lange nahm man als Ursache für den plötzlichen Tod an, dass Kohlenmonoxid schwerer als Luft ist und deshalb zu Boden sinkt. Mittlerweile weiß man, dass sich das tödliche Gas gleichmäßig im Raum verteilt. Da sich die erhöhten Schlafstellen aber oft unter einem Fenster befinden, kann es auch einfach der kleine Luftzug sein, der das Leben des dort Liegenden rettet.

Weil das viele nicht wissen, wird die Schuld dem Tokolosh zugeschoben, der sein Unwesen auf viele Arten treibt. Wünscht ein Mensch einem anderen etwas Böses, kann er zum Beispiel bei einem »bösen Doktor« einen Tokolosh beschwören lassen. Das Ganze hat aber seinen Preis. Der Auftraggeber muss als Gegenwert die Seele eines geliebten Menschen versprechen, den er nicht auswählen darf. Wann und an wem der Tokolosh sein Unheil verrichtet, entscheidet er allein, und das kann Tage, Wochen oder sogar Jahre dauern.

Die Vorstellung, dass ein Mensch diesem Teufel die Seele eines ihm geliebten Menschen verspricht, ohne dass der Betroffene darauf Einfluss nehmen kann, ist gruselig und zugleich berührt sie mich tief in meinem Inneren. Irgendwie spüre ich in meiner Seele so eine Kerbe, die vielleicht ein Tokolosh geschlagen hat. Der plötzliche Verlust meines Vaters hat in dem kleinen Jungen, der ich damals war, ein Gefühl der Hilflosigkeit hinterlassen, das sich bei den Menschen hier in Südafrika vielleicht in Aberglauben wandelt. Zurück bleibt die Angst, machtlos gegen den Faustschlag des Universums zu sein.

Aber so leicht mache ich es dem Universum nicht. Vielleicht studiere ich ja deshalb Medizin, weil ich mit geballten Fäusten dagegenhalten will. Mit einem Urknall einfach mal die Dominosteine anstoßen und sie willkürlich umfallen lassen, damit macht es sich das Universum etwas zu leicht. Nicht mit mir! In mir hast du, liebes Universum, keinen leichten Gegner gefunden.

Der Krankenwagen holpert über die matschigen Straßen und die Frau ist immer noch nicht bei Bewusstsein. Ich nehme ihre Hand und drücke sie sanft, mehr kann ich, bis wir im Krankenhaus sind, nicht tun, um ihr Beistand zu leisten.

Das, was gerade in der Hütte im Township passiert ist, lässt mich einfach nicht los. Vielleicht versteckt sich dieser Tokolosh ja irgendwo hier im Wagen, um mich daran zu erinnern, dass man den Lauf des Universums nicht durcheinanderbringen darf. Denn in der Hütte – zwischen der Alten und der bewusstlosen Frau stehend – hatte ich das Gefühl, als könnte ich verhindern, dass die Dominosteine fallen. Vielleicht habe ich mir zu viel rausgenommen?

»Irgendwann kommst du mal mit einem blauen Auge nach Hause, Johnny«, prophezeite mir meine Familie als Jugendlicher öfter, wenn ich meine Klappe mal wieder zu weit aufgerissen hatte. Habe ich dem Lauf des Universums gerade dazwischengefunkt? Und steht mir das als angehender Arzt überhaupt zu? Ja, bestätige ich mir in Gedanken. Das Universum mag im Aberglauben einen starken Verbündeten haben. Aber in Wirklichkeit wird es eine erklärbare Ursache für den Krampfanfall geben!

Das Licht, das auf einmal durch die Scheiben des Krankenwagens fällt, und das Ruckeln, als wir über die Bodenwellen an der Sicherheitskontrolle des Krankenhauses fahren, holt mich wieder in die Gegenwart zurück. Nachdem wir geparkt und die Patientin an das Team der Notaufnahme übergeben haben, hole ich mir einen heißen Kaffee aus dem Automaten in einem kleinen Aufenthaltsraum und lasse mich auf ein altes, durchgesessenes Sofa fallen. Die Anspannung des Abends legt sich langsam. Nicht zuletzt, weil ich überzeugt bin, dass die Ärzte das Schicksal dieser Frau werden wenden können.

Wenn die Faust des Universums zuschlägt

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