Читать книгу Wenn die Faust des Universums zuschlägt - Dr. med. Johannes Wimmer - Страница 9
Ohne Handbremse
13. August 2019, abends
ОглавлениеAuf dem Weg zurück zum Flughafen rauscht die anbrechende Pariser Nacht vor dem Fenster der Metro an mir vorbei. Um mich herum erneut all die Pendler, die entweder wieder oder immer noch müde Augen haben. Während viele von ihnen einen Tag der Routine hinter sich gebracht haben, hocke ich auf dem harten Sitzplatz der U-Bahn, erfüllt von schönen Erinnerungen, neuen Eindrücken und der Vorfreude, dass ich Clara bald den Ring überreichen und sie fragen darf, ob sie meine Frau werden will.
In der Abfertigungshalle begegne ich zufällig dem Vater eines Schulfreundes. Als Junge habe ich immer zu diesem klugen und erfolgreichen Mann aufgeblickt. Wenn ich ihm damals von meinen Ängsten und Sorgen erzählte, sagte er oft ermutigend: »Ach, du bist doch noch so jung.« Auch später als Erwachsener hörte ich immer wieder von Menschen, ich sei doch noch so jung für das, was ich erreicht habe. Aber was soll das eigentlich heißen?
Ein Dialog aus einer Episode der Serie »The Young Pope«, der junge Papst, kommt mir in den Sinn. Jude Law spielt darin den ungewöhnlichen und sehr jungen Papst Pius XIII. Im Zwiegespräch sagt ein alter Kardinal zu ihm: »Ihr überrascht mich, Heiliger Vater. Ihr seid so jung und habt dennoch so alte Ideen.«
»Sie täuschen sich«, antwortet der junge Papst. »Ich bin ein Waise und wir Waisen sind niemals jung.«
In diesen Worten fand ich mich wieder. Denn meine Kindheit war an jenem Morgen im März 1988, als mein Vater unter der Dusche für einen Moment bewusstlos wurde und umfiel, mit dem Kopf an einer Kante aufschlug und auf dem Badezimmerboden in den Armen seiner Frau verblutete, von einem Moment auf den anderen vorbei. Mitten im Spiel wurde der Stecker gezogen.
Unter der Last der Verantwortung, die ich nach dem Tod meines Vaters für meine Familie tragen wollte, fühlte sich nichts mehr leicht und unbeschwert an, sondern eher so, als würde ich mit angezogener Handbremse durchs Leben fahren. Als Jugendlicher ging ich nur einmal pro Woche aus und blieb an den Abenden, an denen meine Geschwister unterwegs waren, zu Hause, damit meine Mutter nicht allzu oft allein zurückblieb.
Das Flugzeug, das mich nach Hamburg zurückbringt, kommt mir vor wie ein Raumschiff, das mich von einer alten in eine neue Welt befördert. Noch einmal spule ich die Zeit mit Clara zurück. Mit ihr habe ich es geschafft, diese Handbremse endlich zu lösen und meine kindliche Leichtigkeit wiederzuentdecken. Und dieser Moment im Flieger nach einem Tag allein in Paris ist wie eine Startrampe für alles, was noch vor uns liegt.
Bei diesem Gedanken regt sich für einen Sekundenhauch ein winziger Widerstand. Das Glück kann ja auch kaputtgehen. Und wenn man sich voll und ganz auf einen anderen Menschen einlässt, ist die Fallhöhe eben auch größer.
»Noch 30 Minuten bis zur Landung«, sagt der Kapitän durch. Ich schiebe den dunklen Gedanken beiseite, atme tief aus und fasse an mein Sakko, wo sich in der Innentasche der Verlobungsring befindet. Zufrieden lehne ich mich im Sessel zurück und schließe die Augen.