Читать книгу Wenn die Faust des Universums zuschlägt - Dr. med. Johannes Wimmer - Страница 8
Ein Morgen im März
1988
ОглавлениеNeun Wochen vor meinem fünften Geburtstag. Die Butter leuchtet durch die Marmelade auf meinem goldbraunen Brötchen, das mir meine Mutter gerade geschmiert hat. Ich kann das Gemisch aus dem Brot, der süßen Kirschmarmelade und der cremigen Butter schon auf der Zunge schmecken, als es einen Rumms macht und meine Mutter blitzartig vom Tisch aufspringt. Ohne uns anzusehen, rennt sie aus der Küche. Ich höre nur noch, wie sie die Treppe nach oben stürmt. Meine Geschwister und ich schauen uns verdutzt an. Noch bevor einer von uns fragen kann »Was stimmt denn nicht?«, hören wir unsere Mutter den Namen unseres Vaters schreien: »Wolfgang! Wolfgang!«
Wie versteinert bleiben wir am Tisch sitzen. Nach einer Weile stehe ich auf, gehe vorsichtig ein paar Schritte aus der Küche in den Flur. Dann setze ich leise einen Fuß vor den anderen und schleiche Stufe für Stufe nach oben in den ersten Stock. Ich höre meine Mutter, kann aber nicht verstehen, was sie sagt. Ich weiß auch nicht, woher ihre Stimme kommt, sie wirkt irgendwie so weit weg. So hat sie auch noch nie geklungen. Es muss etwas Schreckliches passiert sein. Mein Herz pocht bis zum Hals. Mit jeder Stufe nähere ich mich ihrer Stimme. Noch ein paar Schritte. Aus der Stimme ist ein Schluchzen geworden. Ich knote meinen Kinderbademantel, den ich über dem Schlafanzug trage, fest zu, als wäre er eine Ritterrüstung, die mich vor etwas Furchtbarem beschützen muss. Trotzdem möchte ich zu meiner Mutter und zu meinem Vater. Wieso höre ich Papa eigentlich nicht? Mama scheint im Elternbadezimmer zu sein. Gleich bin ich da, noch ein Treppenabsatz. Es fühlt sich an, als würden meine Füße im Fußboden versinken. Nur noch ein letzter Schritt. Wie ein Taucher, der ein paar Minuten unter Wasser bleiben will, hole ich tief Luft, bevor ich um die Ecke ins Badezimmer luge.
Meine Mutter kniet auf dem Boden und beugt sich über meinen Vater, der bäuchlings auf den Fliesen liegt. Er hat nichts an, liegt einfach da und bewegt sich nicht. Kein bisschen. Mama hat ihm ein Handtuch unter den Kopf gelegt, den sie mit beiden Händen festhält. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, es ist von mir weggedreht. Meine Mutter bemerkt mich nicht. Ich gebe keinen Laut von mir. Auf einmal sehe ich das Blut, eine unglaubliche Menge Blut. Es sieht aus, als würde Papa in einem Meer aus Blut liegen. Ich drehe mich um, stürze zur Balkontür und drücke mein Gesicht gegen die Scheibe, die Hände am Kopf, so als würde ich rausschauen wollen. Vor dem weißen Märzhimmel zeichnen sich die kahlen Äste der großen uralten Buche ab, die im Garten unserer Nachbarn steht.
»Das ist nicht passiert. Das ist nicht passiert«, flehe ich immer und immer wieder durch die Scheibe. Ich möchte irgendwas für meine Eltern tun. Irgendwas. Aber ich spüre, dass ich nichts tun kann. Nichts. Eine gewaltige unsichtbare Hand hält mich umschlossen und drückt immer fester zu. Ohne Unterlass, ohne Erbarmen. Jedes Mal, wenn ich ausatme, wird der Raum, den ich habe, um wieder einzuatmen, enger.
Meine Mutter hat mich immer noch nicht bemerkt. Wenn sie mich jetzt sieht, macht das alles bestimmt nur noch schlimmer. Also schnell weg. Genauso lautlos, wie ich gekommen bin, gehe ich die Treppe wieder runter. Mit völlig trockenem Mund schlucke ich die bittere Erkenntnis, dass ich völlig hilflos bin.